Einige Tage vor dem Festival meldeten die Veranstalter des Beautiful Noise Festival “ausverkauft” – eine wahrhaftig gute Nachricht in Zeiten schlechter Vorverkäufe und damit einhergehenden Tourabsagen, gerade bei Bands, die keine Arenen füllen. So ging die fünfte Fassung des Musikevents im Siegener Club Vortex Surfer, das musikalisch gänzlich unterschiedlichen Acts mit Frontfrau(en) zwischen Wave, (Post-)Punk und Electro eine Bühne bietet, vor dem Maximum von rund 200 Leuten vonstatten. Mollig warm wurde es entsprechend drinnen – irgendwie aber auch gut so, war es doch der kälteste Tag des Kalenderjahres, in der Nacht sank die Temperatur vor Ort auf stattliche minus fünf Grad.
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Nach einer Portion Tortellini Alla Panna mit leider sehr laffer Käsesoße beim Italiener nebenan und dem Vorzeigen eines negativen Corona-Tests – ja, das gibt’s hier und da noch, auch wenn man über den Sinn dieser Maßnahme in Zeiten dominanter Influenza- und RS-Viren sicher streiten kann – begann der Abend mit Delta Komplex. Die nutzten die Chance, ihr Debütalbum Veils vorzustellen, in formidabler Manier. Musikalisch bedient das Trio aus Darmstadt vorrangig den tiefschwarz gekleideten Teil des (sehr heterogenen) Publikums, dezent pumpende Beats treffen auf Dark-Wave-Harmonien und die Stimme von Sängerin Minu-Schirin, die genre-typisch zwischen ausdrucksstark, klagend und ein wenig entrückt klingt. Das Ganze ergab mit dem überaus sparsam eingesetzten Bühnenlicht ein stimmiges Gesamtbild. In einer Szene, in der Acts wie Lebanon Hanover, She Past Away oder Whispering Sons sich immer größerer Beliebtheit erfreuen, dürften die erst im Winter 2019 gegründeten Delta Komplex in den kommenden Jahren ihren Platz finden – wer die genannten Acts mag, sollte den Songs auf Veils eine Chance geben. Den Besucherinnen und Besuchern gefiel der Auftritt jedenfalls so gut, dass direkt mal eine Zugabe eingefordert wurde. Bei einem Opening Act auf einem bis in die Nacht dauernden Festival sicher nicht selbstverständlich. Dem Wunsch entsprach die Band natürlich gerne. Im Anschluss gab es noch die Möglichkeit zum Plausch am Merch – eine runde Sache. Musik hier: https://deltakomplex.bandcamp.com/
Ganz woanders sind Gwen Dolyn & Toyboys musikalisch unterwegs. Post-Punk trifft auf Grunge und ungefilterte Emotion. Wenige Tage vor dem Event wurde ein Auftritt der Gruppe in Jena für den 19. November abgesagt. Da allerdings die fürs Beautiful Noise ursprünglich gebuchten Totenwald wegen eines familiären Notfalls bei einem Mitglied kurzfristig canceln mussten, durfte das Quintett an diesem Samstagabend doch auf die Bühne, tat dies gar ohne vollwertigen Soundcheck, der kurzerhand direkt vor die Performance gelegt wurde. Und auch die Tatsache, dass leider mehrfach ein Monitor abrauchte und ein paar Geräusche abwarf, die Autoren von Disneys Lustigen Taschenbüchern mit “Spotz!”, “Spuck!”, “Röchel!” oder “Puff!” beschreiben würden, tat der positiven Stimmung im Raum kaum einen Abbruch. Dafür sorgten auch die sympathischen Ansagen der Sängerin, die in und zwischen den Songs tiefe Einblicke in ihr Seelenleben und unschöne Erlebnisse aus der Vergangenheit gab. Die dienen nun als Antriebsfeder für Songs wie Hände, getrocknet, bei dem Zeilen wie “Ich will, dass du mich magst” unweigerlich im Kopf bleiben. Veröffentlicht wurde dieses Stück wie auch einige andere der gespielten auf dem Album Gwen Dolyn. Ach ja: Das mit dem Mögen hat, den Publikumsreaktionen nach zu urteilen, übrigens geklappt. Musik hier: https://gwen-dolyn.bandcamp.com/album/gwen-dolyn
Es folgte ein weiterer recht radikaler Stilwechsel. Rue Oberkampf mischen EBM, Dark/Cold Wave sowie Electroclash und machten zunächst 2018 mit der EP Waveclash auf sich aufmerksam, wurden nach der Veröffentlichung des Debütalbums Christophe-Philippe leider von der Pandemie ausgebremst und erhalten seit dem Erscheinen der zweiten LP Liebe Anfang dieses Jahres nach und nach mehr (wohlverdiente) Anerkennung. Kürzlich absolvierte das Trio aus München und Passau gar einen Auftritt im portugiesischen Leiria – durchaus ungewöhnlich für eine verhältnismäßig unbekannte deutsche Schwarze-Szene-Band. In Siegen verwandelten Rue Oberkampf den Club in eine kleine Rave-Hölle – im positiven Sinne. Zur passend spartanisch eingesetzten dunkelbunten Belichtung, die laut Sängerin Julia sogar von einem Hersteller aus der Stadt kommt, hämmerte ein Hit nach dem nächsten aus den Boxen. Ob zu La Course, Negativraum, Kalt, Control oder Es versucht – immer mehr Gäste tanzten sich komplett in Ekstase. Kein Wunder, dass sich nach einer guten Dreiviertelstunde lautstarker Jubel mit “Zugabe”-Rufen vermischte. Dem Wunsch kam das Trio gerne nach und lieferte mit Agitation noch einen Song der Debüt-EP als krönenden Abschluss. Schade, dass mit Never Stop To Dance vielleicht DER potenzielle Dancefloor-Feger im Set fehlte, doch ein wenig Luft nach oben muss für kommende Gigs, zum Beispiel beim Amphi Festival 2023, ja auch noch bleiben. Wer Punks, Nachtschattengewächse im schwarzen Ledermantel, Bandshirt tragende Fans der nachfolgenden Toten Crackhuren im Kofferraum und selbst einen Typen im blauen Trailerpark-Hoodie (!!!) gleichzeitig zum Ausflippen bringt, kann sich jedenfalls einiges darauf einbilden. Musik hier: https://rueoberkampf.bandcamp.com/
Eben besagter Fan im Pullover der für unangenehm infantile Pseudo-Provokation bekannten Deutschrap-Crew sollte später nochmal im Mittelpunkt stehen. Allerdings wohl nicht so, wie er es sich vielleicht gewünscht hätte. Denn wer ein Konzert von The Toten Crackhuren im Kofferraum besucht, sollte sich ganz genau überlegen, was er reinruft, wenn Sängerin, Songschreiberin und Taubenschützerin Lulu danach fragt, was denn das weite Rund von ihren gefiederten Freunden hält. Den lautstark geäußerten Ausruf “Die kommen alle in den Häcksler!” hätte sich besagter Trailerpark-Anhänger vielleicht besser gespart – die Reaktion von der Bühne war nämlich eine unmissverständliche Aufforderung, sich zu “verpissen“.
Abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall war auch bei den Headlinerinnen des Abends absolute Partystimmung angesagt, wenngleich die Performance sich kaum mehr von der Rue Oberkampfs hätte unterscheiden können. Während das bayerische Trio abseits stampfender Beats und rollender Basslines auf Zurückhaltung in der Bühnenkommunikation setzt, ging es bei den Berlinerinnen wie gewohnt überaus politisch, meinungsstark und verbal kompromisslos zu. Den Frust gegenüber Behörden (Jobcenterfotzen), Dreibeinern, die Ex-Freund sind (Ronny und Clyde), der Bundespolitik (Ich brauch keine Wohnung) und Dreibeinern, die kein Ex-Freund sind (Bau mir ‘nen Schrank) konnten wohl viele im Publikum nachvollziehen, die Texte wurden jedenfalls lautstark mitgesungen. Zur vorgerückter Stunde, mittlerweile war es schon fast ein Uhr nachts, gab es noch ein klares Statement in Richtung Iran – zwei Gästinnen erklärten sich spontan bereit, das Banner (siehe Bild) bis zum Auftrittsende hochzuhalten, Chapeau dafür! – und letztlich lautstarke Forderungen nach DEM Hit der Bandgeschichte. Natürlich erklang dann noch Ich und mein Pony, insgesamt der mit Abstand populärste Song, der an diesem Abend im Vortex Surfer dargeboten wurde. Nach dem abschließenden Punkrock hat mir das Herz gebrochen hieß es “Tschüss und auf Wiedersehen” – die Crackhuren feierten einen absolut gelungenen Abschluss ihrer Tournee zum vierten Album Gefühle. Musik u.a. hier: https://bakraufarfitarecords.bandcamp.com/album/the-toten-crackhuren-im-kofferraum-gef-hle
Wer wollte, konnte bei der anschließenden Aftershowparty noch weitere Stunden das Tanzbein zu eher dunkleren Sounds schwingen – oder sich schon mal ein vergünstigtes Early-Bird-Ticket für die nächste Ausgabe des Beautiful Noise Festival an Ort und Stelle sichern. Am 13. Mai 2023 reisen Rosegarden Funeral Party, VV And The Void, Suir und Gloria de Oliveira nach Siegen, Karten gibt’s hier, weitere Infos u.a. hier.