The truth is no longer concerned with the facts
Kunst ist politisch. Kunst ist Haltung, muss Haltung sein. Was nicht bedeutet, dass Kunst die eine oder andere Position beziehen muss oder das Lied eines Positionsinhabers singen sollte. Dann ist sie korrumpiert. Aber sie muss eine Haltung haben. Denn viel zu oft korrumpiert sie sich für die Haltungslosigkeit, opportuniert für den Jedermann, ist ein hübsch bestücktes Warenregal, wo jeder für sich und sein Weltbild etwas Passendes findet. Ein gutes Beispiel ist die NDH-Schlagerkombo Rammstein, denen mit der Single Deutschland im letzten Jahr eine solches Wunderwerk der Gesinnungs-Beliebigkeit gelang. Es gibt aber auch andere, gegenteilige Beispiele wie das (noch) aktuelle Album The Urgency Of Now der Post Goth Institution Whispers In The Shadow, die von der Dringlichkeit des Zeitgeschehens in Österreich und aus eigener Betroffenheit ein knallhart politisches Album schrieben. Oder die noch frische Band Khôrada, die auf ihrer ganz eigene Art Zorn und Wut über jüngere Entwicklungen in den USA in Salt einfließen ließen. Nicht weiter müssen hier Künstler*innen erwähnt werden, die immer schon politisch aktiviert waren und ihren schöpferischen Auftrag auch als einen der politischen Haltung verstanden haben. Nie haben wir das mehr gebraucht als jetzt. Und nie, so mein Eindruck, erscheinen Künstler*innen aktivierter und sensibilisierter als gegenwärtig.
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The truth has over one hundred million views
Und so sind auch I Like Trains (bzw. iLiKETRAiNS) wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Was Studioalben angeht, hat man von den Briten aus Leeds seit acht Jahren nichts mehr Neues gehört. The Shallows kam 2012 heraus. Ihren letzten musikalischen Beitrag lieferte das Quintett in Form eines Soundtracks für einen Dokumentarfilm (A Divorce Before Marriage, 2016) , der sich mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigte. Hätte ich mir nicht ein paar musikalische Eindrücke von I Like Trains vorab eingeholt, man hätte mir die Briten auf Kompromat auch als völlig andere Band verkaufen können. Die konnte man bisher am ehesten im britischen Indie-Rock und melancholisch dunklen Alternative Rock verorten, den man hier und da mit durchscheinenden Aquarell-Shoegaze-Träumereien verziert hat. Bei dem, was man auf der aktuellen Scheibe von den Männern aus Leeds zu hören bekommt, erinnert nur wenig an verinnerlichtes, behutsames Gezärtel mit wohl dosierten, gut platzierten, emotionalen Ausbrüchen. (Tatsächlich ist da nur ein Song – New Geograhy -, der vollumfänglich an die “alten” I Like Trains erinnert.)
The truth is in a Moscow hotel room
Man verabschiedet sich am besten von den Nuller- und den Zehner-Jahren mit samt ihrer egozentrischen Gefühligkeit: Das hier sind die Neuen Zwanziger! Und die schallen bei I Like Trains ärgerlich wie Post-Punk, distanziert wie New Wave unter einem repetitiven Trip-Hoppigen Elektro-Bass-Beat, klassisch wie bei Faithless, aber zwingend dreckig wie bei Fliehende Stürme. Und spätestens da merkt man: Hier drin steckt der Punk – ein wütender, desillusionierter, doppelbödiger, britischer Punk 3.0, mit einer schneidenden Stimme, die in ihrer wütenden, zynischen Abgeklärtheit den Populisten in ihre hässlichen Fratzen tritt. Schon mit dem Eröffnungstrack A Steady Hand merkt man, Kompromat ist ein Album, das ein ganz und gar britisches Ausrufezeichen hinter die aktuelle Weltlage setzt. Und da hat man den Dreh- und Angelpunkt der Veröffentlichung – The Truth – noch lange nicht gehört.
The truth is not verified and not verifiable, but it is true if i say that it is
Handelten die ersten Alben Progress / Reform (2006) und Elegies To Lessons Learnt vor allem von historischen Personen, die mit ihrem Schicksal haderten, war eine der letzten Veröffentlichungen He Who Saw The Deep (2010) thematisch bereits von einem ganz gegenwärtigen Thema geprägt: dem Kampf gegen den Klimawandel. Hier dominierte noch die Intonation des Scheiterns, die schiere Unbewältigbarkeit der Herausforderung und jede Menge melancholischer Fatalismus. Mit Kompromat geht das Quintett die inhaltliche Ausrichtung auch in den Lyrics völlig neu an: Ohne Pardon, messerscharf, kämpferisch, blitzgescheit und damit in bester britischer Tradition. So fragen sich I Like Trains in Patience Is A Virtue, wie das denn sein kann, bei all dem Lärm und liefern einen wundervollen Track mit einer Melodie zum Niederknien, dessen perlende Gitarren immer wieder von verzerrten Rückkopplungen überlagert werden. Darüber erklärt uns David Martins abgeklärte Stimme fortlaufend, dass das schon eine ziemlich wichtige Frage sei und erklärt in dem Song mal eben so die Unsicherheiten einer ganzen Generation, in dem er ihre Werte, repräsentiert von einer Text-Phrase, musikalisch dekonstruiert. Und wenn man das nicht unbedingt so reininterpretieren möchte, macht Patience Is A Virtue als Song einfach Spaß. Und das ist nur ein Beispiel, wie die Band das Hauptthema des Albums – Informationen und Desinformationen – im Spiegel des mittlerweile in vielen Bereichen erstarkten Populismus wie einen roten Faden bearbeitet.
I am the truth
Die Quintessenz findet sich selbstverständlich in The Truth selbst wieder. Diese liegt, obwohl im Song an einer Stelle selbst angemerkt oder vielerorts immer noch behauptet, längst nicht mehr in der Mitte von verschiedenen Sichtweisen, sondern in der Hand derer, die Deutungshoheit ausüben. Das machen einem vor allem die kurzen, an Claims erinnernden, aneinander gereihten Phrasen klar. David Martin schießt sie hervor wie Salven und lässt dabei keinen bekannten Wahrheits-Slogan aus. Jeder für sich genommen, kann nur eine Lüge sein, eine Plattitüde, eine Schutzbehauptung, ein Symptom für eine narzisstische Gesellschaft, die von Narzissten regiert wird und für die Wahrheit nur eine Momentaufnahme der Willkür beim Erreichen des nächsten Ziels ist. Und selbst diese Analyse ist wahrscheinlich nur ein kleiner, ohnmächtiger Teil der Wahrheit. Die klaustrophobisch, wie wirkungsvoll von Michael Connolly im Videoclip in Szene gesetzten üblichen Verdächtigen verdichten diesen Eindruck zu einem globalen Alptraum, der wenig Hoffnung, dafür umso mehr Raum für noch mehr paranoide Theorien gibt.
Digital wird Kompromat am 21. August bei Atlantic Curve / The Orchard erscheinen. Das Erscheinungsdatum des physischen Materials (CD und Vinyl) wird sich aufgrund von Engpässen in der Produktion auf den 25. September verschieben.
Anspieltipps: A Steady Hand, Patience Is A Virtue, The Truth
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Tracklist I LIKE TRAINS – Kompromat:
01. A Steady Hand
02. Desire Is A Mess
03. Dig In
04. PRISM
05. Patience Is A Virtue
06. Man of Conviction
07. New Geography
08. The Truth
09. Eyes to the Left (ft. Anika)
Weblinks I LIKE TRAINS:
Official: https://iliketrains.co.uk/
Facebook: https://www.facebook.com/iLiKETRAiNSmusic
Instagram: https://www.instagram.com/iLiKETRAiNSmusic/
Bandcamp: https://iliketrains.bandcamp.com/album/kompromat