Vom Suchen und/
Heimat und Familie sind wie Organe, derer man sich nicht entledigen kann, ohne sich selbst zu schädigen.
Bernemann (2021) S. 100
Im ersten Teil des Interviews brannte mir die Frage unter den Nägeln, was es so interessant gestaltet, denn abgegriffenen Begriff wieder hervorzuholen. Jetzt gucken wir weiter, welche Impulse im Diskurs noch gebraucht werden, immer vor dem Hintergrund des wortgewandten Kunststücks Schützenfest von Dirk Bernemann.
Interview Teil 2: Tage der Zumutung
Claudia: Auf Grund der Spontanität der Situation, bin ich natürlich enorm schlecht vorbereitet. Daher starten wir doch damit, dass Du kurz davon erzählst, worum es in dem Buch geht?
Dirk: Ich würde sagen, es ist ein im positivisten Sinne, ein Provinz-Heimatroman. Komisches Wort, dass ich mir dafür ausgedacht habe. Größtenteils spielt es in einem ausgedachten Ort im Münsterland. Die Region gibt es, aber den den Ort gibt es nicht und es gibt auch spezielle Verhaltensmuster und Riten in der Region, die ich in dem Roman erfasst habe. Letztendlich ist es ein Homecomingroman, bei dem ein Typ, der jetzt in der Großstadt wohnt, in sein Geburtsdorf fährt, so ein 8000-Menschen-Dorf. Er fühlt sich intellektuell ein bisschen weiter als diese Menschen, wird dann aber durch Zufälle doch in das Schützenfest hineingezogen und ist dann ein, zwei, drei Tage dort präsent. Im Rahmen dieses Volksfestes wird er mit allen Problemen konfrontiert, die er noch nicht gelöst hat, die aber an seinen Ort der Geburt und des Aufwachsens entstanden sind. Das ist der Einstieg der Geschichte. Es kommen viele Fragmente vor, die ich für mich noch ordnen muss. Es gibt keine Kernaussage, finde ich, was gut oder schlecht sei. Es gibt haufenweise Eindrücke, bei denen die Leserschaft selber entscheiden kann, wie man es beurteilt.
C: Gibt es mehrere Heimaten? Was ist der Plural von Heimat? Zwei Einheiten von Heimat?
D: Heimaten ist schon das gebräuchliche Wort. Ich glaube, man kennt diesen Plural nicht so, weil der Mensch nur eine Heimat für sich definiert hat. Für mich ist es aber eher ein Gefühl, als ein geografischer Ort, an dem ich mich wohl und geschützt empfinde. Obwohl ich nicht konkret sagen kann, wie sich Heimat anfühlt. Es ist etwas, wo ich mich mit meinen Gewohnheiten ausleben kann, ohne Stress zu kriegen, schief angeschaut oder kritisiert zu werden.
C: Safe Space?
D: In gewisser Weise ein Safe Space, genau. Viele definieren auch ihre eigene Wohnung als Safe Space und verlassen ihren Safe Space, wenn sie sich mit anderen Menschen konfrontieren wollen. In dem Buch geht es häufig um den gesamten Kosmos des Dorfes, das ein bisschen größer gefasst ist. Also, ich glaube es gibt ein Heimatgefühl, das auf verschiedene Orte oder Gegebenheiten zutreffen kann. Heimat ist das Gefühl von Safe Space, kann aber auf verschiedene Gegebenheiten angewandt werden, beispielsweise wenn ich auf ein Festival fahre, zu Hause sitze und mich gehen lassen kann, da wo es meisten möglich ist, man selbst zu sein. Das ist die Heimat. Man kann es mit vielen Orten versuchen und schauen, wie man mit den Begrenzungen umgeht, die einem zu teil werden.
C: Kann man auch ohne Heimat sein?
D: Wir haben Heimat noch gar nicht hinreichend definiert. Wenn ich von dem Gefühl sage: Ok, das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, nicht-vorhandener-Willkür sozusagen, würde ich sagen, dass jeder eine Vorstellung davon hat. Es ist nicht immer für jeden machbar, aber jeder hat eine Vorstellung davon, wo und wie das sein könnte, wenn Heimat stattfindet. Viele vermeiden das Wort auch, weil es zu sehr nach festlegen klingt, nach einem Ort, einer Situation von festlegen. Der Mensch neigt dazu //
C: Der moderne Mensch!
D: Genau, der moderne Mensch neigt dazu, sich nicht festlegen zu wollen. Deswegen flieht der Protagonist auch vor der Konkretheit dieses Begriffs, versteckt sich vielleicht sogar davor, weil er denkt, es sei nichts Gutes, sich festzulegen. In meinen Augen ist es gut, wenigstens das Gefühl für sich definiert zu haben. Man kommt näher an den Punkt, wo man es findet. Es ist immer ein Weg der Erkenntnis, wie im Buch von Gunnar Bäumer zurückgelegt wird. Er würde es nicht so nennen, aber er geht einen speziellen Weg mit einer Vergangenheit, befindet sich in einer speziellen Gegenwart und hat noch keine Vision von seiner Zukunft – und auf diesen Weg schicke ich ihn gerade.
Folgenlose Innerlichkeit
C: Gibt es Themen, die er in der Heimat bewusst auslässt, wenn er in der Provinz ist?
D: Die Provinz an sich lässt schon viele Themen aus. Gunnar Bäumer stellt sich allem, mit dem er konfrontiert ist. Es gibt ein Trauma, dem er sich zu stellen hat – da will ich aber nicht vorgreifen. Es gibt Dinge, die er während der Zeit, die er in der Provinz verbracht hat, nicht erledigt hat. Vielleicht ist das Buch auch ein Hinweis, sich um Dinge zu kümmern, wenn sie vor einen stehen. Meine Rolle als Autor ist dabei, das Problem zu schildern, jetzt könnt ihr selber gucken, wir ihr das Problem löst. Ich weiß nicht, ob Leser oder Leserinnen von mir auch solche Schwierigkeiten haben – keine Ahnung, ich wollte mich den Dingen einfach ein bisschen nähern. Ich bin sehr gespannt auf die Resonanz zum Roman, generell. Ist schon anders als meine Kurzgeschichtensachen oder die anderen Romane, weil ich das Thema nie so krass und eng fokussiert beleuchtet habe. Selbstfindung und insbesondere Suche waren schon immer Themen bei mir, Konfrontation mit vermeintlichen Übel.
C: Leben halt.
D: Genau, das wäre der Wikipedia-Eintrag zu “Leben”: Konfrontation mit vermeintlichen Übel. Das kam schon öfter vor, habe ich jetzt aber in engeren thematischen Fokus gezogen. Es sind viele Themen damit verbunden, das zentrale Thema ist vielleicht „Zurückkommen“ aber es gibt mindestens zwanzig, dreißig Nebenthemen, die ich zusätzlich aufmache: Familienleben, Partnerschaft, Arbeit, Traditionen – wie stelle ich mich dazu? Wie habe ich das früher gesehen, wie nehme ich das heute wahr? Was hat sich verändert? Was müsste sich verändern? Sehr viele Gedankenspiele, die mit Heimat und dem vermeintlichen Begriff von Heimat zutun haben. Auch Werte und Einstellungen, mit welchen Werten man erzogen wurde, was man heute noch in sich trägt. Das ist erstaunlich viel, finde ich. Ich bin Pädagoge, daher weiß ich, dass die ersten Lebensjahre sehr entscheidend sind, was man mitbekommt, mit wem man auf welche Art spricht, das prägt dich für dein ganzes Leben. Das wird man nicht mehr los. In den ersten Jahren der Erziehung hast du nicht viel mitzureden, es wird einfach über dich gestülpt. Du musst es so passieren lassen, die Konsequenzen werden erst klar, wenn du 13 oder 14 bist, dich mit älteren Leuten über das Leben unterhältst oder andere Erfahrungen machst, die dir den Kosmos oder der Kontext deiner Erziehung nicht ermöglicht haben. Aber die kommen – dann bist du bestenfalls darauf vorbereitet und im schlimmsten Fall eben nicht.
C: Die Personen, die die ganze Zeit auf dem Dorf bleiben, nutzen dabei einen ganz anderen Vergleichsrahmen, andere Werte und Einstellungen, als sie nutzen würden, würden sie in der Großstadt leben.
D: Genau, aber ohne, dass man sagen könne, was besser oder schlechter sei. Ich kenne das beste aus beiden Welten, weil ich in Berlin wohne und davor etwas provinzieller gelebt habe – nicht nur in einem Dorf, ich habe in verschiedene Dörfern und Kleinstädten in der Region gewohnt. Es war allerdings die Region, die speziell ist, was die emotionale Grundausrüstung betrifft. Ich bin auch gespannt auf die Rückmeldungen von Gleichaltrigen, die mit mir zur Schule gegangen sind und so.
C: Hat sich dort etwas geändert?
D: Wenn ich dorthin zurückkomme, eher nicht, wie ich finde. Es wird immer noch weitervererbt, weitergegeben und häufig auch unbewusst. Was ich an Pädagogik mitbekommen habe, ist, dass meine Eltern, Kinder von Eltern sind, die im Krieg waren. Diese Traumageschichten, die erlebt wurden, ohne darüber zu sprechen, wurden irgendwie an meine Eltern weitergegeben und ich habe eine gefilterte Version ebenso mitbekommen. Soweit bin ich gar nicht davon weg. Das wird weitergefunkt und es bleibt unvermeidbar, dass man Teile davon in sich trägt. Traumata werden weitervererbt, selbst wenn man sich darum kümmert, dass es nicht so ist oder adäquat versucht, es auszuschalten.
Impulse zum Abschweifen
C: Hast Du Eribon oder Lagarce gelesen?
D: Eribon schon. Ähnliches Thema! Was hat sich verändert, in der Zeit, in der ich weg war? Wie haben sich Einstellungen verändert? Warum sind einige plötzlich nationaler, patriotischer geworden? Warum habe ich das früher nie so registriert oder war das nicht vorhanden? Mein Buch ist dabei nicht so politisch zu sehen, zumindest habe ich es mir nicht bewusst vorgenommen. Ich finde, dass das Gesamtbild nur gut sein kann, wenn man verschiedene Perspektiven einbezieht, die Haltungen der verschiedenen Personen. Beispielsweise bei den Brüdern, die sich die Fresse einhauen gab es früher und gibt es heute. Die Frage ist, wieso sich die Unzufriedenheit bei den Leuten nicht geändert hat? Warum ist so zum Ritual geworden? Warum sind überhaupt Dinge zum Ritual geworden, die aus meiner Sicht nicht gut sind?
Ich habe auch lange gebraucht, um mich vom Katholizismus zu entfernen. Sowohl in der Familie als auch in der Schule war Gott eine Instanz die super krass gewürdigt wurde. Das ist aus heutiger Sicht natürlich ein Problem. Der Input von meiner Erziehung lässt mich heute noch hinterfragen, ob es diese Instanz nicht doch gäbe, auch wenn ich weiß, dass die Wissenschaft dagegen spricht. Es ist super creepy, was Erziehung mit Menschen macht – sich daraus zu winden, ist wirklich schwer. Beispielsweise bringt man kleinen Kindern bei, wie sinnvoll es sei, aufs Klo zu gehen. Wie schwierig ist es dann, als erwachsener Mensch, sich bewusst in die Hose zu pullern. Man muss gegen die innere Blockade ankämpfen. Wenn das nicht zum guten Ton gehören würde, wir das nicht gelernt bekommen hätte, würden wir das noch heute tun.
Das Schamgefühl im Freibad, in der Jungsumkleide, den geduschten Pfarrer zu sehen, der sich gerade vor einem umzieht, weil er auch baden war, war sehr strange. Diese Normalität, diesen Typen als Mann zu sehen – der katholische Mensch besteht ja nur bis hier. Autor deutet auf seinen Unterleib. Er war kein normaler Mensch, alles Sexuelle war mega verpöhnt, der Mensch hatte keine körperliche Lust zu empfinden. Wenn doch, dann nur innerhalb einer Ehe. Außerdem ist es die Person, die auf der Kanzel steht und zahlreiche Leute von unten allem mit ja und amen entgegnen, wortwörtlich.
Es ist ein fasriges Interview, vielleicht musst Du es später ordnen.
Das habe ich getan! Aber Dirk hat total frei und angenehm von allem Interessanten berichtet, sodass ich gar nicht zu viel Veränderungen vornehmen wollte (danke Dir!). Im weiteren Verlauf des Nachmittags sind wir ohnehin irgendwann gedriftet in Richtung Ereignisberichte zur Coronasituation, damals und heute, der Erziehung in Zeiten von Kapitalismus, Wettbewerbsdenken und kollektiven Umsturzträumen, aber eh alles zu weit führt, lohnt sich erstmal Schützenfest von Dirk Bernemann zu lesen. Das nächste Kunstprojekt und Interviewraum kommt bestimmt! Übrigens: Für den ersten Teil lohnt es sich hier vorbeizuschauen.
Weblinks DIRK BERNEMANN
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