Sie fühlen sich scheinbar sehr wohl im Kulttempel, die Herren Leeb und Fulber. Bereits zum dritten Mal innerhalb von zweieinhalb Jahren spielten Front Line Assembly im Oberhausener Kulttempel. 2022 noch zusammen mit den Krupps, gab es nach dem Auftritt im Mai 2023 nun erneut eine Soloshow, obwohl nicht mal neue Musik veröffentlicht wurde. Zumindest nicht unter dem FLA-Banner, Bill Leeb begeisterte weite Teile der Szene in der Zwischenzeit mit seinem gelungenen Soloalbum Model Kollapse – davon schaffen es bei Konzerten mit Front Line Assembly aber keine Stücke ins Set. Stattdessen stand die kleine Europa-Tournee mit sechs Clubkonzerten und zwei Festivalauftritten (einer davon beim Plage Noire am Weissenhäuser Strand) ganz im Zeichen der Vergangenheit und hielt zwei dicke Setlist-Überraschungen parat.
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Doch zunächst gab es noch Musik aus anderen Genres zu hören. Einen klaren Kontrapunkt zu den energisch stampfenden EBM- und Post-Industrial-Sounds des Hauptacts setzten The Halo Trees. Wobei die Band um Sänger und Gitarrist Sascha Blach (bekannt auch von Eden weint im Grab) sich für die FLA-Supportshows ein spezielles Set zurechtgelegt hat. Eigentlich steht die Gruppe für melancholischen Rock, inspiriert von Künstlern wie Nick Cave, The National oder Mark Lanegan. Rechtzeitig zur Tour erschien jedoch das Album Electric Mirror, mit älteren Songs, die neu in deutlich elektronischerem Gewand aufgenommen wurden. Live präsentierten Blach und Violinist Georges-Emmanuel Schneider die Stücke zu zweit. Und waren dabei räumlich etwas eingeengt, da bereits das Instrumentarium für FLA, die nachfolgende One-Woman-Show von I Ya Toyah sowie ein Beamer mit Leinwand für Hintergrundprojektionen aufgebaut respektive genutzt wurde.
“Manch einer kennt uns vielleicht als Rockband, für diese Tour haben wir uns aber etwas Besonderes einfallen lassen. Dieses Programm ist eine Premiere“, erklärte Blach recht früh im Set das Konzept. Präsentiert wurden schöne Songs wie Happy Man oder das abschließende Bullet For Peace mit ohrenschmeichelnder Stimme, manchmal etwas tanzbarer, manchmal sehr ruhig, sicherlich eine Herausforderung für nicht wenige im Publikum, weswegen es in den vorderen Reihen leider noch recht luftig blieb. Die Body-Music-Hardliner werden The Halo Trees eher nicht gepackt haben, handwerklich gab es an dem Auftritt, der mit höflichem Applaus bedacht wurde, aber sicher nichts zu meckern.
Ein für fast alle Anwesenden völlig unbeschriebenes Blatt ist Ania Tarnowska, die seit 2017 unter dem Pseudonym I Ya Toyah Musik macht. Prognose: Das würde sich mit steigender Präsenz auf den hiesigen Festivals à la Amphi, WGT oder Mera Luna schnell ändern. Die vor einigen Jahren nach Chicago ausgewanderte Polin bringt nämlich soweit alles mit, was es für eine große Karriere braucht: Eine ausdrucksstarke, wandelbare Stimme, abwechslungsreiche Instrumentals zwischen Synthpop und hämmerndem Industrial Metal, professionelle Bühnenpräsenz und einen Look mit Wiedererkennungswert. Die Künstlerin mit dem markanten Iro scheint zudem über einen Sinn für Details zu verfügen: Einen längeren Mikrofongriff im Steampunk-Look besitzt wahrlich nicht jede/r. Gelungen darüber hinaus: Das Depeche Mode-Cover It’s No Good.
Zwischen den Songs, größtenteils von der aktuellen EP I Am The Fire, gab es dann noch charmante Ansagen. Sie sprach von einem “wonderful place” (das hört man als Ruhrgebietler doch eher selten, umso schöner war es) und davon, wie viel Spaß sie am Off-Day am vorigen Samstag in der “Mall” hatte – unschwer zu erraten, dass sie das nur zwei Bushaltestellen vom Kulttempel entfernt liegende Centro meinte. Ebenfalls charmant: Die zum Ende auf der Leinwand eingeblendete “Nachricht” ihrer Katze (“Please buy some merch so my mommy can feed me“). Nach ihrem mit 30 Minuten eigentlich schon zu kurzem Auftritt kam Ania zügig zum Merch, wo sie unter anderem eigens designte Lippenstifte verkaufte – auch mal eine Idee! Nur einen Wermutstropfen müssen wir festhalten: Der verlangte Preis von 45 Euro für ein Shirt war schlichtweg eine Unverschämtheit. Das lässt sich auch nicht durch Zollgebühren oder Ähnliches erklären.
Zum Vergleich: Front Line Assembly, aus dem Nachbarland Kanada angereist, verlangten für ihr Stück Stoff 30 Euro. Doch nun zur Performance: Bill Leeb und Rhys Fulber wurden auf dieser Tour einmal mehr an den Drums von Eli van Vegas (Zweite Jugend) unterstützt, an den Tasten verdingte sich diesmal Joey Blush, Eingeweihten durch sein Soloprojekt Blush Response bekannt. Und was soll man sagen? Mehr Retro geht kaum! FLA verbannten Songs ihrer aktuellsten Alben Wake Up The Coma und Mechanical Soul komplett aus der Setlist. Aber sind wir mal ehrlich: Insbesondere Letzteres geht nicht gerade als Highlight in die Bandgeschichte ein, im Gegensatz zu Tactical Neural Implant. Nach dem Anthrocross-Intro ging es mit dem Opener der Kult-LP von 1992 in die Vollen: Auf Final Impact folgte Neologic Spasm, bei dem Leeb gewaltig aus dem Takt kam – das passiert ihm in den vergangenen Jahren leider immer mal wieder.
Hier und da waren Fans in der jüngeren Vergangenheit mit den Live-Performances von FLA nicht wirklich zufrieden – eben wegen solcher Fehler und dem wiederkehrenden Anschein, dass es insbesondere Leeb an Motivation mangelt. In Oberhausen war dem definitiv nicht so, nach dem Faux Pas bei Neologic Spasm wurde die Show zu einer echt runden Sache. Der in Wien aufgewachsene Frontmann wandte sich immer mal wieder in kurzen deutschen Sätzen ans Publikum. Den aufkeimenden Jubel kommentierte er mit einem “Das haben wir gern“, vor dem cyberpunkigen Evergreen Plasticity fragte er “Geht das jetzt hier ab oder was?” Jep, ging es. Es bildete sich ein kleiner, aber feiner Moshpit. Schon vorher hatte das Quartett mit Digital Tension Dementia von der 1989er-Gashed Senses And Crossfire überrascht – der Song war seit Anfang der 90er-Jahre so gut wie gar nicht mehr in Live-Sets zu finden.
Und sonst? Viel Nebel, viel atmosphärisches dunkelbuntes Licht, viel Getrommel und viele unkaputtbare Klassiker der Güteklasse Resist, Bio-Mechanic oder Gun. Auch die Dubstep-beeinflussten Killing Grounds und Deadened sind längst kaum verzichtbare Standards geworden. Auffällig der Elan von Keyboarder Joey, der mehrfach auf sein Keyboard stieg, um das Publikum weiter anzuheizen, stellenweise sah das schon etwas waghalsig aus. Gegen Ende des rund 75-minütigen Gigs erklangen dann noch zwei Songs, die verschiedener kaum sein könnten. Das eher balladeske Blood, bei dem die Bühne passend in knallrotes Licht getaucht wurde, kam für das bei den vorherigen Shows der Tour gespielte I.E.D. ins Set. Joa, und dann beendete eine Body-Music-Abrissbirne den Abend, mit der wohl nur die Wenigsten gerechnet hätten. Nach fast 30 Jahren (man erinnere sich an das Konzertalbum Live Wired von 1996) holten Front Line Assembly mit Body Count einen ihrer allerersten Szene-Clubhits zurück auf die Bühne – und der hat wahrlich nichts von seiner Power verloren. Ein Fest für alle alten EBM-Haudegen, von denen nicht wenige an diesem Abend den Weg in den Kulttempel fanden. So konnten dann doch wohl alle glücklich und zufrieden den Heimweg antreten. Mal sehen, wie lange es dauert, bis FLA wieder im Kulttempel aufschlagen …
Setlist FRONT LINE ASSEMBLY @ Oberhausen, Turbinenhalle (01.12.2024)
01. Anthrocross
02. Final Impact
03. Neologic Spasm
04. Shifting Through The Lens
05. Digital Tension Dementia
06. Plasticity
07. Bio-Mechanic
08. Killing Grounds
09. Resist
10. Deadened
11. Gun
12. Mindphaser
13. Blood (Z)
14. Body Count (Z)
Weblinks FRONT LINE ASSEMBLY
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Website: www.mindphaser.com/
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