31. WAVE GOTIK TREFFEN (WGT 2024) – Leipzig, Freitag (17.05.2024)

31. Wave Gotik Treffen © Monkeypress
31. Wave Gotik Treffen © Monkeypress
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Die friedliche Übernahme beginnt… 

Als Gothic könnte man eigentlich den Jahreswechsel feiern und sich danach in einen ausgedehnten Frühjahrsschlaf versetzen – bis Pfingsten. Dieses merkwürdige Fest der Christen hat auch für Schwarzgewandete eine ganz besondere Bedeutung und das ist der Grund warum ich seit 12 Jahren alles absage, wozu ich über Pfingsten eingeladen werde. “Ihr wisst doch: ich bin in Leipzig!”. Warum ist das Wave Gotik Treffen so eine Konstante im Kalender? Das As, was alle anderen Karten schlägt? Ich weiß nicht, ob ich das genau begründen kann, aber ich versuche es einmal.

Lass Dir den Beitrag vorlesen:

Ich weiß, dass es jedes Jahr neu Kritik an den Veranstaltern gibt, an der Auswahl der Acts, der Locations, an der Attitüde, an Händlern usw. und dass es durchaus einige Leute gibt, die dem Treffen mittlerweile lieber fernbleiben und beklagen, dass früher wahlweise mehr oder weniger “Lametta” war. Aber diese Haltung gibt es zu allen Veranstaltungen, die schon lange bestehen und sich mittlerweile zwagngsläufig in einigen Punkten verändert haben. Ganz entscheidend ist einfach nach wie vor: das persönliche Gefühl!

Und meins ist auch nach 12 Jahren Teilnahme immer noch liebevoll für das WGT. Ich liebe das schwarzbunte Treiben bereits in den Zügen zum Hauptbahnhof, das Verschmelzen der Kulturen (in meinem Zubringerzug war z.B. alles voll von exotischen Niederländern) und vor allem das merkwürdige Gefühl, eine Stadt friedlich eingenommen zu haben, und einmal im Leben in der “gefühlten Überzahl” zu sein. Die Interaktion mit den wohwollenden Leipzigerinnen und Leipzigern gehört genauso dazu wie die bereichernden Kontakte untereinander. Wie sehen denn andere Festivals üblicherweise aus? Man wird in kostenpflichtigen Bussen auf eine verschlammte Wiese am Rande der Stadt gekarrt und darf seinen geduldeten Schamanismus da dann zwei Tage lang ausleben. Leipzig aber freut sich auf uns jedes Jahr neu, putzt sich heraus, empfängt uns und gibt uns genug Material, um sich ein schwarzes Nest auf Zeit zu bauen.

Traditionell geht es natürlich schon früher los. Für die WGT-Warm-up-Partys am Donnerstag wurde auch diesmal wieder einiges an Prominenz aufgefahren: Im Felsenkeller gab es beim “EBM Warm-up” bereits Auftritte, z.B. von Sturm Café. Ich kann die entspannte Donnerstagsanreise übrigens sehr empfehlen, auch wenn selbst das nicht vor einer langen Bändchenschlange an den Containern vor dem Hauptbahnhof bewahrt. Für die meisten Besucherinnen und Besucher startete das Festival nach einem gepflegten Frühstück am Freitag.

Anmerkung in eigener Sache: Wir bei Monkeypress verfolgen die Philosophie, dass unsere angereisten Redakteure und Fotografierende sich aus dem Riesen-Programm das heraussuchen können, was sie interessiert, unabhängig voneinander. Vor allem für Fotografierende ist es besser, “Blöcke” zu machen, statt nur für die ersten drei Songs immer “Weltreisen” zwischen den Locations zurücklegen zu müssen und – je nach Verkehrssituation  – mitunter noch völlig umsonst eine Location aufzusuchen. Daher haben wir unabhängig voneinander Eindrücke vom Festival, einerseits in Text- andererseits in Bildform, gesammelt. So können wir ein noch breiteres Spektrum anbieten und euch den maximalen Einblick gewähren.

Natürlich ist die größte Stäke des Wave Gotik Treffens auch zugleich die größte Herausforderung: Es gibt dermaßen viel Programm, dass harte Entscheidungen getroffen werden müssen. Eine intensive Vorplanung ist jedem zu empfehlen und dafür gibt es neben dem praktischen Monkeypress-Planer vor Ort auch das Programmbuch “Pfingstbote” zu erwerben, was ich jedes Jahr tue. Wer eine schön gebundene, hochwertige Erinnerung haben möchte, dem sei dieses Kleinod ans Herz gelegt.

Ich besuchte am Freitag als erstes das Theaterhaus Schille, wo unter anderem auch Feline & Strange auftraten. Das Tagesprogramm “Schwarze Schille” hatte eine “Eintritt-frei-Policy” und wurde vom “Hardchor” Stimmgewalt organisiert. Im Clara-Zetkin-Park fand derweil eine weitere Kulturkonstante des WGTs statt: Das viktorianische Picknick. Dorthin verschlägt es mittlerweile nicht mehr nur die aufwändig gekleideten Besucherinnen und Besucher, sondern hier wird dank der zahlreich erscheinenden Schaulustigen aus Leipzig auch stets eine eindrucksvolle Visitenkarte des Wave Gotik Treffens abgegeben. Für Fotografierende ist das Picknick natürlich auch ein beliebtes Motiv-Kaleidoskop, allein, ich habe es dieses Jahr nicht geschafft, dort aufzukreuzen.

Nach der rappelvollen Schille begab ich mich ins weit größere Haus Leipzig. Als die Location damals frisch dazukam, war sie noch bestuhlt gewesen. Ich erinnere mich leidlich, hier 2016 Lesungen von Sascha Blach und Christian von Aster besucht zu haben. Zudem galt diese Örtlichkeit schon immer als “Haus am Strome”, denn dank der vielen Steckdosen hier konnte man stets sein Handy aufladen. Doch schon seit ein paar Jahren wird im Haus Leipzig getanzt statt gelesen. Ich hatte mich dort am Freitag ausnahmsweise wie ein Fotograf häuslich eingerichtet, statt kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, denn es fand eines dieser ganz besonderen Schmankerl statt, für die das “Treffen” seit jeher bekannt ist. Abschiedsshows, Reunion-Shows und Specials: Das Wave Gotik Treffen ist der Nährboden für Geburten, Vergehen und Neuerstehung gleichermaßen.

Aufsehen erregt hatte die Meldung, dass Reaper zu Leipzig ihre Wiederauferstehung zu feiern gedachten, also war ich schon früh vor Ort. “Vasi Vallis” ist ein Qualitätslabel, das sich zum Glück keine Bürokraten aus der wenig erfolgreichen Baureihe “Julia Klöckner” ausgedacht haben, und das daher sehr viel vertrauenserweckender ist als Nutri-Score, Tierwohl-Label oder selbst der Blaue Engel. Er ist der schwarze Engel, der seine Flügel über uns ausbreitet und uns Geborgenheit schenkt, egal mit welchem seiner unzähligen Projekte. Gerade erst kam vielversprechendes neues “Schauergeschichten”-Material unter dem Namen Fractiles heraus (mit dem morphotischen Christoph Schauer zusammen) und nun sollte also das älteste der vallis’schen Kinder, wenngleich arthritisch und verwachsen, aus seinem Schlummer geweckt werden und auch uns den Rost aus den Gelenken pulvern.

“Haus Noisezig” – Hier regiert der Electro!

Doch zunächst durften wir uns an Basscalate erfreuen. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal ein richtiges Konzert des SynthAttack-Ablegers gesehen zu haben. Das noch relativ junge Side-Project spielte auch nur gut die Hälfte des Sets und dann wechselten die Plätze, und Martin sang für die andere Hälfte Klassiker von SynthAttack, während Julia ans Pult trat. Auch das “gemeinsame Lied” der beiden Bands Electro In My Body kam natürlich zur Aufführung. Man muss schon sagen, dass die etablierten SynthAttack-Songs beim Publikum etwas besser ankamen. Aber Basscalate ist wie gesagt ja noch jung und kann seine Fanbase sicherlich noch verbreitern.

Danach gab es ein buntes Feuerwerk von Extize. Die Heidelberger spuken nun auch schon seit über fünfzehn Jahren durch die Szene und waren ursprünglich der musikalische “Heimathafen” für alle Cybergoths. Doch wo versteckt sich diese Spezies eigentlich heutzutage? Man hat den Eindruck, dass sie langsam aber sicher auf der roten Liste für bedrohte Arten stehen müsste. Schon beim E-Tropolis-Festival hatte man vergeblich nach Neonfarben Ausschau gehalten. Doch auch die Zuschauenden, die wenig grell gekleidet waren, hatten sichtlich Spaß an der Soundexplosion von Extize. In der ersten Reihe sah man auch einige Kinder. Wenigstens deren Ohrschoner waren in bunten Farben gehalten, während auf der Bühne die Farbe Rot dominierte. Mit Gothy Cool wurde auch ein frankensteinähnlich zusammengepuzzelter, neuer Song präsentiert, der vom Grundgerüst her zwar auf Boney Ms Daddy Cool basierte, aber Schnipsel aller möglichen Electro-Szenehits enthielt. Sei es Combichrist, Faderhead oder Frozen Plasma, jeder kam mal dran und wurde auch noch im dazugehörigen Video parodiert. Nun ja, Tanzpotenzial gab es jedenfalls reichlich bei Extize.

Nachdem man sich mit frischen Getränken versorgt hatte, ging es auch gleich rasant weiter. Wer einen Ort betritt, auf dessen Bühne man die Wahnsinnigen von [X]-Rx fahrlässigerweise freigelassen hat, der kriegt zwangsläufig eine geballte Ladung Beat reingeschraubt. Jan und Pascal sind einfach “sent to destroy”, egal wo sie auftauchen. Konnte man sich vorher vielleicht noch irgendwie wegducken, musste man jetzt das ganze Set über durchtanzen. Die Balladendichte im Set der Kölner war sehr… überschaubar. Ein paar Ermüdungserscheinungen im Publikum musste man durchaus konstatieren, was wahrscheinlich dem schweißtreibenden, vorangegangenen Programm geschuldet war. Aber immer wieder trieben die beiden Teufelskerle die Menge an und feuerten eine Hit-Rakete nach der anderen ab.

Der Sound stellte die Menge allerdings anfangs nicht zufrieden, sodass immer wieder “Lauter!”-Forderungen aus dem Publikum zu hören waren. Zwischendurch schien es zwar mal kurz ernst zu werden, als man mit Hinblick auf “15 gemeinsame Jahre auf der Bühne” versuchte, irgendwie seriös eine Ankündigung zu machen, aber wem das Herz (so man denn eins hatte) in die Hose rutschte und eine Auflösung der Band befürchtete, konnte hernach aufatmen. Es war alles nur als Joke insziniert gewesen. Danach ging es genauso rasant weiter. Niemand vor Ort schien ein Herz zu besitzen, alle wollten “hard bass in your face” und alle forderten gegen Ende lautstark die Stage 2. Es fühlte sich schon fast nach Headliner-Atmosphäre an, aber nur fast…

Denn nun kam das, weshalb ich und viele andere schon den halben Tag in der ersten Reihe ausharrten. Eine Reunion-Show ist so ziemlich das am meisten Besondere, was man musiktechnisch bekommen kann. Vasi Vallis hatte als Reaper durchaus schon einige Shows in jüngster Vergangenheit gespielt. So zum Beispiel auf dem nahen Stella Nomine-Festival und letztes Jahr in der Leipziger TankBar (möge sie in Frieden ruhen, an Vasi lag es definitiv nicht). Doch die Nummer hier im Haus Leipzig war etwas ganz anderes, denn hier sollte eigentlich die Originalbesetzung komplett wieder auftreten. Leider machte das Schicksal der Band einen Strich durch die Rechnung. Wenige Monate vor dem WGT verstarb leider der Reaper-Gitarrist Gorden Popp überraschend, was nicht nur große Trauer bei Fans und Kollegen auslöste, sondern auch die Reunion-Show wieder infrage stellte.

Zum Glück für alle Beteiligten entschieden die verbliebenen Recken Vasi und Gregor, am Plan festzuhalten. Und nun war es also soweit: Verstärkt um Gaia an der Gitarre startete das fetteste Strobo-Gewitter des Festivals. Nun muss ich ja leider zugeben, dass ich zu den Hochzeiten von Reaper noch gar keine elektronische Musik gehört habe und somit auch keinen Vergleich habe. Das ist ja die Frage bei einer Wiedervereinigung: Sind sie noch so gut wie früher? Lohnt sich das Ganze oder bekommt man am Ende einen Zombie, bei dem alle froh sind, wenn er doch wieder ins Grab zurückkehrt? Ich für meinen Teil hatte einen Riesenspaß. Aufgrund einer Beinverletzung war ich leider nicht in der Lage, angemessen zu springen, aber das erledigte Marieke aus Holland neben mir, die dermaßen energetisch herumhüpfte, dass es eine Lust war, ihr zuzusehen.

Zudem war es faszinierend zu sehen, wie der sonst so zurückhaltende Vallis sich beim Aufgehen des irren Strobo-Mondes in einen werwolfhaften Berserker verwandelte. Alle drei kamen in der Original-Kriegsbemalung in Schwarz und Weiß auf die Bühne und der Fronter brüllte uns die Lyrics geradezu zähnefletschend entgegen, während er ruhelos an der Bühnenkante auf- und abtigerte. The Devil Is Female ertönte zum Start des Sets und konnte vom Großteil des Publikums mitgesungen werden. Reaper setzten an dem Abend Maßstäbe in Sachen Spielfreude. Wie Gregor ekstatisch grinsend auf seine elektronische Klangtafel einhämmerte oder Gaias exzessives Dreadlocks-Schwingen zu Vasi Vallis’ aggressiver Ganzkörper-Performance… all das ging butterweich durch die willige Menge und die Anwesenden warfen sich willig in die Electro-Sense, um auf diesem heiligen Boden feuchtfröhlich auszubluten. Die schließlich geronnene und auf das simpelste heruntergebrannte Substanz dieser knapp anderthalb Stunden war die Erkenntnis, dass es manchmal kein ausgeklügeltes Sterne-Rezept braucht. Am sattesten und zufriedensten verlässt man den Saal, wenn Vasi Vallis einem die scharf gewürzte Suppe quasi ins Gesicht gepfeffert hat. Reaper macht Masochisten aus uns allen!

Wer jetzt unerklärlicherweise noch Energie hatte, konnte natürlich die zahlreichen Partys des WGTs aufsuchen. Egal ob in der ehrwürdigen Moritzbastei, der Agra 4.2 oder im ebenso aus der Asche wiederauferstandenen Darkflower, überall wurde bis zum Morgen getanzt. Das ist Wave Gotik Treffen: Wenn man das Gefühl hat, das Schlaf Verschwendung ist. Und doch musste man auch schon an den nächsten Tag denken, wenn wieder reichlich Programm-Highlights darauf warteten , aus ihrem schwarz schillernden Geschenkpapier gelöst zu werden…

Eine Bildgalerie zum Vikrorianischen Picknick findet ihr hier.

Fotos: VIKTORIANISCHES PICKNICK, 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT), 17.05.2024

Eine Bildergalerie mit: Miranda Sex Garden, Andi Sex Gang und Gvllow findet ihr hier.

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Freitag, 17.05.2024 (Thomas Bunge)

Eine Bildergalerie mit: Echoberyl, Brigade Enzephalon, Amduscia, Miranda Sex Garden, Gvllow, Anneke von Giersbergen und Ladytron findet ihr hier.

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Freitag, 17.05.2024 (Sandro Griesbach)

Eine Bildergalerie mit: Der Schulz, Stimmgewalt, Moran Magal, Anneke von Giersbergen und dem Viktorianischen Picknick findet ihr hier.

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Freitag, 17.05.2024 (Anno von Sachsen)

Weblinks Wave Gotik Treffen:

Homepage: www://wave-gotik-treffen.de
Facebook: www.facebook.com/WaveGotikTreffen
Instagram: www.instagram.com/wgt_leipzig

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