Eine der Kernkompetenzen von uns Menschen, die wohl am meisten hervor sticht, ist jene, uns gegenseitig um die Ecke zu bringen. Hier sind wir besonders einfallsreich und kreativ, offenbaren unsere finsteren, abgebrühten Seiten voller roher Brutalität, eiskalter Effizienz oder bürokratischer, banaler Bosheit. Aus den Abgründen, die sich zwischen dem menschlichen Geist und menschlichen Zusammenleben auftun, entspinnt sich auch in der Kunst ein Geflecht, bei dem sich tote Körper bis unter die Decke stapeln können. Denn aus der Eskalationsspirale von Eifersucht und Rache erwächst bisweilen eine Virtuosität, die es vermag aus dem Schrecken Dramen zu schmieden, deren Schönheit die Jahrhunderte, ja Jahrtausende überdauert. Mehr noch, es gelingt den Poeten und Philosophen immer wieder Lehrstücke und Parabeln zu zeichnen, die uns am Elend reifen und den tiefen Sinn im Chaos erkennen lassen.
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Eines dieser Stücke ist die Orestie vom griechischen Dichter Aischylos (525 v. Chr. bis 465 v. Chr), die 458 v. Chr uraufgeführt wurde und damals wohl so etwas wie ein analoger Blockbuster war. Die kalifornische Band Lotus Thief hat sich den antiken Stoff als Vorlage für ihr drittes Album genommen, dessen Inhalt die Orestie nicht nur vertont und interpretiert, sondern sich darüber hinaus mit den vielschichtigen Emotionen seiner Protagonisten auseinandersetzt. Diese finden hier Gehör, jedoch ist es zentrales Anliegen des Stücks ihr blindes Wüten zu überwinden. Denn nur so ist es möglich die Spirale der Rache und den mit ihr verwobenen Morden zu durchbrechen. Die Tragödie beschreibt den zivilisatorischen Prozess der Rechtsprechung, die uns vom individuellen Racheprinzip befreit hat. Am Ende werden dann auch die “Erinyen”, die Rachegöttinnen zu “Euminiden”, den Wohlgesinnten oder The Kindly Ones, wie sie auf dem Schlusstrack von Oresteia genannt werden.
And nevermore these walls within
Shall echo fierce sedition’s din
Unslaked with blood and crime;
The thirsty dust shall nevermore
Suck up the darkly streaming gore
Of civic broils, shed out in wrath
And vengeance, crying death for death! (The Kindly Ones)
– lässt Aischylos den Chor im dritten Teil der Orestie sprechen und Lotus Thief unterlegen diese Verse mit warmen, versöhnlich schwebenden Flächen und sphärischen, einfühlsamen, mehrstimmigen Vokals, die das Ende vom Hass der Lebenden und dem Gram der Verstorbenen wie eine heilende Botschaft einflüstern. Das dramatisch schwere, düstere Wetterleuchten am Ende von The Kindly Ones kündet vom weiten Weg, den man noch vor sich hat, bis es tatsächlich soweit ist.
Auf Oresteia setzen die Amerikaner nicht zum ersten Mal antike Stoffe musikalisch um. Tatsächlich stehen diese in jeder ihrer Veröffentlichung im Mittelpunkt. Bereits auf ihrer Debüt-Single Nympheae Carulea widmete man sich Homers Odyssee. Das Debüt-Album Rervum (2014) ging De Rerum Natura (55 v. Chr.; Lukrez zwischen 99 und 94 v Chr. bis 55 oder 53 v Chr.) auf den Grund. Und auf Gramarye (2016) widmete man sich Zaubertexten aus dem alten Ägypten, Griechenland bis zum Frühmittelalter. Immer sind Lotus Thief dabei sehr nah an den antiken Stoffen, transportieren sie mit Genre-verschmelzenden Elementen aus Post-Black Metal, Ambient, progressiven Synth-Rock, ohne sie zu überformen oder sie ihres Geistes zu berauben. Doch noch nie ist den Kaliforniern dies so souverän gelungen wie auf Oresteia.
Über die Distanz der gesamten griechischen Tragödie begleiten wir die die Geschicke der Protagonisten. Beim Eröffnungstrack Agamemnon stehen wir zusammen mit einem Wächter auf dem Dach des Königspalastes der Atriden. Dieser wartet seit zehn Jahren auf die Rückkehr seines Herren. Klare weibliche Stimmen und triefende, männliche Growls wechseln einander acht Minuten lang ab. Unheilvoll wird der Name des Königs zwischen die erzählenden Stimmen geraunt. Agamemnon ist das dunkle Omen, das wie ein fast vergessenes Übel aus der Ferne unerbittlich heranrollt. Es ist die gravitätisch prophetische Ouvertüre für alle weitern göttlich-menschlichen Tragödien, die sich anschließen werden. Das Schlagzeug produziert Donner, Keyboards einen Teppich aus Nebel und die Gitarrenriffs erzeugen innerhalb dieses dramatisch eingängigen, wie progressiven Metal-Songs die Dynamik eines unausweichlichen Schicksals.
Die einzelnen Akte dieses Dramas sind durch kürzere, sphärische, dröhnende Ambient-Überleitungsstücke (Banishment, Woe, Reverence) verbunden. Libation Bearer nimmt uns mit zum Grab des ermordeten Agamemnon, wo dessen Tochter Elektra ein Trankopfer vollzieht. Es ist der Platz, an dem sie ihren Bruder Orest nach langer Zeit wiedersieht. Beide schwören, den Mord am Vater durch den Mord an der Mutter zu rächen. Der Song spiegelt die widerstreitenden Gefühle in mehreren Tempowechseln und unterschiedlich akzentuierten Sequenzen musikalischer Härte: die ruhige Feierlichkeit des Rituals, den Zorn, blinde Wut, den Schwur, die Entschlossenheit, die wiederum feierlich in einem Ritual mündet. The Furies und Sister In Silence markieren ebenfalls wichtige Schlüsselszenen der Orestie bis die Tragödie im bereits oben beschriebenen Song The Kindly Ones ihre Auflösung findet. Geht gut los, das Jahr.
Oresteia erscheint am 10. Januar bei Prophecy Productions. Zeitgleich mit dem Neuling wurde auch das Debüt-Album Rervum noch einmal aufgelegt und ist ebenfalls ab dem 10.01. in verschiedenen Formaten erhältlich.
Tracklist LOTUS THIEF – Oresteia:
01. Agamemnon
02. Banishment
03. Libation Bearers
04. Woe
05. The Furies
06. Reverence
07. Sister In Silence
08. The Kindly Ones
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Weblinks LOTUS THIEF:
Official: https://www.lotusthief.com
Facebook: https://www.facebook.com/LotusThief
Bandcamp: https://lotusthief.bandcamp.com
Label: https://de.prophecy.de/kuenstler/lotus-thief