CHRISTIN NICHOLS: Rette sich, wer kann

CHRISTIN NICHOLS: Rette sich, wer kann
Christin Nichols - Rette sich wer kann
Geschätzte Lesezeit: 3 Minute(n)

9.5

9.5

Wer aktuell durch deutschsprachige Musikmagazine blättert/scrollt, dem ist wohl schon mal Christin Nichols begegnet. Die Sängerin, Musikerin und Schauspielerin hat nun ihr zweites Soloalbum Rette sich, wer kann vorgelegt und heimst dafür von Musikexpress bis plattentests.de und von Visions bis Rolling Stone überragende Kritiken ein – dies absolut zurecht. Die Platte ist, soviel sei von Beginn an verraten, ein großartiges Werk, stilistisch irgendwo zwischen Wave, Postpunk und Synthiepop einzuordnen, wenn man unbedingt Schubladen suchen muss.

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Wenngleich ausgerechnet der Opener Bodycount klanglich doch etwas rausfällt. Über einem Beat, auf den das Electroclash-Star-Duo Miss Kittin & The Hacker stolz sein würde, rechnet Nichols mit patriarchalen Strukturen (Victim Blaming, Objektifizierung, Till Lindemann und Weiterem) ab, dies in Lyrics, die ein wenig plattitüdenhaft wirken. Vielleicht ist das aber auch so gewollt, um direkt zu Beginn der Platte ein klares, unmissverständliches Statement zu setzen. Schließlich müssen solche ernste Themen ja auch nicht immer in Humor verpackt werden. Erinnerungen an den Song Today I Choose Violence vom Debütalbum I’m fine werden wach, wenngleich die Künstlerin auf Nachfrage betont: “Nein, das ist ein anderer Song. Ich wollte ‘TICV’ nicht weiterführen“.

Christin Nichols feat. Fatoni - Rette sich, wer kann!

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Es folgt der Titelsong, der sich vornehmlich um Ängste und Unsicherheiten dreht, in gänzlich anderem musikalischen Gewand. Ein brummeliger Bass (der im weiteren Verlauf der Platte noch häufiger erklingt), zappeliges Schlagzeug, ein melodiöses Lick, ein eingängiger Refrain – fertig ist der Hit für die Postpunk-Disco. Dabei erhält Nichols Unterstützung von Rapper Fatoni (“Fatoni kenne ich schon seit 2012 privat, es war eine Frage der Zeit, bis wir beide auch mal einen Song zusammen machen.“). Der ursympathische Münchner, der unter anderem bereits bei The Streets im Vorprogramm wirkte, liefert einen soliden Part mit brauchbaren Punchlines wie “Ich denk nicht, ich hab’ immer recht – seh ich aus wie Richard David Precht?” oder “Wenn dir jemand erzählt, er wüsste eh, wie es geht, verkauft er dir wahrscheinlich gerade ein Schneeballsystem“. Musikalisch zielen später Kein Anschluss (hier geht’s um die Abhängigkeit von Sozialen Medien) und Totgelacht in eine ähnliche Richtung.

Für ausreichend Abwechslung ist aber gesorgt. Direct Flight To Seattle und das nach einem Antidepressiva betitelte Citalopram sind mit ihren wunderschönen Refrains das, was dabei herauskäme, wenn die großartigen Slowdive anfangen würden, “richtige” Popsongs zu schreiben, anstatt sich in Effektgerät-Orgien zu suhlen. Für letzteres Stück hatte Nichols eine gesondere Motivation: “Ich freue mich, wenn man das Thema Mental Health entstigmatisiert und vielleicht auch eine Verbindung zu anderen Betroffenen aufbauen kann. We are all in this together.

DIRECT FLIGHT TO SEATTLE

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Damit aber immer noch nicht genug der Großtaten: Für die moderne Indie-Rock-Tanzfläche eignet sich In Ordnung, in dem lyrisch “Gar nichts in Ordnung“, musikalisch dafür erneut alles in Ordnung ist. Kein Wunder, wenn neben einer Künstlerin wie ihr dann auch noch ein Julian Knoth von der besten Rockband Deutschlands dabei ist.  Mit flirrenden 80er-Synthies, die einem die Neonfarben regelrecht vors Auge zaubern, begeistert hinten raus Rush, einer von übrigens nur noch zwei englischsprachigen Titeln auf der Platte. Eine etwas beschwingtere Singer-Songwriter-Perle namens Jung & schön folgt, und 5 Minuten bringt dann nochmal alle musikalischen Einflüsse der vorigen 40 Minuten zusammen und kulminiert wieder in einem absolutem Ohrwurm-Refrain.

Fazit: Es gibt keinen einzigen schlechten Song auf der Platte. Christin Nichols liefert hier einen klaren Anwärter auf den Titel “Album des Jahres”. Wer sich in irgendeiner Form für die großen Wave-Bands der 80er oder auch die zuletzt so populären “Neue Neue Deutsche Welle”-Acts wie Drangsal, Lyschko, Edwin Rosen oder Tränen interessiert, dem sei ganz dringend empfohlen, reinzuhören.

Wer das Ganze live hören will, muss sich aber noch etwas gedulden – es sei denn, ein Trip nach Berlin am 14. April ist drin, wo im Frannz Club die Album-Release-Show stattfindet. Oder man ist günstigerweise auch Kettcar-Fan, wo Nichols zwischen dem 20. und 27. April bei sieben Konzerten im Vorprogramm auftritt. Eine reguläre Tour folgt dann im Herbst (Termine siehe unten). Bei ihrem Sound müssten aber eigentlich auch die großen Festivals der Schwarzen Szene mal auf sie aufmerksam werden. Bisher hat sich da noch nichts ergeben, aber was nicht ist, kann ja noch werden. “Ich spiele total gerne live. Und Patchouli-Duft mag ich total“, antwortet Nichols vielsagend auf die Frage. Also Amphi, Mera, WGT, NCN & Co.: Bucht sie!

Termine CHRISTIN NICHOLS Tour 2024

14.04.2024 Berlin, Frannz Club
09.08.2024 Essen, Zeche Carl
30.10.2024 Hannover, Faust
01.11.2024 Köln, Blue Shell
02.11.2024 Stuttgart, Helene P
03.11.2024 München, Milla
21.11.2024 Hamburg, Molotow
22.11.2024 Leipzig, Conne Island
23.11.2024 Nürnberg, Stereo

Weblinks CHRISTIN NICHOLS

Instagram: www.instagram.com/christin.nichols
Facebook: www.facebook.com/Christin.Nichols.Official

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