31. Wave Gotik Treffen (WGT 2024) Leipzig, Montag

31. Wave Gotik Treffen © Monkeypress
31. Wave Gotik Treffen © Monkeypress
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Ornithologische Überlegungen

Kennen Sie das auch? Es ist Sonntag und das Festival ist vorbei? Sie verbringen den halben Tag damit, die Rückreise quer durch Deutschland anzutreten, während sich bereits der Horror-Montag mit all seiner leidigen Arbeit drohend über Ihnen aufbaut, und der After-Festival-Blues Sie fest im Griff hat? Das muss nicht sein! Nehmen Sie jetzt “Wave Gotik Treffen” und verlängern Sie Ihr Festival um einen ganzen Tag! Lernen Sie, den Montag zu lieben!

Lass Dir den Beitrag vorlesen:

Das Wave Gotik Treffen endet traditionell am Pfingstmontag und der letzte Tag hat es für gewöhnlich noch einmal in sich! Auch hier habe ich mir ein kleines Ritual angewöhnt und pilgere mittags immer als erstes in die Passage-Kinos. Denn dort wird dann immer ein extra für das Festival-Publikum ausgewählter Film gezeigt. In den letzten Jahren lernte ich so viele meiner späteren Lieblingsfilme wie Dark Shadows, Crimson Peak oder A Cure for Wellness kennen. Letztes Jahr hatte Bones and all mich so nachhaltig verstört, dass ich danach erstmal eine halbe Stunde in der Fußgängerzone herumsaß, und mein Blut wieder auf Betriebstemperatur bringen musste. So oder so muss man konstatieren: Der alljährliche WGT-Film im Kino überzeugt in ca. 90% der Fälle. Diesmal war es allerdings keine Premiere für mich, denn ich hatte Hayao Miyazakis Der Junge und der Reiher bereits vorher im regulären Kino gesehen. Der Film ist allerdings dermaßen mit verschachtelten Metaphern durchsetzt, dass man ihn ohnehin ein zweites Mal ansehen muss, um die Essenz wirklich zu verstehen. Da ist einerseits die Figur des namensgebenden Reihers. Aber auch Pelikan treten als scheinbare Antagonisten auf, sowie eine Armee von Wellensittichen. Es war also gewissermaßen eine verkappte Ornithologie-Vorlesung und das Verhältnis zu Vögeln sollte sich bei etlichen Zuschauenden nach Konsum des Films verändert haben. Mein Begleiter hatte den Film noch nicht gesehen und ich lernte in meiner Sitzreihe auch die sehr sympathische Jana aus Leipzig (zum Glück nicht die aus Kassel) kennen. Ein sehr vergnüglicher Tagesauftakt war das. Wir philosophierten danach noch darüber, ob der Verkauf von Wellensittichen in japanischen Zoohandlungen nach Erscheinen des Films Einbrüche erlitten haben könnte.

Die Rache des Blumenkohls

Bei so komplexen, logistischen Planungen, wie sie das WGT erforderlich macht, ist es eigentlich statistisch gesehen unausweichlich, dass mal etwas schiefgeht. Sei es, weil irgendwo der Zeitplan auf der Bühne durcheinandergeraten ist, man nicht mehr in eine proppevolle Bahn hineinkommt, oder eine Straßenbahn viele Minuten lang am Sportforum feststeckt, weil Depeche Mode-Fans nachts auf den Schienen herumlaufen und ihren “personal Jesus” suchen *hust*. Irgendeinen Programmpunkt muss man eigentlich immer spontan streichen. 2024 hatte ich mich aber ganz gut durchmanövriert und fast alles geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Bis ich schließlich von Gemüse gestoppt wurde! Nach dem Kinobesuch war noch deutlicher Redebedarf über den merkwürdigen Ghibli-Film abzuarbeiten, und so setzten wir uns für das Mittagsessen ins Barfußgäßchen. Natürlich war viel Betrieb und so dauerte es recht lange, bis ich meinen bestellten Blumenkohl bekam. Ich hatte eine Karte für die Ballett-Vorführung von Der kleine Prinz im Opernhaus ergattert und das sollte mein WGT-Highlight der Hochkultur werden. Und nun saß ich da, im Außenbereich des Restaurants und die Zeit bis zum Vorführungsbeginn wurde immer knapper. Ich haderte mit mir und den Bedürfnissen einerseits meines Magens und andererseits meiner Seele. Als der Blumenkohl schließlich kam, war er natürlich heiß wie die Hölle und es waren nur noch zehn Minuten bis zum Vorführungsbeginn. Keine Chance! Unter Schmerzen (der Seele) gab ich meinen Plan auf, denn das bereits bezahlte Gericht verkommen zu lassen und sich sehr hungrig in eine dreistündige Opernvorstellung zu setzen, kam einfach nicht in Frage. Ich besann mich darauf, dass es auch kulturell wertvoll war, mit seinen Freunden an einem schönen Sommertag mitten in Leipzig zu sitzen, eisgekühlte Limonade zu trinken und vortrefflich zubereiteten Blumenkohl zu verzehren, während man über Filme, das Leben, Philosophie und Pro und Contra der Wellensittich-Haltung diskutiert.

Der Schlusspunkt unseres Wave Gotik Treffens war übrigens schon einige Wochen im Voraus fest gebucht gewesen: Im bereits thematisierten Krystallpalast-Varieté war für Montagabend ein kurzweiliges Bühnenprogramm von Christian von Aster und Caspar Pan (u.a. von Coppelius) angesetzt worden, das allerdings zusätzlichen Eintritt kostete und somit nicht Bestandteil des offiziellen WGT-Programms war. Nun galt es also nur noch, die Lücke zwischen Blumenkohl und Caspar-Aster sinnvoll zu füllen. Ebndlich war mal Zeit, sich das Angebot der Händler in der agra-Shopping-Halle neben der Hauptbühne anzuschauen. Hier findet man wirklich alles, was das schwarze Herz begehrt und bekommt teilweise auch noch attraktive Festival-Rabatte! Aber auch musikalisch war natürlich noch Platz in der “Tüte”, der gefüllt werden wollte. Dafür herhalten mussten Gothminister, die nach achtjähriger Abwesenheit mit ihrer bislang größten WGT-Show nach Leipzig zurückkehrten. Die Norweger haben sich in den letzten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, und durften zurecht die große Bühne in der agra-Halle bespielen. Wer allerdings ein mit vielen Showeinlagen durchsetztes Konzert wie beim M’era Luna 2023 erwartet hatte, wurde eines Besseren belehrt. Die Aufbauten waren deutlich reduziert und auch Requisiten kamen weit weniger zum Einsatz. Allerdings konnte man sich so voll und ganz auf Bjørn Brems kraftvolle Stimme konzentrieren, als die Band Hymnen wie Demons und das deutschsprachige Ich will alles zum Besten gab. One Dark Happy Nation vom gerade erst erschienenen, aktuellen Album Pandemonium II: The Battle of the Underworlds hätte auch die Überschrift für das Wave Gotik Treffen als Ganzes sein können. “We are one Dark Happy Nation. We belong in the Dark, we are one till the end of time”. Ein schöner Gedanke, vor allem, da das Festival sich bereits wieder dem Ende zuneigte. Brem redete indes wenig auf der Bühne. Von einem gelegentlichen “Are you ready?” und “Let me see your hands” abgesehen, widemeten Gothminister ihre Stunde Spielzeit ganz der Musik. Gegen Ende des Sets holte der Sänger dann seine speziellen Handschuhe auf die Bühne, aus denen er rote Laserstrahlen übers Publikum schoss. Immerhin, ein paar “special effects” hatten die Düsterrocker also mitgebracht. Das hochenergetische Liar gab dem Publikum die Möglichkeit mitzusingen und ggf. etwas Frustration über Begegnungen mit chronischen Lügnern in die nebelschwangere agra-Luft zu brüllen. Eine solide Gitarrenrockshow mit einer wohldosierten Menge Synthies, das sind Gothminister. Ich hoffe, dass das Wave Gotik Treffen diese Truppe wieder einladen wird, denn hier steckt noch weiteres Potenzial!

Nur schwer erhältlich: Goth-Fuels

Aber auch jenseits des Grufti-“Regierungschefs” hatte der WGT-Montag noch ein paar weitere ganz besondere Pfeile im Köcher! Leider hatten die Veteranen Vive la Fête kurzfristig abgesagt. Aber der “Ersatz” hatte es in sich: Welle:Erdball konnten ihren elften (!) WGT-Auftritt feiern und füllten die agra-Halle natürlich bis zum Rand. Die alljährlich stattfindende, mehrstündige Welle-Erdball-Party im Darkflower kann ich übrigens sehr empfehlen.  Aber nun bekam man spontan sogar die ganze Band auf der großen Bühne zu sehen. Weltbestes Replacement! Im Felsenkeller wurde indes wieder kräftig gerockt, hier stand vor allem gediegene NDH mit Megaherz und Schattenmann auf dem Programm. Ich hatte mich aber wie gesagt für die Kultur der anderen Art entschieden und mich erneut in den Krystallpalast begeben, um einen gemischten Abend mit Christian von Aster und Caspar Pan sowie deren Gast Sören Vogelsang zu erleben. So endete für mich das Festival vergnüglich, während in den Partykellern die meisten Goths wie seltsam verkehrt ausgerichtete Motten im Schwarzlicht der sterbenden Klänge taumelten, obwohl sie sich längst die Flügel verbrannt hatten. Ja, das Loslassen am Ende eines Festivals ist immer schwer. Niemand will wirklich in den schnöden Alltag zurück. Aber auch ein Rockstar wie Bjørn Brem muss letztendlich die Schminke abwaschen und in seine Osloer Kanzlei zurückkehren. Nach dem Nicht-Wahrhaben-Wollen folgt irgendwann eine Art Burgfrieden, den man mit dem Gedanken schließt, viel Schönes erlebt zu haben und sich bereits auf das nächste Jahr freuen zu können.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Wave Gotik Treffen auch nach all den Jahren immer noch eine Garantie für Spaß und Melancholie gleichermaßen beinhaltet. Dieses Festival ist einer der wenigen Orte, wo die merkwürdig altertümliche Batterie, die wir in uns tragen, wieder randvoll aufgeladen werden kann. Die Energieart, die ein Gothic dafür benötigt, ist heutzutage leider schwer aufzutreiben, und nicht einmal die technologieoffene FDP würde hierfür eine Betriebsverlängerung fordern. Niemand weiß so genau, was das eigentlich für ein Stoff ist, den wir brauchen, um wieder einige Zeit in dieeser lebensfeindlichen Welt existieren zu können. Aber für mich steht fest: Eine Tankstelle dafür steht in Leipzig! Ich werde wieder herkommen und ich hoffe ihr auch!

Eine Bildgalerie mit Impressionen findet Ihr hier:

Fotos: IMPRESSIONEN, 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT), 17.05.-20.05.2024

Eine Bildgalerie mit Fotos von ZombiesuckersZombeastThe HellfreaksBloodsucking Zombies From Outer SpaceBlitzkidHope findet Ihr hier:

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Montag, 20.05.2024 (Sandro Griesbach)

Eine Bildergalerie mit Fotos von Merciful NunsWelle: ErdballKirlian Camera findet Ihr hier:

Fotos: 31. Wave-Gotik-Treffen (WGT) – Montag, 20.05.2024 (Thomas Bunge)

Weblinks Wave Gotik Treffen:

Homepage: www://wave-gotik-treffen.de
Facebook: www.facebook.com/WaveGotikTreffen
Instagram: www.instagram.com/wgt_leipzig

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