30. Wave Gotik Treffen (WGT 2023) – Leipzig, Samstag (27.05.2023)

30 Wave Gotik Treffen - Samstag, 27.05.2023 © Monkeypress
30 Wave Gotik Treffen - Samstag, 27.05.2023 © Monkeypress
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Tanz der Elemente – Mexikanisches Feuer trifft schwedisches Eis

Wenn man bis 4 Uhr das Tanzbein geschwungen hat, tut man am nächsten Morgen gut daran, auszuschlafen. Aber nicht ZU lang, denn es galt eine weitere liebgewordene Tradition, einen Fixstern im persönlichen Programmkalender zu absolvieren: Das alljährliche Stück des TheaterPACKS Leipzig unter der Leitung von Frank Schletter. Seit ich zum WGT fahre, besuche ich jedes Jahr die Aufführung. Die famose Schauspieltruppe hat mich noch jedes Mal begeistert, sei es nun mit Shakespeare, Molière oder wie dieses Jahr Alexander Dumas. Die drei Musketiere ist uns als Geschichte um den jungen D’Artagnan wohlbekannt, der sich am Hof in Paris eine Verpflichtung als Musketier seiner Majestät erhofft und in allerlei Duelle und Liebesgeschichten hineingerät. Die Version des TheaterPACKS war wie immer unterhaltsam und amüsant. Das Besondere an dieser Truppe ist, dass sie nicht aus besonders vielen Leuten besteht, sodass ein Schauspieler oder eine Schauspielerin üblicherweise mehrere Rollen spielen und sich immer wieder rasend schnell umziehen muss. In diesem Jahr schien die Anzahl allerdings höher als sonst und wurde zudem um ein musikalisches Ensemble ergänzt. Hut ab vor Schletter und seiner Truppe, auf dass sie uns noch lange den WGT-Vormittag am Samstag versüßen mögen.

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Nicht weniger kunstvoll ging es auch im Anschluss weiter: Bevor die Kuppelhalle des Volkspalastes ihre Pforten für die Vorbereitung der speziellen Fetisch-Party Obsession Bizarr schloss, durfte noch Tausendsassa Oswald Henke sein dramaturgisch-musikalisches Programm mit Goethes Erben durchziehen. Wer zu spät kam (so wie wir) erlebte, dass die Formation einiges an Zugkraft besitzt. Die Zuschauer stapelten sich förmlich die Treppen hoch und fast bis zur Tür raus. Goethes Erben muss man einmal gesehen haben und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, hören alleine reicht da nicht aus, um die Dimension der Show in Gänze zu erfassen. Wie Henke sich die Setlist im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt, sich scheinbar vor Schmerzen krümmt oder halb auf Tische klettert, nur um dann zuckend wieder herabzurutschen oder sich mit irrlichternden Augen und verzerrtem Mund vorzubeugen… Wie man auch immer zu dem Gesamtkunstwerk Goethes Erben stehen mag, das ist einfach authentische Hingabe und man kann die Kunst dahinter so oder so einfach mal anerkennen. Verstehen muss man sie nicht. Die Band peitschte mit Songs wie Mensch sein („Relativ egal ob 1 Jahr alt oder 99 oder 120. Wir sind alle Menschen!“) oder Kopfstimme (“Mein Fleisch bittet darum. Mein Verstand leugnet“) auf die faszinierte Zuhörerschaft ein und schuf damit gleichsam einen musikalischen Auftakt zur „Obsession“.

Weitaus weniger verschnörkelt und durchaus berechenbarer ging es danach in der Agra-Halle weiter. Selbst ArachnophobikerInnen tanzen, wenn das Spinnenbanner weht. Hocico aus Mexiko wird immer dann engagiert, wenn man einen Tanzgaranten braucht. Die Gruppe um Erk Aicrag, der auch jüngst als Schriftsteller mit seinem Buch „Until my throat bleeds“ von sich reden machte, hält ihre Zutatenliste streng geheim, vermag es aber irgendwie immer, seiner Musik eine unvergleichlich aufpeitschende Komponente beizumischen, die ihresgleichen sucht. Daher sind Hocico-Konzert schweißtreibende Angelegenheiten und sollte zu dieser Tageszeit (19:15 Uhr) noch irgendwer letzte Restverkrustungen von der Partynacht vorher in den Adern gehabt haben, so war es damit jetzt endgültig vorbei. Spätestens Bite Me löste hektisches Arme- und Beineschlackern bei den Anwesenden aus und sorgte dafür, dass sich die agra in einen Mahlstrom aus Moshpits und ekstatischen Einzeltänzern verwandelte. Und so ging es ohne Atempause weiter. Es gibt sehr dienstleistungsorientierte Electro-Bands wie z.B. [:SITD:], die in die Mitte jedes Songs eine ruhige Stelle einbauen, um das Publikum zu Atem kommen zu lassen und damit man seine Gliedmaßen sortieren kann. Erk Aicrag jedoch ist der Zuchtmeister ohne Gnade, der vom Publikum nicht weniger verlangt, als sich komplett auf eine anaerobe Existenz einzustellen. Keine Kompromisse! Durchziehen und -tanzen bis zu den letzten Takten von Tiempos de Furia.

Wir bezeugen den Lichtbringer – und retten uns in die Götterdämmerung

Geatmet werden durfte danach wieder. Die Schweden von Covenant fluteten wie kühles Wasser die dampfenden Wunden, die Hocico geschlagen hatte und hüllten die zerschlagenen Körper und Gemüter der Anwesenden in kühlen, skandinavischen Wave. Eskil Simonsson und seine Begleiter waren genau das Richtige, um den Abend ausklingen zu lassen. Aber wer das Programm studiert hatte, wusste genau, dass danach wieder brutalster Abriss mit dem Headliner Front 242 auf dem Programm stand. Später am Abend ging das Gerücht um, dass selbst vor dieser größten aller WGT-Locations dreimal ein Einlassstopp verhängt worden sei. Ob das nun an Covenant oder den Belgiern lag, ist nicht überliefert. Wer jedenfalls das Glück hatte, sich im Inneren der agra-Halle zu befinden, erlebte ein fulminantes Set der Schweden und durfte sich zu Hits wie Bullet, We stand alone und natürlich Call the Ships to Port bewegen. Vorne im Publikum sah man zwei Laserschwerter rot funkeln, die über den Köpfen der Tanzenden immer wieder zusammenschlugen. Ob meine Überlegungen zu [:SITD:] nun etwa zwei Sith-Lords aus der Deckung geholt hatten? „The next song is from the last record we released, Fieldworks!”, kündigte Eskil an und auch wenn es sich so anhörte, als sei nun mit einem neuen Stück zu rechnen, die erwähnte EP ist mittlerweile auch schon wieder vier Jahre alt. Natürlich hörten wir False Gods trotzdem gern. Die Band schafft es, in der stickigen agra eine kleine Mikroatmosphäre des Friedens zu erzeugen und formte aus den vielen, schwarzen Mosaiksteinchen, die chaotisch in die Halle diffundiert waren, ein neues, stimmiges Gesamtbild, in dem sich alle gemeinsam bewegten, angetrieben von der Eskil-Engine auf der Bühne. Die besondere Atmosphäre blieb auch den Musikern nicht verborgen: „So many faces… I can’t imagine. It’s so beautiful“, zeigte man sich sichtlich bewegt. Und als der Deutsche an den Keys, Daniel Myer (aus Leipzig) das Wort an die Menge richtete, erntete er donnernden Jubel: „Ihr seht fuckin‘ beautiful aus, von hier oben!“. Bevor der Aufruf an alle Schiffe ging, den Hafen aufzusuchen, spielten Covenant noch Lightbringer und ja, das hatten sie wahrlich geschafft: das Licht in die alte Messehalle zu bringen.

So ganz wollten wir aber noch nicht ins Bett. Für einem lauen Frühsommerabend gibt es einen wundervollen Ort, an dem man feiern kann, ohne sich durch enge und schlecht belüftete Kellerräume quetschen zu müssen. Das Heidnische Dorf liegt fußläufig von der WGT-Hauptbühne entfernt hinter dem historischen Torhaus Dölitz. Man stelle sich einfach einen Mittelaltermarkt mit zwei Bühnen vor, bevölkert von Goths, Steampunks, Metalern und natürlich mittelalterlich Gewandeten. Als wir eintrafen, spielten Faun gerade noch auf der Hauptbühne ihre letzten Songs und so geleiteten uns sanfte Klänge und  frisch erstandener Brombeerwein in den informellen Teil des Abends hinüber. Über den Rest der Nacht wird der Mantel des Schweigens gebreitet.

Eine Bildgalerie zum Steampunk Picknick findet ihr hier:

Fotos: Viktorianisches Picknick und Steampunk Picknick, 30. Wave-Gotik-Treffen (WGT), 26. und 27.05.2023

Eine Bildergalerie mit den Bands Left For Pleasure, Ghosting, Grausame Töchter und Das Ich findet ihr hier:

Fotos: WAVE GOTIK TREFFEN (WGT) – Samstag, 27.05.2023 (Sandro Griesbach)

Eine Bildergalerie mit den Bands Hocico, Covenant, Front 242, Cold Cave und Impressionen findet ihr hier:

Fotos: WAVE GOTIK TREFFEN (WGT) – Samstag, 27.05.2023 (Alex Jung)

Eine Bildergalerie mit den Bands Fiasko Leitmotiv, Steintor Herrenchor, Temmis, Betterov und Edwin Rosen findet ihr hier:

Fotos: WAVE GOTIK TREFFEN (WGT) 2023 – Samstag (27.05.2023) (Claudia Helmert)

Weblinks Wave Gotik Treffen:

Homepage: www://wave-gotik-treffen.de
Facebook: www.facebook.com/WaveGotikTreffen
Instagram: www.instagram.com/wgt_leipzig

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