Der alte Termin im März ist Geschichte: Das E-Tropolis scheint seinen neuen Kalender-Stammplatz Ende September gefunden zu haben. Große Musikevents lassen sich in Deutschland dem großen, bösen C wegen halt nicht mehr zuverlässig für den Winter planen – so bildet das Festival eben nun den Abschluss der Sommersaison. Auch gut. Fernab fast jeglicher Corona-bezogener Sorgen feierten wieder mehrere Tausend Fans zu dunkel lackierter elektronischer Musik in der Industriekulisse der Oberhausener Turbinenhalle.
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Das elfte Festival der Reihe eröffneten vor schon recht gut gefüllter Mainstage Synthattack. „Was zum Wachwerden“ kündigte Moderator Jens Domgörgen um 14 Uhr an und traf damit voll ins Schwarze. Aggressiver Electro mit verzerrten Vocals von Martin Schindler und pumpende Beats brachten die ersten Tanzbeine in Bewegung. Für einen Aha-Moment auch bei denjenigen, denen das von zwei Tänzerinnen verstärkte Duo noch nicht bekannt war, war das Faithless-Cover Insomnia verantwortlich, doch auch eigene Stücke wie die neue Single Electro In My Body, Join Us oder Circle Of Pain sorgte für Stimmung. Ein unschöner Fakt sei an der Stelle aber noch angemerkt: Keyboarderin Nicole war bei 14 auftretenden Acts am gesamten Tag die einzige Frau auf die Bühne. Das muss und sollte gerade im Jahr 2022 so nicht sein – ein Blick auf die bereits für 2023 bestätigten Acts (später dazu mehr) lässt leider nicht auf Besserung hoffen.
Auf Synthattack sollten eigentlich die Ruhrpottler von Rroyce folgen. Daraus wurde nichts, weil Sänger Casi erkrankte. Gute Besserung an dieser Stelle! Vanguard aus Schweden sprangen recht kurzfristig ein und gaben gute Argumente, warum man den Besuch ihres Auftritts auch beim Amphi 2023 auf dem Zettel haben sollte. Das war nicht mehr und nicht weniger als melodiöser Synth-/Future-Pop mit starken Hooks und schöner Stimme. Da ist Sänger Patrik Hansson auch absolut zu verzeihen, dass er nicht die geborene Rampensau ist und in der Publikumsinteraktion etwas schüchtern, bisweilen gar unbeholfen wirkt. Wer VNV, Apop, A23, Solar Fake & Co. mag, sollte beim erst im Juli erschienenen Album Spectrum mal ein Ohr riskieren.
Gegen 15.40 Uhr wurde die zweite Stage eröffnet. Dark Electro belgischer Prägung lieferte Jan Dewulf mit seinem Projekt Mildreda. Er schrie sich die Seele (oder eher: das Seelenleid) raus, zu pulsierenden Beats flimmerten morbide Schwarz-Weiß-Fotos mit religiösen Motiven, abgetrennten Gliedmaßen und gruseligen Puppen über die Leinwand. Ganz klar keine Musik für die breite Masse – die Spezialisten vor der Bühne feierten eine leidenschaftliche Performance.
Weiter ging’s mit Musik aus BeNeLux, genauer gesagt mit Grendel. Das niederländische Projekt um den auf der Bühne sehr engagierten JD Tucker gehörte vor 10-15 Jahren zu den absoluten Lieblingen der Glühwürmchenfäng …äääh Cybergoths, hat sich zuletzt aber verstärkt in anderen elektronischen Subgenres ausgetobt. Besonders auffällig war das sehr EBM-lastige Dead Inside, das Szene-DJs guten Gewissens auch hinter Spetsnaz und Nitzer Ebb spielen könnten, ohne von stampfenden Flat-Top-Trägern mit Tomaten beworfen zu werden. Die zweite Hälfte des Auftritts stand, begüngstigt durch die Tatsache, dass zwei der normal drei zusätzlichen Live-Mitglieder fehlten, aber doch ganz im Zeichen älterer Songs wie Timewave Zero oder Hate This. So hatte dann auch die gefühlt von Jahr zu Jahr weiter schrumpfende Neon-Fraktion im Publikum ihren Spaß.
Diese musste sich im Anschluss schnell an Bühne 2 begeben. Denn da rummste mit Centhron eine weitere verlässliche Genregröße schon ordentlich herum. Dreckstück, Pornoqueen, Cunt, 666 – 21 Jahre nach Bandgründung hat wohl auch der Letzte mitbekommen, was von Elmar Schmidt und Kollegen zu erwarten ist. Wer auf Aggrotech und das folgenlose lautstarke Brüllen von Schimpfwörtern steht, hatte seinen Spaß.
Ebenfalls hart zur Sache ging es an der Hauptbühne. Claus Larsen schaute nur zwei Wochen nach seinem Klutae-Auftritt beim Festival „10 Jahre Kulttempel“ wieder in Oberhausen vorbei. Diesmal allerdings spielte er ein Konzert mit Songs von Leæther Strip. Hart, aber herzlich, so möchte man die Auftritte des Dänen für gewöhnlich charakterisieren. Da machte die Show beim E-Tropolis keine Ausnahme. Strap Me Down, Japanese Bodies und viele andere Body-Banger machten den Bereich vor der Stage zum Fight Club. Da wurde so manch Bodycheck ausgeteilt, da flog so manch gefüllter Bierbecher umher, da wurde geschwitzt wie in der Sauna. Ganz so, wie es sein sollte.
Lief bis hierhin eigentlich alles glatt, kam nun der schwere Dämpfer. The Joke Jay, die neue Band von And-One-Mitglied Joke Jay, Zoodrake-Mastermind Hilton Theissen und Produzenten-Allrounder Olaf Wollschläger veröffentlichte vergangenes Jahr ihr gelungenes Debüt-Doppelalbum Awaken zwischen Synth-Pop und Rock und wollte dieses endlich in NRW vorstellen. Zuvor wurde schon eine geplante Tour mit Eisfabrik abgesagt, da deren Sänger Charly ernsthaft erkrankte. Nur mit einem echten Konzert wurde es auch diesmal nichts. Für den Laien unerklärliche technische Probleme verzögerten den Beginn des eh nur für 40 Minuten Dauer geplanten Auftritts immer weiter.
Als es mit Awake endlich los ging, herrschte vor der Bühne bereits gähnende Leere. Viele Neugierige wollten wohl einfach nicht noch länger warten, sich einen guten Platz für Faderhead sichern oder verzogen sich in Richtung Food-Meile. Unfassbar schade, denn das, was es 20 Minuten lang zu hören gab, war vorzüglich. Vier eigene Songs mit großen Hooks (allen voran das And-One-Fans schon länger bekannte Most Of The Tears) plus ein gelungenes And-One-Cover (Sometimes) – mehr ging nicht. Als die Gruppe, live durch ein zusätzliches Mitglied am Schlagzeug verstärkt, zu I Know ansetzen wollten, kam vom Techniker am Bühnenrand die berühmt-berüchtigte „Kopf ab“-Geste. Frust pur bei den Bandmitgliedern und den wenigen noch anwesenden Fans. Schließlich war das musikalisch ein hochinteressanter Farbtupfer im Line-up. Besonders bitter: Es sollte nicht der einzige Auftritt auf der 2nd Stage bleiben, dem technische Probleme den Garaus machten. Doch dazu später mehr.
Nebenan war dafür kein Durchkommen mehr nach vorne. Faderhead, sicher begünstigt durch das Technik-Desaster an der zweiten Bühne, machte die große Turbinenhalle komplett voll. Treibende Stücke wie Generation Black, Know Your Darkness, Destroy, Improve, Rebuild und vor allem das in diesen Zeiten leider bestens passende No Gods, No Flags, No Bullshit ließen die Stimmung hochkochen. Passend zum Beginn des Herbstes hatte Wirbelwind Sami zudem seinen „Halloween-Song“ im Gepäck. Halloween Spooky Queens reihte sich perfekt in den Partyreigen an, den Abschluss bereitete wie gewohnt der Kult-Hit TZDV. Ein Auftritt der Kategorie „Abriss“.
Der eine obligatorische Noise-Act im Aufgebot des E-Tropolis durfte natürlich nicht fehlen. Diesmal waren es Winterkälte, die ihr Spezialistenpublikum mit wummernden Klängen inklusive engagierter Live-Percussion begeisterten. Auch wenn das sicher nicht jedermanns Sache ist/war: Schön, dass es auch in diesem Genre Musiker gibt, die sich live nicht nur hinter Laptops verstecken!
Für Melodieverliebte eignete sich hingegen die Show von Solar Fake. Gerade frisch von einer US-Tournee zurückgekommen, gab es ein herrliches Best-of-Set von Sven Friedrich, Jens Halbauer und André Feller. Letzterer griff bei einigen Songs gar zum Bass, wie beim Opener Sick Of You, bei der einem die arg dumpfe Akustik etwas Angst machte. Die Soundqualität wurde zum Glück flugs korrigiert. „Schön, wieder da zu sein“, begrüßte der Frontmann die Fans, die sich einmal mehr über eine gelungene Performance freuen durften. This Pretty Life, More Than This, Observer und das Editors-Cover Papillon ließen die Stimmung hochkochen.
Am Kochen waren in der kleinen Halle sichtbar auch Emanuel Aström, Peter Fristedt und Johan Lange. Denn leider ereilte Agent Side Grinder dasselbe Schicksal wie The Joke Jay. Mit Verspätung von 20 Minuten startete ein Auftritt von 20 Minuten, bei dem sämtliche Bandmitglieder „nichts hörten“, „nichts auf ihren Monitoren hatten“ und „nichts funktionierte“. Die Schweden versuchten alles, bekamen teilweise brutale Rückkopplungen auf die Ohren – einmal zuckte Keyboarder Fristedt so zusammen, als hätte man ihn gerade mit einem Taser bearbeitet – und spielten im Blindflug eine Handvoll Songs, darunter das bei Fans extrem beliebte Stripdown und auch ein neues Stück, das bald veröffentlicht werden soll. Mit einer Einladung, sich bei jedem persönlich am Merch-Desk zu entschuldigen, verabschiedete sich Sänger Aström. „This is what was supposed to be us“, so leitete er sichtlich frustriert das abschließende This Is Us ein. Sehr schade.
In Halle eins lief zum Glück alles glatt. Es stand eins der seltenen „Oldschool Electro“-Sets von Combichrist an. Statt Metal gab’s Aggrotech, statt fünfköpfiger Band nur Andy LaPlegua am Mikro und Elliott Berlin an den Maschinen. Und das knallte. Mit einer an Körperverletzung grenzenden Lautstärke hämmerten die alten Stücke der ersten vier Alben durch das Venue. Es war so laut, dass sich gar manch Promi-Gast, darunter Solar Fakes Sven Friedrich, im VIP die Show mit zugehaltenen Ohren anschaute. LaPlegua kombinierte einige alte Hits wie Electrohead, Fuck That Shit und Without Emotions mit absoluten Raritäten. Stücke wie God Bless oder die B-Seite Industrial Strength kennen wirklich nur die ganz beinharten Anhänger. Gegen Ende spielte das Duo sogar God Wrapped In Plastic vom sonst stets vergessenen Debütalbum The Joy Of Gunz, bevor der Kultsong This Shit Will Fuck You Up für letzte Begeisterungstürme sorgte. „Live music is fucking back! That’s what it’s all about“, schrie LaPlegua – dem kann niemand widersprechen.
Spätestens hier hätte es eigentlich eine Pause für Ohren und Beine geben müssen. Problem nur: Auf Bühne zwei legten schon Aesthetic Perfection los. Nach den quietschbunten Outfits beim Amphi Festival in Köln fragten sich viele, wie tief Daniel Graves und seine Mitstreiter wohl diesmal in die Klamottenkuriositätenkiste greifen. Diesmal traten die „Industrial Popper“ aber „nur“ in so schickem wie vergleichsweise dezenten Schwarz (+ Gold auf Graves’ Totenkopf-Hemd) auf. Bei zu Beginn eher mäßigem Sound erklangen beliebte Songs wie Gods & Gold, S E X und Antibody, in der zweiten Set-Hälfte besserte sich die Klangqualität aber spürbar. Vor dem abschließenden Love Like Lies enthüllte der stets agile Frontmann Graves noch die beiden maskierten Instrumentalisten, die ihn in den vergangenen Monaten in Europa begleiteten. Drummer Mike Schopf und Gitarrist Paul Winter werden die bald beginnende USA-Tournee aber nicht mitmachen und sagten den Fans unter lautstarkem Applaus fürs Erste Adieu.
Mittlerweils war es halb zwölf nachts. Endspurt, holt die Mistgabeln raus! Project Pitchfork beschlossen das E-Tropolis. In der Zwischenzeit wurde das minimalistische Combichrist-Set durch vergleichsweise opulente Lichttechnik und eine mehrteilige Leinwand ausgetauscht. Dazu die von PP-Auftritten gewohnten zwei Drumsets – und ab ging’s mit Pitch Black. Druckvoll spielten sich Peter Spilles und das Instrumental-Trio durch die Bandgeschichte, mit K.N.K.A, Rain, Timekiller oder Onyx waren natürlich die beliebtesten Songs allesamt im Set vertreten. Das 30 Jahre alte Souls setzte um kurz vor 1 den Schlusspunkt, mit einem letzten aufrichtigen „Danke“ aus dem Munde Spilles’ ging das Festival und damit auch der diesjährige Festivalsommer zu Ende. Wer nach elf Stunden Dauerbeschallung immer noch nicht genug hatte, bekam auf der Aftershow-Party den Rest – die meisten verließen nach der Show der Hamburger aber die Turbinenhalle.
Dies sicherlich voller Vorfreude aufs nächste Jahr. Am 30. September folgt das zwölfte E-Tropolis an Ort und Stelle. Bereits bestätigt wurden Suicide Commando, Nachtmahr, Kite, Frozen Plasma, Empathy Test, Kite und Accessory. Karten und alle weiteren Infos erhaltet Ihr auf www.etropolis-festival.de.