Der Tag des Herrn brach an und die Glocken riefen uns zum Gebet. Unser Gott an diesem Morgen hieß allerdings einmal mehr Oswald Henke. In der wunderschönen, neugotischen Peterskirche wurden in diesem Jahr einige Lesungen angeboten. Nicht nur literarisch, auch aus thermoregulatorischen Gründen war der Aufenthalt in dem luftigen, weitläufigen Bau eine gute Idee. Allerdings gab es im Vorfeld einige Verwirrung bezüglich der Startzeiten, denn die im Pfingstboten abgedruckten Zeiten mussten hernach noch einmal überarbeitet werden. Im Online-Programm war aber der richtige, aktuelle Stand vermerkt und auch das Personal vor Ort fragte beim Betreten der Kirche noch einmal jeden, für welche Lesung er oder sie angereist sei. Bei Oswald Henke geht manch einer von einem introvertierten, verschrobenen Künstler aus, aber weit gefehlt. Der Bayer entpuppte sich als wahrer Entertainer. Das Stichwort „Lesung“ wurde der Veranstaltung nicht ganz gerecht, worauf Henke auch gleich zu Beginn hinwies. Als erstes bot er in Bezugnahme auf den Ort des Geschehens einen „Hostien-Bastel-Workshop“ an und schnitt mittels Zirkel aus schwarzem Esspapier dunkle Hostien aus. Er betonte, dass die Peterskirche evangelisch sei und die „Evangelikalen“ keine toten Gegenstände weihen würden, weshalb er noch schnell vorher „die Konkurrenz“ aufgesucht und sich Weihwasser beschafft habe. Die frisch hergestellten Hostien verschenkte er daraufhin an willige ZuhörerInnen, begleitet mit den traditionellen Worten „Der Leib Christi“. Auch danach ging es nicht weniger kurios weiter, aber gelesen wurde doch noch. Henke zitierte aus seinem angeblich veröffentlichten Erziehungsratgeber und legte allen Eltern in schneidendem und bisweilen bedrohlichem Tonfall nahe, die Kinder regelmäßig zu züchtigen. Natürlich hatte das Ganze einen zutiefst ironischen und schwarzhumorigen Hintergrund und man konnte nur froh sein, hier gewissermaßen „unter sich“ zu sein. Die meisten Gothic-Anhänger verstehen die subtilen Meta-Ebenen auf denen sich Henke austobt, recht gut. Es gab eine Menge Gelächter und Applaus, entsetzte Blicke suchte ich vergebens. Danach wurde es auch noch lyrisch, Henke las das Poem „Der Schwarze Schlaf“ und hernach noch eine seiner Kolumnen („Henke trocken“), die er mal für den Orkus geschrieben hatte. Zwischendurch verteilte er (n)ostalgische Leckereien in Form von Leckmuscheln und Traubenzucker-Armbändern. Eine überaus kurzweilige und herrlich schräge „Lesung“ war das.
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Ich wollte die kühle Kirche mit dem vortrefflichen Programm noch nicht verlassen. Nach Oswald Henke schickte sich Markus Heitz, einer meiner Lieblingsautoren an, eine klassische Lesung zu halten. Der Meister der Phantastik sorgte aber auch direkt zu Beginn für einige Lacher, erzählte er doch, er habe wie seine ZuhörerInnen brav draußen vor der Kirche gewartet, wann denn der Einlass öffnen würde, während das Personal nervös wurde und dazu aufgefordert war, erst dann neue Leute in die Kirche zu lassen, wenn der Referent eingetroffen sei. Heitz las mehrere Kurzgeschichten, die er einst im Rahmen des kurzlebigen „Vampir-Journals“ verfasst hatte. Unter anderem hörten wir von den verschiedenen Eigenarten der Vampir-Subspezies, unter anderem von dem Zählzwang, der manche Vertreter dieser Zunft zwingt, alles zu zählen, was man zu ihnen hinüberwirft. Heitz bewarb zudem noch seinen im August erscheinenden neuen Vampirroman „Die schwarze Königin“. Was besonders schon bei Henkes aggressiven Tiraden, aber auch bei Heitz‘ Vortrag aufgefallen und natürlich der Architektur des Veranstaltungsortes geschuldet war: Das Kirchenschiff erzeugte einen gewaltigen Hall. Das kam allerdings dem nun folgenden Musik-Act sehr zu Gute: Der „HardChor“ Stimmgewalt aus Berlin gab hier ein Konzert und konnte sein ohnehin beträchtliches Stimmvolumen noch um die Hall-Komponente anreichern. Wir saßen oben auf der Empore und konnten uns an der wie immer sehr abwechslungsreichen Darbietung des Chores erfreuen.
Meditation im Zwielicht der Agra
Der Sonntagabend gehörte ganz der melancholischen Musik. Den Anfang machte die Formation Diary of Dreams in der agra-Halle. Es ist schon eine Freude, den Aufstieg von Adrian Hates‘ Truppe mitzuverfolgen. Gerade erst haben sie die erfolgreichste Tour ihrer Bandgeschichte absolviert und größere Hallen denn je gefüllt. Ich selbst konnte das beim Konzert in Wiesbaden bezeugen. Obwohl es sich bei der Musik um recht sperrige, verkopfte Konstrukte mit einer großen Melancholie-Komponente handelt, finden immer mehr Szeneanhänger den Weg in den dunklen Garten des Adrian Hates. Vielleicht ist es auch dem Zeitgeist geschuldet, dass eine Rückbesinnung auf die innere Welt vielen mittlerweile angeraten scheint, schließlich fällt die äußere Welt immer mehr in Trümmer. Diary of Dreams begannen mit dem neuen Song Mein Werk aus Zement und gingen dann gleich in den All-Time-Favourite Epicon über. Neue und alte Songs verschmelzen hier fugenlos, die Handschrift ist immer erkennbar. Der Füllstand der agra war genau richtig: Man konnte sich noch hinreichend bewegen und trotzdem war es angemessen voll. Die erwähnte Hinwendung zum Inneren spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Tanzstilen des Publikums wider. Während manche die klassischen, an Industrial angelehnten Bewegungen mit kreisenden Armen vollzogen, gab es andere, die sich vor Schmerzen zu krümmen schienen und wie von Hammerschlägen getroffen, auf und niederzuckten. Ich habe schon oft beschrieben, was diese Band in vielen Menschen auslöst, hier korrodieren und brechen auf ganz außergewöhnliche Art die Schutzwälle, die man um sein Innerstes hochgezogen hat. Nach dem ikonischen Menschfeind, den viele an diesem Abend auch als Shirt auf der Brust trugen und dem ebenfalls neuen Song Viva la Bestia verkündete Hates: „Wir reisen rückwärts“, bevor er den 14 Jahre alten Song King of Nowhere anstimmte. Sogar noch älter, „aber immer noch fruchtig“ wurde der Butterfly Dance angepriesen, der auch tatsächlich noch einmal für einen Bewegungs-Boost bei den vielen Nachtfaltern im Publikum sorgte. Sie taumelten dahin, umtost von den Soundteppichen der Klang-Pheromone, die Hates und Co. von der Bühne verströmten und ließen bedenkenlos ihre Energien heraus, ohne an morgen zu denken. Ein Hit jagte den nächsten und ein Wechselbad der Emotionen nach dem anderen wurde eingelassen, in sich aufgenommen und dann wieder abgestoßen, bis man sich dem Höhepunkt näherte. Auch bei Diary of Dreams kam irgendwann die Frage auf, ob man „den einen Signature-Song“ immer noch spielen sollte. Den man gleichsam totgespielt zu haben glaubte und ohne den gefühlt keine Live-Setlist mehr ausgekommen wäre. Man kann über den inhärenten Zwang dieser Überhöhung trefflich diskutieren und philosophieren. Aber die Band hat einen guten Kompromiss aus dem Hunger der Fans und ihrem eigenen Bedürfnis nach Veränderung gezogen und spielte Traumtänzer in einer alternativen, reduzierten Version, quasi als Semi-Akustik-Fassung. Hates bedankte sich danach für den „wunderschönen, kurzweiligen Abend“. WIR haben zu danken!
Doch besagter Abend war noch nicht zu Ende. Es gab noch ein besonderes Highlight mitzunehmen. Deine Lakaien hatten angekündigt, ihr nunmehr dreißig Jahre altes Album Dark Star mit einer besonderen Show zu ehren. Die Feierlichkeiten waren pandemiebedingt verschoben worden uns so feierte man den Meilenstein der Bandgeschichte erst jetzt. Deine Lakaien stehen seit über vierzig Jahren auf der Bühne und sind damit älter als das Wave Gotik Treffen selbst. Ihr minimalistisches und sehr auf die Stimme Alexander Veljanovs ausgerichtetes Live-Konzept versprach einen passenden Abschluss für diesen andächtig begangenen „Tag des Herrn“. Die Stimmung war teils feierlich still, teils euphorisch laut, als die Band nacheinander alle Highlights des zu feiernden Albums anstimmte. Da wie gesagt auf der Bühne selbst wenig geschah, lohnte es sich, den Blick durch das Publikum schweifen zu lassen. Während Diary of Dreams noch recht schmerzhaft den Finger in offene Wunden gelegt hatte, kann man sich in den Sound von Deine Lakaien gefahrlos versenken und mit der eigenen Seele meditieren. Da, wo etwas mehr Platz im Publikum war, konnte man ausgiebige Tanzeinlagen beobachten. Zwei Frauen und ein Mann (später ergänzt um einen weiteren) wirbelten anmutig umeinander, jagten und verfolgten sich spielerisch und wiegten sich mit unglaublicher Körperbeherrschung im Takt. Eine wunderschöne Hommage an Alexander Veljanov und Ernst Horn, die die Musik von der Bühne dazu lieferten. „Einen wunderschönen guten Abend hier im finsteren Leipzig!“, begrüßte der Sänger die Menge nach dem Song Lonely. „Wir sind nicht zum ersten Mal hier… (Untertreibung, die Formation spielte zum vierten Mal auf dem WGT, Anm. d. Red.). Heute Abend spielen wir nur Songs von Dark Star“. Im Grunde hätte Veljanov aber mit seiner unvergleichlichen Stimme genauso gut die AGBs von Amazon singen können, man wäre vor Ort dennoch entzückt gewesen. Down , Down, Down ging die Stimmung hier keineswegs, sondern man ließ sich unter dem Strahlen des dunklen Sterns verzaubern und ließ den Tag so friedlich und würdevoll sein Leben aushauchen.
Eine Bildergalerie mit den Bands Traitrs, Vision Video, Lebanon Hanover, Diary Of Dreams und Rottingchrist findet ihr hier:
Fotos: WAVE GOTIK TREFFEN (WGT) – Sonntag, 28.05.2023 (Sandro Griesbach)
Eine Bildergalerie mit den Bands Paradox Obscure und Die Selektion findet ihr hier:
Fotos: WAVE GOTIK TREFFEN (WGT) 2023 – Sonntag (28.05.2023) (Claudia Helmert)
Eine Bildergalerie mit den Bands Tension Control, Rein, Phal! und Deine Lakaien findet ihr hier:
Fotos: WAVE GOTIK TREFFEN (WGT) – Sonntag, 28.05.2023 (Alex Jung)
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