EVANESCENCE & WITHIN TEMPTATION – Frankfurt, Festhalle (23.11.2022)/Düsseldorf, Mitsubishi Electric Halle (25.11.2022)

Evanescence/& Within Temptation © Sandro Griesbach
Evanescence/& Within Temptation © Sandro Griesbach
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Der lange, harte Weg zum Gipfel… Viermal dachte man, dass man endlich oben wäre, nur um hinter der Biegung eine weitere Steilwand vorzufinden. Aber nun, nach vier Verschiebungen, war es endlich soweit: Der Gipfel des Symphonic Metals war erreicht und die Aussicht war atemberaubend. Die Worlds Collide-Tour trägt keinen 100%ig passenden Namen, schließlich kommen Evanescence und Within Temptation nicht wirklich aus verschiedenen Welten. Es war somit keine “Kollision”, sondern vielmehr eine symbiotische Verschmelzung, der wir in Frankfurt und Düsseldorf beiwohnen durften (So ein Ereignis kann man ruhig mehrmals erleben, denn allzu schnell wird es diese Kombination nicht mehr geben). Für mich persönlich ist diese Tour eines der größten Ereignisse dieses Jahrzehnts und dementsprechend groß war die Freude, als wir uns auf den Weg in die Frankfurter Festhalle machten. Ein Fest stand hier wahrlich bevor!

Lass Dir den Beitrag vorlesen:

Um 19:05 Uhr betrat die Supportband Smash Into Pieces schwungvoll die Bühne. Die Schweden arbeiteten visuell mit Rechtecken aus Leuchtröhren, die sie in verschiedenen Farben erstrahlen und blitzen ließen und gaben mit eingängigem Pop-Rock und leicht angerauten Vocals eine durchaus ansprechende Visitenkarte ab. Man kann die Band auch als Arbeitstiere bezeichnen, schließlich haben sie in den vierzehn Jahren ihres Bestehens sechs Studioalben und sehr viele Singles veröffentlicht, sowie hunderte Konzerte gespielt. Unbekannt waren sie also nicht und auch wenn sie stilistisch nicht so recht zum übrigen Abendprogramm passten, ließen viele Fans sich trotzdem mitreißen und warmspielen.

Setlist SMASH INTO PIECES (an beiden Abenden)

01. Wake Up
02. Glow in the Dark
03. Let Me Be Your Superhero
04. Sleepwalking
05. Running Away From Home
06. Forever Alone
07. Boomerang

Weblinks SMASH INTO PIECES

Homepage: www.smashintopieces.com
Facebook: www.facebook.com/SmashIntoPieces

Within Temptation hatte zur Wiederaufnahme von Auftritten nach den ersten Pandemiewellen ihr Bühnenbild erneuert und bereits auf den Festivalshows im Sommer das neue Konzept präsentiert. Dominierendes Element in Frankfurt war hinten in der Mitte eine überdimensionale, silbergraue Maske, die trotz der beträchtlichen Höhe durchaus in die Festhalle passte, in Düsseldorf aber fehlte, ebenso wie die pyrotechnischen Einrichtungen, die es auch nur in Frankfurt gab. Andere Halle = andere Sicherheitsbestimmungen? Nun kann man darüber streiten, wie notwendig solche Elemente wirklich sind, aber in Frankfurt trugen die abwechslungsreichen Showbestandteile durchaus ihren Teil zur Begeisterung der Menge bei. Vorne gab es Gitarrenpodeste mit verschieden hohen Lichtröhren und an den beiden Seiten hingen zwei scheinwerfergesäumte, kreisrunde Bildschirme, die in Frankfurt zusätzlich in ihrer Mitte eine dritte, noch größere Version davon flankierten. Die Band Within Temptation fiel  in den letzten Jahren auch dadurch auf, sich keineswegs der modernen Gesellschaft zu verschließen, sondern die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung mit offenen Armen zu empfangen. Und das gleich in doppelter Hinsicht: Durch entsprechende Thematiken in Texten und Musikvideos, genauso wie in der Eigennutzung dieser Möglichkeiten zu Werbezwecken. Schon ab dem Vorgängeralbum Resist wurde vermehrt mit Social Media, einer modernisierten Website und vielen kleinen Online-Promoaktionen gearbeitet, um die Fans auf zeitgemäße Weise erreichen zu können. Die “QR-Code-Mania” der Sommerfestivals (damals konnte man durch Scannen des Codes auf dem Bildschirm gar ein Meet&Greet gewinnen) setze sich auch auf der Worlds Collide-Tour fort, nun wurde die eigene App dergestalt beworben. Musikalisch ging es mit dem The Heart of Everything-Klassiker Our Solemn Hour los. Sharon trug eine Art Rüstung aus goldglänzendem Metall, einen Rock und ein Diadem aus Metallspießen.

Der Bildschirm im Hintergrund der Band wurde intensiv genutzt, für Rahmen, Musikvideofetzen oder Animationen. Auch hier schließt sich wieder der Kreis hin zu einer der modernsten Symphonic Metal-Bands überhaupt. So zum Beispiel beim Song Faster: Hier wurden nicht nur Textteile eingeblendet, sondern auch schnelle Autos. Erfahrene Fans der Band wussten oft schon an der veränderten Visualisierung auf den Screens, welcher Song als nächstes angestimmt werden würde. Stand My Ground wurde zwar auf dieser Tour nicht mit den üblichen, halbdunklen Hochhäusern illustriert, aber das Unwetter und die Wasserspeier blieben. “Keep doing that!”, forderte die Fronterin die Menge auf. “Stand up for what you believe. Stand your ground!”. The Silent Force kann getrost als das bekannteste Album von Within Temptation bezeichnet werden, und das spiegelte sich auch in der Setlist wieder, die nun einen weiteren Song des Albums, Angels, aufdeckte. Besonders bei diesen alten Songs wurde die Menge besonders laut und emotional. Nach 19 Jahren kann man durchaus davon sprechen, dass eine ganze Generation mit dieser Musik erwachsen wurde, so auch ich. Es waren besonders diese Songs, die die Menge in Gänze mitsang. Gleich einem Engel hatte Sharon sich hier übrigens hoch über die Bühne aufgeschwungen, und zeigte sich im Scheinwerferlicht auf der meterhohen Metallmaske. Während der Bridge von Angels wuchsen ihr durch die Bildschirmanimation scheinbar wirklich Feuerflügel. Absolut ergreifender Moment, Kompliment an die Choreographen. Aber auch die Gegenwart bietet hervorragendes Songmaterial: Mit The Purge wurde eins der neuen Stücke gespielt und zwar das eingängigste. “Das war super, Frankfurt!”, lobte Sharon den Adel die “Chorbegleitung” des Publikums.

Nun wurde es kurz politisch. “There’s a lot of crazy stuff happening in the world”, sagte die Fronterin ernst. “Difficult times for many people, especially for those in Ukraine. I still want to support them!”, bezog sie ganz klar Stellung und schwenkte während des Songs Raise Your Banner eine große Ukraine-Flagge auf der Bühne. Am Ende hob Sharon ihre Hand und formte das Victory-Zeichen und forderte erneut Frieden für die Ukraine, was mit donnerndem Applaus quittiert wurde. Ja, es gibt Stimmen, die sich wünschen, dass die Politik aus der Kunst herausgehalten werden soll. Früher hätten das wohl auch viele Menschen in Europa unterschrieben, aber nun scheint es für viele deutlich schwerer geworden zu sein, keine Stellung zu beziehen. Within Temptation wird wohl niemand einen Vorwurf machen, die Band steht für absolute Authentizität und zudem kann die Ukraine jegliche Unterstützung gebrauchen. Ein weiterer Song mit klarer Botschaft folgte auf dem Fuße und zwar Entertain You. Der akustische Mittelfinger für alle, die der Meinung sind, dass jedermann nach ihrer Pfeife tanzen muss. Der männliche Teil der Vocals wird auf der Platte von dem Produzenten Daniel Gibson bestritten. Die Worlds Collide-Tour wurde allerdings nur von Within Temptation und Evanescence absolviert, weitere Gastmusiker waren nicht live dabei, sondern wurden allenfalls auf den Bildschirmen digital eingeblendet. In Frankfurt wurde es nun still im Saal, als Sharon mit leiser Stimme vom Tod ihres Vaters berichtete und davon, dass sie damit lange nicht abschließen konnte, sondern auf ein Zeichen des Universums wartete, dass es ihm in der jenseitigen Welt gutgehe und sie nun mit ihrem Leben trotz des Verlustes fortfahren könne. Diese persönliche Erfahrung verarbeitete die Sängerin im Song Supernova. In der Düsseldorfer Show erweitere Sharon die Bedeutung übrigens auf die jeweiligen verstorbenen Angehörigen aller Anwesenden. So konnte jeder musikalisch noch einmal Abschied von einem geliebten Menschen nehmen.

Religion itself can be beautiful!”, leitete den Adel daraufhin den nächsten Song ein und bewies damit Toleranz. “But it is an individual decision…”, fuhr sie fort und erläuterte, dass sie die Grenzen dort ziehe, wo Menschen aus religiösen Gründen Unterdrückung und Einschränkungen erdulden müssten. Im Gegensatz zu Amy Lee, die sich zum Christentum bekennt, erteilte Within Temptation für sich der Religion mit dem neuen Song Don’t Pray For Me eine deutliche Absage. Die abwechslungsreiche Show sah nun einen weiteren buchstäblichen Höhepunkt vor: Sharon wurde in einem großen Ring mit Sitzfläche platziert und ein Stück Richtung Decke hinaufgezogen, wo sie im Scheinwerferlicht schwebte und mit glasklarer, verletzlicher Stimme All I Need zum Besten gab, die vulkanartig ausbrechende Ballade von The Heart of Everything. Ich kann mich nicht erinnern, diesen tiefreichenden Song schon einmal so intensiv erlebt zu haben – trotz langjähriger Konzerterfahrung mit Within Temptation. Großartig! Und dieses Showelement gab es bei beiden Shows. Und so fulminant blieb es auch, da sich die Band nun auf die Zielgerade begab. Ice Queen gehört sicherlich zu den bekanntesten Songs der Band und das “Woho” im Strophen-Zwischenraum konnte Sharon getrost der Menge überlassen, was sogar im Takt gelang. Sharon erzählte danach, dass sie damals nach Deutschland gekommen sei und das Lied im Musikfernsehen laufen gesehen hatte. Das muss ein einzigartiger Moment für die noch junge Band gewesen sein. Die meisten im Publikum sangen natürlich den ganzen Song mit und das galt auch danach noch für What Have You Done? Doch der Schlusspunkt des Sets gehörte wie immer der Farbe Grün: Vorbereitet durch das lange Intro des All-time-Classics Mother Earth, gab die Menge noch einmal alles und feierte ihre Helden aus den Niederlanden, die sowohl in Frankfurt als auch in Düsseldorf sichtlich angetan vom Publikum waren. In der Mainmetropole ließ Sharon sich sogar dazu hinreißen zu resümieren: “Deutschland – my favourite!”. So ge-den-adelt ließen wir die Band dann doch widerwillig ziehen, denn schließlich wartete noch Teil zwei des Abends.

Setlist WITHIN TEMTATION (an beiden Abenden)

01. Our Solemn Hour
02. Faster
03. Paradise (What About Us?)
04. Stand My Ground
05. Angels
06. The Purge
07. Raise Your Banner
08. Entertain You
09. Supernova
10. The Reckoning (In Düsseldorf mit Amy Lee)
11. Don´t Pray for Me
12. All I Need
13. Ice Queen
14. What Have You Done
15. Mother Earth

Weblinks WITHIN TEMPTATION:

Homepage: www.within-temptation.com
Facebook: www.facebook.com/wtofficial

Wie für Double-Headliner-Touren üblich, wechselte die Reihenfolge der beiden Bands während der Tour, in Frankfurt durfte Evanescence den Abschluss machen, in Düsseldorf hatten die beiden Bands die Plätze getauscht. Die Spielzeit war aber bei beiden mit 75 Minuten gleich.  Die Amerikaner beehren Deutschland nicht allzu oft, Amy sprach später am Abend auch davon, dass es zum ersten Mal wirklich lange gedauert hatte, ein entsprechendes Visum ausgestellt zu bekommen. Es war schwer zu sagen, ob insgesamt mehr Leute für Evanescence oder Within Temptation gekommen waren, aber ohnehin hören die meisten ja beide Bands. Ich persönlich hätte keinen Favoriten benennen können. Im Bühnenkonzept unterschieden sie sich aber durchaus. Der große Hintergrundbildschirm blieb natürlich auch für Evanescence nutzbar, wurde von der Band aber nicht komplett verwendet, das Visualisierungskonzept sah hier vielmehr eine dreieckige Projektionsfläche vor. Mit Broken Pieces Shine vom aktuellen Album The Bitter Truth begann nun das große Finale in Frankfurt und Düsseldorf. Während die zahlreichen Bühnenaufbauten der Niederländer dem akustischen Gewand des Abends einige Schnörkel hinzugefügt hatten, war Evanescences  Plan deutlich simpler. Es ist vollkommen klar, dass es hier vor allem um die Weltklassesängerin Amy Lee im Mittelpunkt geht. Nichts soll visuell von ihrer Bühnenpräsenz ablenken, sie wird allerdings durch zahlreiche Lichtelemente und Scheinwerfer im wahrsten Sinne des Wortes ins rechte Licht gerückt und kann ungehindert strahlen und funkeln, auserwählt als Zentralgestirn des Abends.

Bereits bei den ersten Songs gab Amy alles, tigerte über die Bühne, lehnte sich immer wieder im Stehen zurück und sang dermaßen kraftvoll ins Mikrofon, dass man überrascht war, dieses nicht zerspringen zu sehen. Hier gab es kein langsames Anschleichen oder eine sanfte Steigerung. Hier gab es von Sekunde eins an eine Power, die ihresgleichen sucht. “It’s an honor to share the stage with Within Temptation for the very first time!”, erzählte die Sängerin. “Let’s take that shit to the next level!”. Die Band aus Arkansas hatte im Pandemie-Jahr 2021 ihr Album The Bitter Truth veröffentlicht und natürlich stand diese Tour auch im Zeichen der “bitteren Pille”. Als erster Song aus dem neuen Werk wurde Take Cover präsentiert, bevor es dann ruckartig auf Zeitreise ins Jahr 2003 ging. Wie so viele war auch ich mit dem Album Fallen zum Fan der Band geworden. Es gilt zurecht als Meilenstein und beinhaltet zahlreiche, zeitlose Meisterwerke wie das nun folgende: Going Under, das dem Jubel nach zu urteilen noch immer einen festen und unverrückbaren Platz im Herzen der Fans hat. Das Video zu dem Song war damals in Berlin entstanden, Amy zeigte so eine Beziehung zu Deutschland auf: “Millions of years ago we made history by filming this music video. It’s still alive!” Man darf im Übrigen nicht vergessen, dass die Fronterin auch an den Tasten eine große Begabung besitzt und nicht erst seit der Neuinterpretation vieler Songs auf Synthesis ist das symphonische Potenzial der Musik von Evanescence enthüllt worden. Wann immer Lee sich an das Keyboard begibt und dort genauso hingebungsvoll musiziert wie mit ihrer unvergleichlichen Stimme, kann man nochmal einen gehörigen Soundboost erwarten. Wir bekamen nun Wasted On You auf die Ohren. Der kraftvolle Song entfaltete in Frankfurt seine an sich negative Energie, aber die Band auf der Bühne wirkte wie ein riesiger Transformator, der die düsteren Erfahrungen, die im Text verarbeitet werden, in Stärke umwandelte.

Dass Evanescence sich durchaus Gedanken gemacht hatten, wie man das Konzerterlebnis noch auflockern und die knapp bemessene Zeit ordentlich ausnutzen kann, bewies die Formation mit dem Einspielen eines Medleys, bestehend aus Lose Control, Part of Me und Never Go Back. Für den letzteren Song fuhr ein Konzertflügel aus dem Bühnenboden herauf, da das Keyboard dieses Mal wohl nicht ausreichte, um die angemessene Stimmung zu erzeugen. Das Instrument blieb auch erst einmal oben und Amy spielte anschließend die Ballade Far From Heaven komplett allein im Scheinwerferlicht. Ohne den voluminösen Klang der Instrumente wirkte ihre Stimme so stark, dass sie durch die Seelen aller Anwesenden schnitt und praktisch im See aus Gefühlen badete, den sie im Publikum hervorgerufen hatte. Das steigerte sich auch noch einmal bei Your Star, das Lee zwar alleine am Klavier begann, allerdings zusammen mit ihrer Band und dem vollen Rocksound im Rücken beendete. Diese Wechseldusche der Gefühle brachte den Kreislauf aller Anwesenden ordentlich in Schwung. Das Klavier hatte seine Schuldigkeit getan und sich Amys Bombast ganz und gar hingegeben, es durfte vorerst in seinen Schlummer unter dem Bühnenboden zurückkehren, jetzt sicherlich um den ein oder anderen schönen Traum reicher. Apropos Traum… was passiert eigentlich, wenn Träume enden? Das kommt ganz darauf an, nicht wahr? Nach einem Alptraum steht die Erlösung des Erwachens. Doch wenn es ein schöner Traum ist, folgt dem unfreiwilligen Erwachen meist Verzweiflung und Bedauern. Der Text von End of the Dream ist in der Hinsicht uneindeutig, aber das Düstere überwiegt sicherlich. Amy hatte zwischenzeitlich gesagt “Don’t concentrate on making future plans. We might have no future” und hatte stattdessen dafür appelliert, mehr in der Gegenwart zu leben. End of the Dream ist ein technisch höchst anspruchsvolles Stück, dass sich jeder Karaoke-Darbietung entziehen dürfte. Warum? Weil im Refrain praktisch nicht geatmet werden darf. Somit kann nur jemand diesen Song singen, der nicht von so schnöden Ressourcen wie Sauerstoff abhängig ist.

Amy Lee scheint diese leidvolle Abhängigkeit längst abgeschüttelt zu haben und singt die langgezogenen Töne, die sich in ihrer Intensität sogar noch steigern, in einem Durchlauf, wie es scheint. Da kann man einfach nur staunen und sich wünschen, dass die Evolution mal einen Gang zulegt, und uns Sterblichen solche Kunststücke auch erlauben möge. Der Song wurde indes mit dem Intro in der Synthesis-Version gespielt, das stark verlangsamt und fast gar nicht instrumentiert ist, auch hier erfolgt eine Konzentration rein auf die Stimme. Danach aber leitete die Performance in das normale Tempo über und auch die Gitarren setzten ein. Ich kann mir nicht helfen: Bei der Stelle “…even without wings” und dem anschließenden Finale zerfließe ich jedes Mal förmlich und bin jedes Mal den Tränen nahe. Wie kann eine Frau gleichzeitig so stark und so verletzlich wirken? Die Stärke und das Überwinden von Schwächung und emotionaler Ausbeutung stand danach thematisch im Mittelpunkt, als die beiden Songs Better Without You und Call Me When You’re Sober gespielt wurden. “Everybody has an Ex this song could be aboaut, right?” Als der nächste Song angestimmt wurde, gab es sehr lauten Jubel, der bewies, dass viele hier schon sehr lange zur Fanbase von Evanescence zählen. Denn vor dem heute als Debutalbum geltenden Fallen hatte es schon einmal eine Platte gegeben, gewissermaßen ein Demo-Album (nach zwei EPs), die es aber damals nur in der Umgebung von Little Rock, Arkansas, zu erwerben gegeben hatte. Das Werk hört auf den Namen Origin und der Song Imaginary ist hier in der grauen Vorzeit beheimatet.

Genau wie Within Temptation sich zuvor gegen die Unterdrückung durch Religion und geistige Führer gestellt hatten, forderten die Amerikaner nun alle dazu auf, sich generell von Leuten zu emanzipieren, die sich anmaßen, in unserem Namen entscheiden zu wollen. “Don’t let  anybody speak for you!”, lautete die Botschaft. Der dazugehörige Song war natürlich Use My Voice. Auf dem Album hatten daran zahlreiche GastsängerInnen mitgewirkt, unter anderem auch Sharon den Adel, daher war es nur logisch, dass die Within Temptation-Sängerin nun auf die Bühne kam und der Performance noch ein wenig mehr Kraft verlieh. Man muss aber sagen, dass dieser wertvolle Gastauftritt hier eher verheizt wurde. In Düsseldorf konnte Amy Lee mit den Niederländern zusammen einen Großteil des Liedes The Reckoning performen, was als Duett einfach großartig wirkte. Sharon hingegen hatte bei Use My Voice nicht viel zu tun und wooooohote nur etwas ins Mikrofon. Schade. Ich hätte mir allgemein mehr “Worlds Collide” gewünscht, also mehr Gastauftritte der jeweils anderen Sängerin. Nach dem The Bitter Truth-Song Blind Belief war das Set fast zuende, aber natürlich fehlten noch zwei ganz wichtige Klassiker. Da nur einer davon eine Ballade ist, reichte schon das erneute Hochfahren des Konzertflügels aus dem Bühnenboden, um einen wahren Begeisterungssturm losbrechen zu lassen. My Immortal war natürlich auf Fallen enthalten, aber auch bereits auf dem eben erwähnten Vorgänger Origin. Man kann hier durchaus von einem emotionalen Höhepunkt sprechen, denn im Publikum glitzerte so manche Träne und Amy forderte die Leute auch auf, ihre Lichter herauszuholen und zu schwenken, was viele natürlich nur zu gern taten. Muss man zu Bring Me To Life noch etwas sagen? Der bekannteste Hit der Band musste zwar ohne die männlichen Passagen auskommen, aber Amy sang die Bridge wenigstens teilweise mit. Die Backgroundsängerin und Bassistin Emma, die in Frankfurt noch etwas blass blieb und erst in Düsseldorf deutlich zu hören war, hätte hier theoretisch ein weiteres Mal glänzen können. Doch sie wirkt generell eher introvertiert und hält sich im Hintergrund, während der Gesangspart bei  Bring Me To Life Souveränität erfordert. Nun ja, Jammern auf hohem Niveau nennt man das. Natürlich war der Abschlusssong so fantastisch wie das ganze, abwechslungsreiche Set.

Ich neige eigentlich nicht zu Übertreibungen, aber was die beiden Bands hier auf die Beine gestellt haben, war ein ganz besonderes Juwel im Gebinde dieses Jahres 2022. Die Tour hatte einen unheimlich langen Anlauf, aber der hat sich gelohnt, denn der darauf folgende Sprung war weltrekordverdächtig. Double-Headliner-Touren sind mittlerweile – aus der Not geboren – Gang und Gebe in der Szene, aber Within Temptation und Evanescence haben das Konzept bereits lange vorher geplant und egal was jetzt noch kommt, diese beiden Abende in Frankfurt und Düsseldorf werden vielen Anwesenden wohl auf ewig erhalten bleiben. Diese kraftvollen Erinnerungen werden in uns als Talisman noch lange nachglühen und uns Wärme im Laufe des Winters schenken.

Setlist EVANESCENCE (an beiden Abenden)

01. Broken Pieces Shine
02. Made of Stone
03. Take Cover
04. Going Under
05. Wasted on You
06. Love Control /Part of Me / Never Go Back
07. Far From Heaven
08. Your Star
09. End of the Dream (mit “Synthesis”-Intro)
10. Better Without You
11. Call Me When You´re Sober
12. Imaginary
13. Use My Voice (In Frankfurt(M)mit Sharon den Adel)
14. Blind Belief
15. My Immortal
16. Bring Me to Life

Weblinks EVANESCENCE:

Homepage: www.evanescence.com
Facebook: www.facebook.com/Evanescence

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