MAIFELD DERBY 2019 – Mannheim, Maimarktgelände (14.-16.06.2019)

Fotos: THE TWILIGHT SAD
The Twilight Sad, © Antoine Maraval
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Mit dem Ende des diesjährigen Maifeld Derbys beginnt für Fans des Mannheimer Indie-Festivals eine lange Durststrecke. Veranstalter und Organisator Timo Kumpf wird sein Baby ein Jahr ruhen lassen, um sich neu zu ordnen. Ob es 2021 weitergeht, steht in den Sternen. Auch das sicher ein Grund, warum im Juni 2019 vor den Bühnen im Palast- und Hüttenzelt sowie an Fackelbühne und Parcour d’Amour gefeiert wurde, als gäbe es kein Morgen. Das Maifeld-Publikum war wieder einmal so bunt gemischt wie es nur geht. Modisches Stilbewusstsein paarte sich mit Punk-Attitüde, Popconnoisseure nippten neben Metalheadz am Aperol Spritz, dazwischen gab es Familenpicknicks mit herumtollenden Kindern.

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Freitag, 14.06.2019

Bei unserer leicht verspäteten Ankunft am Freitagnachmittag haben wir den ersten Regenguss glücklicherweise verpasst und können so im Trockenen warten, da dem Festival unerwartet die Armbänder für Pressevertreter ausgegangen sind. So lauschen wir den verträumt arrangierten Klängen von Popentdeckung Novaa zunächst aus der Ferne und freuen uns kurz darauf vor der Bühne, wo ein bewegungsaffines Publikum mit der Berlinerin in den ersten Festivalabend schwoft. Novaa und Band gefallen mit einer lebendigen Bühnenpräsenz und bedanken sich aufrichtig über die positive Resonanz. Das Debutalbum Novaa ist im April erschienen.

Das vielversprechende Londer Duo Ider hat Groove mitgebracht, der allerdings eine Weile braucht, um in die Hintern der Besucher überzugehen. Anders bei Yin Yin, die im neuen Hüttenzelt auftreten, das eher an ein Bierzelt erinnert und wenig Atmosphäre versprüht. Bei der Show der Niederländer ist das zugegeben zweitrangig, da Yin Yin ihren von Westerngitarren getriebenen Funk zielsicher ins Publikum schießen. Ein wenig enttäuschend fällt die Lesung von Linus Volkmann aus, da seine vorgetragenen Anekdoten deutlich weniger unterhaltsam sind als sein musikjournalistisches Schaffen.

Ruppiger wird es mit Gurr aus Berlin, die punkigen Garage Rock spielen. Der Sound ballert, das Publikum geht mit, sodass die – nur bedingt überzeugenden – Anfeuerungsrufe der Sängerin eigentlich gar nicht nötig sind. Die ersten Sprechchöre gibt es bei den Australiern Parcels, auf die das Publikum offensichtlich sehnlichst gewartet hat. Das Palastzeit ist voll, es wackeln Hüften und Köpfe, die Zuschauer singen und schreien – laut und lang. Selbst die Band wirkt überrascht. Viel Bewegung ist parallel auch bei Odd Couple drin. Die Berliner Band zersägt die Luft mit ihren Gitarren und tischt Rock so dick wie Bratensauce auf. Vor der Bühne wird Pogo getanzt, einige Besucher verlieren sich in Trance. Andere zücken das Smartphone, um die Lautstärke zu messen: 84 Dezibel.

Wer die Elektropunks Sleaford Mods nicht kennt, reibt sich nun verwundert die Augen und spitzt die Ohren. Die hämmernden Beats kommt aus dem Laptop, hinter dem DJ Andrew Fearn mit einem Bierchen tanzt. Derweil kotzt sich Sänger/Rapper Jason Williamson im breitesten East Midlands Englisch die Seele aus dem Working-Class-Leib. Das sitzt! Weitaus freundlicher und bunter bestreiten Hot Chip um 23 Uhr ihre Headliner-Show, die weitaus weniger Publikum bindet als erwartet. Neben der neuen Single vom aktuellen Album A Bath Full of Ecstasy haben die Londoner auch ein saftiges Sabotage-Cover (Beastie Boys) auf der Setlist.

Kontrastprogramm gibt es mit Alcest, deren dunkler Sound leider dumpf und manchmal zu leise aus den Lautsprechern scheppert. Trotzdem freuen sich viele Headbanger und lassen die Nackenmuskeln spielen. Andere Zuschauer stehen einfach andächtig da, um den französischen Post-Metallern zu lauschen. Den ersten Festivaltag krönen HVOB. Mehrmach wurden Fotografen im Vorfeld gemahnt, keine Bilder des österreichischen Produzenten-Duos zu machen. Kein Problem, so bleibt mehr Zeit zum Tanzen.

Samstag, 15.06.2019

Nachdem der Freitag mit durchwachsenem Wetter unscheinbar blieb, scheint am Samstag die Sonne wie für den Sommer bestellt. Am Einlass gibt es heute keine Probleme, allerdings lassen die Sicherheitskontrollen zu wünschen übrig. Rücksäcke, Turnbeutel und Taschen werden teilweise nur flüchtig abgeklopft, manche Besucher einfach durchgewunken. Dafür muss ein Selfie-Stick abgegeben werden.

Noch nicht allzu viel los ist am frühen Nachmittag bei Anger aus Wien, deren Elektropop aber durchaus zahlreiche Tanzbeine schwingen lässt. Die Publikumsflucht hat einen Grund: Der vorab groß angekündigte Surprise Act hat sich als AnnenMayKantereit herausgestellt und das Maifeld scheint die Band zu lieben. Den Kürzeren ziehen dadurch die schwedischen Rocker von Les Big Byrd, die mit ihrem verspielten, post-punkigen Sound begeistern und mächtig abgehen. Die Zuschauermenge mag überschaubar sein, doch wer anwesend ist, rauscht sich mit der psychedelischen Band in Trance.

Im Anschluss gibt es wieder einemal einen dieser ungemein sympathischen Maifeld-Kontraste, als Rapperin Mavi Phoenix auf der Fackelbühne loslegt. Ihre poppigen Tracks haben inhaltliches Gewicht und sind sehr tanzbar, der inflationäre Gebrauch von Autotune müsste allerdings nicht sein. Auch die Ansagen zwischen den Liedern finden nicht immer ihr Ziel. Aber trotzdem: Die junge Österreicherin darf man sich merken. Die nächste fette Party steigt bei ihre Landsleuten von Cari Cari. Erklärtes Ziel der Band ist es, auf dem Soundtrack eines Films von Quentin Tarantino zu landen. Erreichen wollen sie das mit Westerngitarren, Didgeridoos und frechem Charme. Gut feiern lässt es sich ebenfalls bei den Niederländern von De Staat, die einen treibenden Mix aus Rock, Electro und Pop unters Volk grooven. Derweil wählt Rapperin Kate Tempest Substanz über Stil und erfreut ein riesiges Publikum.

Ausgerechnet The Twilight Sad haben an diesem Tag mit technischen Problemen zu kämpfen. Schon zu Beginn des Auftritts fummelt Frontmann James Graham an seinem Mikrofon herum und gestikuliert “Ich höre nichts“. Allerdings ist das Problem nur von kurzer Dauer und die Schotten, die erstmals auf deinem Festival in Deuschland spielen, legen souverän los. Gerade Graham hat ausgesprochen gute Laune. Er lächelt, scherzt zwischen den Lieder und erklärt das Einhorn zum schottischen Nationaltier, nachdem er einen entsprechenden Ballon im Publikum sieht.

Das Publikum scheint von den melancholischen Shoegazern beeindruckt, die vor der Bühne versammelten Fans sowieso. Sie bemerken zuerst, dass etwas nicht stimmt. Irgendwas fehlt. Das Keyboard ist ausgefallen und wird bis zum Ende der Show nicht mehr zu hören sein. Gleiches gilt für die sphärische Klanguntermalung vom Band. “Fuck Computers” kommentiert Graham. The Twilight Sad bauen während des Auftritts offenbar die Setlist um und verkürzen ihre Show um 20 Minuten. Bitter. Trotzdem fordert die Menge lautstark Zugabe und den meisten Zuhörern ist vielleicht gar nichts aufgefallen.

Der inoffizielle Tagesheadliner ist unübersehbar Von Wegen Lisbeth, die vor allem die jungen Festivalbesucher vor der Bühne des Palastzelts zusammenbringen. So voll war es noch nie. Vor allem die weiblichen Fans schreien sich die Freude aus dem Leib, das Zelt verwandelt sich in eine springende, glückliche Masse. Die wandert danach zu Balthazar an der Fackelbühne und das verdienen die belgischen Indierocker auch. Sie überzeugen mit einer guten Performance, für die letzte Open-Air-Band des Samstags wäre aber etwas mehr Action erfrischend gewesen.

Aber man muss ja nur wenige Meter ins Palastzelt wechseln, wo Headliner The Streets den Hexenkessel anrührt. Die Band beginnt mit dem Opener Turn the Page vom Debütalbum Original Pirate Material, womit Bandkopf Mike Skinner die Stimmung im Publikum direkt auf Megasause einstellt. Rap, tanzbare Rhythmen, nachdenkliche Gesangspassagen und Spoken-Word-Performance wechseln sich ab, wobei die Show durch letztere an Dynamik einbüßt. Skinner ist sehr gesprächig und geht auf das Publikum ein, hebt und senkt abwechselnd den Daumen, schaut fragend ins Publikum. “Habt ihr Spaß?” Eine rhetorische Frage.

Ihr habt Geld bezahlt, um uns zu sehen. Also habt Spaß. Lächelt! Dann kommt der Spaß, das ist Wissenschaft.” Erzählen muss er das hier niemandem. Immer wieder sucht Skinner den Kontakt zu den Fans, während er sich flaschenweise Blubber reinzieht und die erste Reihe mit Refills beglückt. Und er will noch mehr Action und fordert die weiblichen Fans zum Crowdsurfen auf. “You need to unlock the girls” sagt er immer wieder. Zum Ende der Show teilt er in bester Mosesmanier das Publikum und reitet auf einem geborgten Steckeneinhorn durch die Lücke in der Menge, die ihn im Anschluss zur Bühne zurückträgt. Alle flippen aus. Was kann jetzt noch kommen? Der Gassenhauer Fit But You Know It, den gefühlt jeder Anwesende auswendig kennt. Achievement unlocked.

Es ist bereits spät und die ersten Festivalbesucher kämpfen mit der Müdigkeit, als Raketkanon kurz nach Mitternacht wieder alle wach prügeln. Belgischer Noise-Rock mit doomigen Abgründen. Ganz toller Krach. Ruhiger und verträumter geht Steffen Linck aka Monolink ans Werk, was einige Besucher sichtlich enttäuscht. Vielleicht wurde ein ähnliche schnelles Set erwartet, wie es HVOB am Vortag gespielt haben. Getanzt wird trotzdem überall, denn die Soundmelange aus Gitarre, House, Livekeys und Schlagzeug geht gut in den Körper.

Sonntag, 16. Juni 2019

Der Sonntag hält, was er verspricht und lädt bei Traumwetter zunächst zum chilligen Indie-Rock von Stephen Malkmus & The Jicks ein. “Punk like a Skunk” nennt die Band ihren Stil selbst. Frontman Stephen Malkmus sang und schrieb einmal für Pavement. Gespannt waren wir auf Ava Luna, die mit “verschwurbeltre Elektronik, messerscharfne Gitarrensalven und einer Liveshow ohne Tabus” angekündigt wurden. Viel davon gab es allerdings nicht. Und dann Prom Night am Nachmittag mit Teenage Fanclub. Die schottischen Pop-Rocker versetzten das Maifeld zurück in die 90er und liefern den Soundtrack für den ewigen Teen Movie. Viele Bandshirts verraten, dass die Band aus älteren Herren noch nicht zum alten Eisen gehört. Teenage sicher nicht mehr, aber der Fanclub ist noch da.

Den ersten Tageshöhepunkt erreichen Madrugada mit einem perfekten Best-Of-Auftritt. Ihr letztes Album liegt über zehn Jahre zurück, 2018 kündigte die Band an, wieder einige Konzerte zu spielen. Das Maifeld bereichern die Norweger mit bluesigem Düsterrock, den das Publikum lautstark feiert. Auch Madrugada hat es gefallen. Mit Tocotronic ist das nächste Veteranentreffen auf dem Maifeld angesagt. Die Hamburger scharen ein großes Publikum um sich, müssen es jedoch erst eingrooven. Es braucht die Sprechchöre von Aber hier leben, nein danke, um die Menge zu mobilisieren. Wer die Band gleichgültig beobachtet, wippt jetzt zumindest mit dem Fuß.

Den zweite Tageshöhepunkt verbucht ein anderer Künstler: JNR Williams. Der Engländer aus dem London Borough of Hackney besticht mit traumhafter Stimme und emotionalen, intimen Texten, die er in souligen Pop verpackt. Zusammen verzaubern er und seine Band das Maifeld am Parcour d’Amour, eine bestuhlte Bühne. Beim letzten Lied stehen plötzlich alle schlagartig auf und JNR Williams ist genaus ergriffen wie sein Publikum. Gänsehaut!

Zeit für Sonntagsheadliner Faber, der vor Jahren als aufstrebender Nachwuchskünstler ebenfalls auf dem Parcour d’Amour gespielt hat. Heute tritt er im großen Palastzelt auf, das so voll ist wie selten an diesem Festivalwochenende. Die begeisterten Sprechchöre der Fans konkurrieren mit der Musik, zu der das ganze Zelt unentwegt tanzt und ausflippt. “Ich hoffe, dass das Maifeld wieder kommt“, sagt der Schweizer Singer-Songwriter zum Abschluss und spricht aus, was alle denken. Derweil schicken auf den anderen beiden Bühnen Wyvern Lingo ihre Zuschauer mit gemütlichem Pop nach Hause und Amyl and the Sniffers dreschen mit einer energiegelandenen Punk-Rock-Show noch einmal alles aus den Besuchern heraus. Als alles vorbei ist und die letzten Festivalgänger noch ein Abschiedsbierchen trinken, steht Festivalchef Timo Kumpf alleine im Dunklen vor der Hauptbühne. Was er wohl gedacht hat?

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