Donnerstag. Ein gewöhnlicher Wochentag, für einige Männertag. Viele sind an diesem Tag mit dem Bollerwagen umhergezogen und haben getrunken. Ich trinke gerade auch. Auf Andrew Fletcher. Held meiner Jugend, meiner Vergangenheit und definitiv meiner Gegenwart. An diesem 26. Mai 2022 posteten die Helden meiner Musikwelt, Depeche Mode, dass deren Gründungsmitglied verstorben ist.
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Was brach los? Erst einmal nachlesen. Google hatte keine Informationen. Viel zu kurz nach dem Post fing ich an, zu recherchieren, ob das jetzt wirklich die Wahrheit sein sollte. Aber warum sollte etwas nicht wahr sein, was die Band auf ihre offiziellen Social-Media-Accounts stellt? Dann bittere Gewissheit, kurzes Schlucken, der Griff ins Schnapsregal und ein Glas auf „Fletchie“ trinken. Weiter atmen. Mit der Redaktion kommunizieren und während ich One Night in Paris, dem Konzertmitschnitt von Paris 2001 anstellte, an die nachfolgenden (und schon vorangegangenen Zeilen) setzen.
Andy Fletcher wurde am 8. Juli 1961 in Nottingham geboren. Also weit vor meiner Zeit. Er wuchs mit seinen drei Geschwistern auf und gründete in seiner Jugend die Depeche-Mode-Vorgängerband „No Romance in China“ gemeinsam mit Vince Clarke. In einem Ort 50 Kilometer östlich von London sollte sich bald die Band formen, die später unter dem Namen Depeche Mode zu Weltruhm kam. Fletch war aber dabei nicht die treibende Kraft, sondern schon in den Anfängen der beruhigende Anker im Bandgefüge.
Martin Gore bezeichnete ihn immer als seinen besten Freund, mit dem er in Ruhe ein paar Bierchen zischen konnte. Im kreativen Prozess war Fletch eher der Mann im Hintergrund, der der alle erdet. Kam es während der Aufnahmen zum sagenumwobenen Songs of Faith and Devotion zu Streitigkeiten sorgte er für Frieden. Oder einem friedensähnlichen Zustand, denn eingefleischte Fans haben sicher in den unzähligen Biografien gelesen, wie kriegsähnlich der Aufnahmeverlauf des am 22. März 1993 erschienenen Meisterwerks verlief. Fletch stand nie im Vordergrund, er vertiefte sich hinter seinem Synthesizer und ließ Womanizer Dave Gahan und seinem bühnenschüchternen Songwriter Martin Gore den Vortritt im Scheinwerferlicht. In Interviews hielt er sich zurück, aber was er sagte, war immer auf den Punkt.
Was mich zu meiner persönlichen Geschichte mit Fletch und Depeche Mode bringt. Mein erstes Depeche Mode Konzert habe ich 2006 besucht und war fasziniert von der Stimmung. Stundenlang habe ich gemeinsam mit anderen Fans vor dem Leipziger Zentralstadion hausiert, in der Sommerhitze geschwitzt und dabei eine meiner längsten Freundinnen kennengelernt. Wo schloss man Anfang der 2000er seine Fanfreundschaften? Natürlich im Exciter-Forum und so bedienten wir nach dem Konzert mit einigen anderen DM-Verrückten verschiedene Threads, die sich unter anderem auch um Fletch drehten. In Leipzig wünschte Martin Gore am Ende „ Good Night Mr. Fletcher“, was uns damals ziemlich zu Tränen rührte und ein Lächeln zum Konzertende über die Gesichter huschen ließ.
Unheimlich viele Depeche Mode Partys später auf denen wir auch Fletchs berühmten Ein-Finger-Move auf der Tanzfläche in Perfektion vorführten war klar, dass diese Freundschaften auf ewig halten würden. Es kam im Jahr 2009 zur „Tour of the Universe“ und damals wurden natürlich auch Konzertkarten besorgt. Ich erinnere mich an Dave’s Reaktion auf unser Plakat mit der Aufschrift „Smile if you think Mart’s gor(e)geous“ in Berlin, die lautete „I do think he is. He’s beautiful“. Beautiful war aber vor allem Fletch am Keyboard, wie er grinsend hüpfte, seinen Finger nach oben hob und das zu seinem Signature Move wurde. Unzählige Threads und Kommentare füllte diese eine Bewegung. Lästermäuler behaupteten schon damals, man könne ihn durch einen Pappaufsteller ersetzen. Ich frage mich wie sich diese Menschen jetzt fühlen. Ich fühle, dass man Fletch in diesem Bandgefüge nicht ersetzen kann. Damals in Berlin 2009 stand ich auch mit meiner Freundin vorm Bandhotel und fieberte deren Abreise aus dem Hotel entgegen. Dave huschte vorbei, Martin gab wenige Autogramme und Fletch kam in Seelenruhe heraus, zückte den Stift, lächelte und verteilte so ausgiebig Autogramme wie man es sich nur vorstellen kann. Eine Seele von Mensch und die Person in der Band, die definitiv die meiste Ruhe ausstrahlte.
Was muss man über Andrew Fletcher noch wissen? Er hat 2002 sein eigenes Label Toast Hawaii gegründet und nach seiner Lieblingsmahlzeit benannt. Dort nahm er Künstler wie Client unter Vertrag, die er so sehr pushte, dass sie auch unter den Depeche-Fans viele Fans fanden.
Im Hintergrund singt gerade Martin Gore „And oh what a feeling inside of me, it might last for an hour“. Die DVD zur Exciter-Tour läuft noch immer durch. Und ich glaube nicht, dass sich mein Gefühl der Trauer in einer Stunde verflüchtigen wird. Depeche Mode, und damit auch Andrew Fletcher, haben meine Jugend geprägt, ich bekomme immer noch ein Lächeln auf meine vollen Lippen, wenn ich an Fletch hinter dem Keyboard denke. Und mit dem Gedanken möchte ich schließen. Bitte tanz auf der anderen Seite deinen Ein-Finger-Keyboardtanz, Mr. Fletcher!
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