31. WAVE GOTIK TREFFEN (WGT 2024) – Leipzig, Samstag (18.05.2024)

31. Wave Gotik Treffen © Monkeypress
31. Wave Gotik Treffen © Monkeypress
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Die Bunburysierung des Abendlandes

Nach dem ersten Tag war ich bereits wieder voll drin im “WGT-Modus”. Ich hatte die besondere Stimmung verinnerlicht, mich an die Straßenbahnfahrten gewöhnt und an den Anblick von vielen gleichgesinnten Menschen in tollen Outfits. Und ich hatte den diesjährigen Pfingstboten erworben, durchgeblättert und letzte Anpassungen am Programm vorgenommen. Wer regelmäßig zum Wave Gotik Treffen fährt, gewöhnt sich auch gewisse Rituale an. Eins davon ist der Besuch der Schauspieltruppe “TheaterPACK”. Bereits am Donnerstag war ich in deren eigener Spielstätte, dem “Laden auf Zeit” gewesen, wo der Chef der Truppe, Frank Schletter, noch selbst hinter der Bar stand und mir einen Cocktail namens “Blutsonntag” ausgeschenkt hatte, während ich einem bunten Programm verschiedener Künstlerinnen und Künstler namens Die fatale Fledermausefalle gelauscht hatte. Das WGT befruchtet auch immer wieder das sonstige Kulturleben in der Stadt.

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Wie immer auf der Freilichtbühne im Hof des Täubchenthals gelegen, führte das TheaterPACK sein diesjähriges Stück auf. Erfahrungen der letzten Jahre hatten gezeigt: Früh da sein lohnt sich, denn ein Platz in den vorderen Reihen lässt einen die Schauspielerinnen und Schauspieler auch bei starkem Wind noch verstehen. Die Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich indes als unnötig, denn die Truppe trat zum ersten Mal mit am Kopf montierten Mikrofonen auf. Eine ganz hervorragende Neuerung, danke dafür! Gespielt wurde das Stück Im Ernst, Bunbury?, nach Oscar Wildes Komödie The Importance of Being Earnest (= Die Wichtigkeit, ernst zu sein). Darin geht es darum, dass Angehörige der Oberschicht sich Scheinidentitäten zulegen, um ihren jeweiligen Gelüsten auf dem Land und in der Stadt frönen zu können, und wie der Vorname “Ernst” die Chance auf eine Heirat erhöht.

Wir haben uns bestens amüsiert und das Konzept der “Bunburysierung” direkt in unseren Wortschatz übernommen. Ich möchte an dieser Stelle wieder eine Lanze für das reichhaltige Kulturprogramm des Wave Gotik Treffens brechen. Wie oft schafft man es im Alltag in die Oper, ins Ballett, ins Theater? Die meisten Menschen werden diese Errungenschaften der Hochkultur wohl eher selten bis gar nicht aufsuchen. Das WGT bietet die einzigartige Möglichkeit, den Kulturanteil im eigenen Leben zu erhöhen, ohne sich in hohe Unkosten stürzen zu müssen. WGT ist mehr als nur Szene-Konzerte! Das ist der ganz entscheidende Unterschied zu anderen Festivals. Das gleiche gilt natürlich auch für die zahlreichen Museen, zu denen man mit einem WGT-Bändchen Eintritt erhält. Nutzt diese Möglichkeit gerne!

Nachdem uns Frank Schletters Truppe wie jedes Jahr viel Freude bereitet hatte, aßen wir zu Mittag und begaben uns dann zum agra-Gelände. Der agra-Messepark mit den entsprechenden Hallen ist das schlagende Herz des ganzen Festivals. Hier gibt es den großen “Freiluft-Laufsteg” für alle, die ihre teils monatelang vorbereiteten Outfits präsentieren möchten und natürlich die große Hauptbühne. Wir waren an diesem Samstag angereist, um eine wahre Ikone live zu sehen: In Strict Confidence. Die Band absolvierte bereits ihren neunten Auftritt in der langen Geschichte des WGT, ist aber auch heute immer noch so großartig, dass man sie keineswegs verpassen darf. Statt eines Old School Sets bekamen die WGT-Besucher auch die volle Besetzung zu sehen und zu hören, also inklusive Drums, female Live-Vocals und Gitarre. Nach dem üblichen Morpheus-Intro begann das Set mit My Despair und Used & Abused. Die Frage “Are you having a good time?” von Sängerin Nina de Lianin konnte die Menge mit lauter Zustimmung beantworten. Ich habe schon viele Gigs der Truppe um Dennis Ostermann besucht, aber es ist immer wieder wundervoll, die volle Besetzung zu bekommen, insbesondere auch mit Nina und Haydee Sparks an der Gitarre.

Nach dem Song Morpheus rief Dennis ein Wort, das ich als “Furchtbar!”, meine Begleiter aber als “Druszba!” und “Durchfall!” verstanden hatten. Nun, da die Stimmung im Publikum großartig gewesen und alle fleißig mitgesungen hatten, nehmen wir mal an, dass es positiv gemeint war. “Jetzt folgt eine besondere Zeitreise”, drückte der Fronter sich danach wieder verständlich aus. “Die Nummer ist älter als wir alle. 1999… Da waren wir alle noch nicht geboren”, scherzte er. Es handelte sich um Industrial Love vom Album Angels Anger Overkill. Dennis eilte nach dem Song zu Dirk Riegner an den Keys und umarmte den Weggefährten. Mit Tiefer fand sich auch eine härtere Nummer im Set, die klanglich eher an NDH und Dark Rock erinnert. In Strict Confidence ist eine sehr vielseitige Band. Wer die Veteranen trotz aller Verdienste noch nicht kennt, dem seien auch die opulenten Musikvideos auf Youtube ans Herz gelegt, die beim Live-Auftritt unterstützend über die Leinwand flackerten. Natürlich konnte das Set nicht ohne ein paar Klassiker enden. Nach Engelsstaub sagte der Frontmann: “Wir können euch nicht gehen lassen, ohne die folgende Nummer. Die auch nach 20 Jahren noch da ist und die nächsten 100 Jahre da sein wird. Ihr Lieben, hier ist euer Zauberschloss!”. Die agra-Halle erbebte unter lautem Jubel, als der Ohrwurm ertönte.

Es ist einfach wunderbar, wie eine Band wie In Strict Confidence es immer wieder schafft, mit ihren alten Songs unser früheres Ich zu erwecken. Die Person, die wir einmal waren, als wir diese Lieder zum ersten Mal gehört haben. Wir begegnen unserem früheren Leben über die Brücke, die die Musik der Band für uns baut. Das ist eine emotionale Begegnung. Unser vergangenes und unser gegenwärtiges Ich schauen sich tief in die Augen. Natürlich läuft diese Begegnung nicht immer ohne Reibung ab. Haben wir uns vorteilhaft entwickelt? Haben wir das erreicht, was wir damals wollten oder haben wir vielleicht eigene Wünsche aufgegeben und nur Somebody Else’s Dream gelebt und uns damit selbst verloren? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während Haydee und Nina glitzernde Flügelumhänge anlegten und damit über die Bühne waberten. Nach dem letzten Song Herzattacke entließen In Strict Confidence uns glücklich, aber auch nachdenklich, in die Nacht.

Ein guter Ort, um inneren Dämonen die Stirn zu bieten, ist das nahegelegene Heidnische Dorf am Torhaus Dölitz. Kein WGT vergeht, ohne dass wir einen Sonnenuntergang in dieser mittelalterlichen Atmosphäre zelebrieren. Der beliebte Anlaufpunkt auch für Familien während des WGTs bringt einen raus an die frische Luft. Während auf den Bühnen überwiegend folkige und mittelalterliche Töne erklingen, kann man zünftig essen und natürlich bei der Weinkutsche von Beerenweine vorbeischauen. Egal ob verschiedenste Metsorten, (Brat-)Apfel-, Erdbeer- oder Pfirsichwein: Die Mindener Institution versorgt einen mit allem, was man braucht, um feuchtfröhlich zu feiern. Wir entschieden uns für Kirschbier und Brombeerwein und verbrachten einige vergnügliche Stunden unter dem sich langsam eindunkelnden Himmel, bis wir wieder aufbrachen, um eine weitere Kulturkonstante der Schwarzen Szene zu feiern.

“Alles schwarz”: Mozart präsentiert die etwas andere Zauberflöte

Der Felsenkeller im Leipziger Stadtteil Plagwitz bietet eine eher gitarrenlastige Ausrichtung während des Festivals an. Wer gepflegten Dark Rock oder Metal sehen möchte, ist hier genau richtig. Uns zog es zum Tagesabschluss in das historische Gebäude, weil Umbra et Imago sich angekündigt hatte. Auch diese Band ist eine ehrwürdige Institution in der Szene, aus der gleichen “Generation” wie In Strict Confidence. Man könnte unseren Samstag also als den “Retro-Tag” des WGTs bezeichnen. Doch die Helden von damals sind einfach auch immer noch relevant. Das Ich, Goethes Erben, Umbra et Imago… sie alle haben das Wave Gotik Treffen mitgeprägt, und kehren daher gern an den Ort ihrer frühen “Verbrechen” zurück. Einst bekannt für ausschweifende BDSM- und sexlastige Bühnenshows, wurden diese Elemente bei Umbra et Imago mittlerweile deutlich reduziert. Nun muss also weitgehend die Musik für sich alleine sprechen – und das tut sie!

Der wilde Reigen begann mit Märchenlied und Requiem der Nephilim. Sänger und Mastermind Mozart kam zunächst verhüllt auf die Bühne und schlug sodann das “heilige Buch” auf. “Ich habe mir lange Gedanken gemacht, über die Begrüßung. Wie begrüße ich meine Freunde nach so langer Zeit?”. Es war der erste Auftritt seit sieben Jahren auf dem WGT. “Ich hab mir auch Kollegen angeschaut”, fuhr der Frontmann nachdenklich fort. “Alle machen das gleich. ,Seid ihr gut drauf?’ Total ungruftig!”. Da die Band ihren “eigenen Schlachtruf” hat, fiel Mozart dann doch noch etwas Passendes ein. Auch zwischendurch lockerten die unkonventionellen Ansagen des Fronters den Abend auf bemerkenswerte Weise auf. “Wisst ihr, was mir gar nicht passt? Größe 36”, warf er zum Beispiel zwischendurch trocken ein. Aber trocken blieb es nicht, denn der Sänger warf immer wieder geöffnete Wasserflaschen ins Publikum.

Für Lieber Gott holte sich die Band noch musikalische Unterstützung: “Wir haben einen Gast: Benjamin Schmidt. Ich brauche ein bisschen Verstärkung, weil der Heppner spielt ja auch noch, heute oder morgen…”. “Gestern!”, korrigierte jemand aus dem Publikum. Beim Thema “landwirtschaftliche Erzeugnisse” wurde es kurz politisch. “Wer trinkt Milch von euch, morgens?”. “Keiner, der kein Kälbchen ist”, ließ sich eine weibliche Stimme hören und veranlasste Mozart zur Ergänzung: “Und wer trinkt Hafermilch? Sojamilch? Wer von euch lässt die Milch über den Körper fließen? Ihr Ferkel!”. Natürlich wurde so der Song Milch eingeleitet. Besonders gut kam auch die Aufführung des laut Mozart “ersten Umbra-Songs überhaupt”, der laut ihm unter Einsatz von Narkotika entstanden war. The Final Last Dream  war sehr lange nicht mehr auf der Bühne zu hören. Für solche besonderen Momente ist das Wave Gotik Treffen berüchtigt. Auch ein “soziales Experiment” wurde noch live veranstaltet: Mozart warf viele aneinandergeknotete Tücher in die Menge und verkündete, dass man gemeinsam die Knoten friedlich lösen statt darum kämpfen müsse, um ein haptisches Andenken mit nach Hause nehmen zu können.

Natürlich wurden auch noch Klassiker wie Alles schwarz gespielt und man hatte den Eindruck, die launige Lehrstunde in Sachen Gothic könne noch ewig so weitergehen. Doch nach dem neuen Song Ode an die Musik und dem Falco-Cover Amadeus war es leider vorbei mit der Nostalgie. Das Felsenkeller-Publikum zeigte sich indes so begeistert, dass die Band keineswegs einfach verschwinden konnte. Da offenbar keine weiteren Stücke einstudiert worden waren, spielte man Alles schwarz einfach ein zweites Mal, bevor Mozart und seine Truppe endgültig von der Bühne verschwanden. Gegen Ende hatte es die übliche, kurze Cunnilingus-Einlage im Handstand von Madelaine und Mozart gegeben, als Hommage an alte, wilde Zeiten. Wir verließen den Felsenkeller jedenfalls vollauf befriedigt und gönnen uns in der benachbarten Kneipe “Naumann’s” noch einen Absacker. Dabei entdeckten wir die örtliche Spezialität “Connewitzer Kastanienlikör”, die hiermit wärmstens empfohlen sei! So ging ein wundervoller, zweiter WGT-Tag zu Ende. Für eine der zahlreichen Partys war ich persönlich an diesem Tag zu müde. Verhältnismäßig früh schlafen zu gehen, erwies sich als recht gute Entscheidung, schließlich wollte ich bereits am Sonntagvormittag ins Varieté-Theater gehen.

Eine Bildgalerie zum Steampunk Picknick findet Ihr hier.

Fotos: STEAMPUNK PICKNICK, 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT), 18.05.2024

Eine Bildergalerie mit Clout Blued, Almara, Nemuer und Camerata Mediolanense findet Ihr hier.

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Samstag, 18.05.2024 (Thomas Bunge)

Eine Bildergalerie mit In Strict Confidence, Placebo Effekt und Mia Morgan findet Ihr hier:

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Samstag, 18.05.2024 (Sandro Griesbach)

Eine Bildergalerie mit Die Kammer, In Strict Confidence, Molllust, Umbra et Imago und Two Witches findet Ihr hier:

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Samstag, 18.05.2024 (Anno von Sachsen)

Weblinks Wave Gotik Treffen:

Homepage: www://wave-gotik-treffen.de
Facebook: www.facebook.com/WaveGotikTreffen
Instagram: www.instagram.com/wgt_leipzig

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