IAMX touren nicht allzu häufig durch die Republik. Das ist auch gut so, denn es soll ja etwas Besonderes bleiben. Die Formation um den Briten Chris Corner gehört zu jenen Bands, die live noch einmal eine ganz andere emotionale Wucht entfalten als auf der Platte. Interessanterweise ist auch jedes Konzert von IAMX ein wenig anders, denn die besondere Charakteristik ergibt sich auch in der Interaktion mit dem Publikum. Und das ist mal mehr und mal weniger empfänglich für die Schwingungen, die von der Bühne ausgehen. Daher bin ich froh, dass ich das Privileg hatte, die Band auf der aktuellen „Fault Lines“-Tour sowohl in Köln als auch in Frankfurt zu erleben.
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Ich war damals eher zufällig über IAMX gestolpert, als ich das Wave Gotik Treffen 2013 in Leipzig besuchte. Interessanterweise traf ich in Köln im Publikum einen befreundeten Musiker, der genau am gleichen Tag auf die gleiche Weise zum Fan geworden war, wie wir im Gespräch herausfanden. Wer das WGT kennt, weiß, dass es das üppigste Programm aller Festivals zu bieten hat und praktisch vier Tage und Nächte durchgängig über die ganze Stadt verteilt irgendwas anzubieten hat. Als ich eigentlich schon auf dem Weg ins Bett war, passierte ich damals am 19.05.2013 um kurz nach 1 Uhr nachts die agra-Halle und blieb wie angewurzelt stehen. Nebel waberte aus der offenen Halle, gepaart mit buntem Licht und hypnotischen Klängen. Trotz meiner Müdigkeit, betrat ich die Halle und erlebte ein Konzert, das wie ein Tagtraum im Drogenrausch anmutete. Seitdem war ich fasziniert von IAMX.
Entgegen der Ankündigung begannen beide Konzerte nicht um 20 Uhr, sondern ca. eine halbe Stunde später mit Disciple und The X ID, also mit Titeln des aktuellen Albums Fault Lines. Übrigens handelt es sich bei diesem Begriff um Kanten in der Erdkruste, an denen Erdplatten entweder auseinanderdriften oder sich übereinander schieben, dort entstehen bevorzugt Erdbeben und geschehen Vulkanausbrüche. Beides kann man durchaus auch auf IAMX-Konzerten beobachten, aber natürlich auf der emotionalen Ebene. Chris trug zu Beginn einen kronenartigen Kopfschmuck aus Eisenspitzen und auch Janine und Jon Siren waren zunächst maskiert. Die Lichtsituation bei beiden Shows war allerdings knifflig, daher fiel es uns schwer, überhaupt mehr als die Silhouetten zu erkennen, denn einerseits kam das Licht überwiegend von hinter den Musikern und andererseits wurde eine Menge Nebel eingesetzt. Für die Fotografen eine praktisch unlösbare Herausforderung. Wenn man also nicht gerade fotografieren musste, fiel es einem leicht, wieder ganz in die IAMX-Mystik einzutauchen. Längst waren die Fault Lines-Songs ins Karaoke-Repertoire aufgenommen worden, und so wurde auch durchgängig in beiden Städten kräftig mitgesungen. „Vielen Dank, you sexy motherfuckers“, bedankte sich Chris in Köln auf seine Weise und auch Janine ließ sich immer wieder – auch auf Deutsch – vernehmen. In Frankfurt war die erste Reihe besonders aktiv. Circa zehn Frauen zeigten sich dort besonders passioniert und hörten schon vor dem Konzert IAMX-Klassiker wie My Secret Friend und I Come With Knives, wozu sie laut mitsangen. Diese Damen waren auch während des Konzertes diejenigen, die erheblich zur Stimmung beitrugen und alle anderen irgendwie mitrissen. In Köln war das weniger zu beobachten. In Frankfurt fand das Konzert zudem in der besonderen Location „zoom“ (ehemals „Cocoon“) statt. Die futuristische Wandverkleidung des damals von Sven Väth gegründeten Clubs schuf eine besondere Atmosphäre und einen angemessenen Rahmen für ein IAMX-Konzert.
Mit Sailor und After Every Party I Die nahmen IAMX uns mit auf eine kometenhafte Zeitreise bis in die turbulenten Jahre 2004-2006, als der Sneaker Pimps-Frontmann sein erstes Solomaterial als IAMX veröffentlicht hatte. Natürlich haben auch diese Songs einen festen Platz im Herzen der Fans, egal ob sie damals schon dabei gewesen waren oder überhaupt noch nicht geahnt hatten, dass es elektronische Musik gibt (so wie ich). „I love you! So fuckin‘ beautiful!“, quittierte der Fronter in Frankfurt die seiner Band und ihm entgegengebrachte Verehrung. Während es in Köln nur hin und wieder mal deutsche Wortfetzen gegeben hatte, versuchte Chris es beim hessischen Konzert intensiver: „Meine schöne deutsche Leute. Ich habe Gelegenheit, ein bisschen komisches Deutsch zu reden…“. Dabei blieb es dann aber auch und er rettete sich lieber wieder in die Musik. Während des nun folgenden Titelsongs Fault Lines ging plötzlich ein Glitzerregen auf die erste Reihe in Frankfurt nieder. Da in der Folgewoche das EU-weite Verbot für den Verkauf von losem Glitzer in Kraft treten sollte, war das wohl der letzte, legale Einsatz dieser teuflischen Substanz. Nun, viele der Frontrow-Glitzermädchen schienen aus Großbritannien zu stammen, daher wird sie das weniger betreffen. Das erste (und vermutlich letzte) Mal, dass der Brexit sich als segensreich erweisen sollte. Die Insel glitzert weiter! Chris Corner zeigte sich sichtlich stolz auf seine Fans: „That’s my people! It’s always a pleasure and a privilegue to play for you , motherfuckers“.
Auch auf der Bühne entfaltete sich natürlich wieder das besonders enge Verhältnis zwischen Chris und Janine. Immer wieder sprang er rüber zu ihr und tanzte sie an. Überhaupt ist ein IAMX-Konzert ja durchaus sexuell aufgeladen. Und dazu trug auch die Schemenhaftigkeit des Bühnenkonzeptes bei. Die psychedelischen Klänge und dazu die bizarren Videoelemente auf den Leinwänden haben mich schon damals in Leipzig in ihren Bann gezogen und das gelingt auch heute noch genauso. Man fühlt sich „high“, ohne irgendetwas konsumiert zu haben. Es gibt nicht viele Bands, die diesen Rausch hervorrufen können. Wenn die örtlichen Gegebenheiten es zulassen, suchen die Musiker auch immer wieder engen Kontakt zum Publikum. In Köln war der Abstand dafür etwas zu breit, aber in Frankfurt sprangen Janine und Chris immer wieder auf die Boxen im Graben und nahmen die Hände der Fans bzw. sangen und spielten sie direkt an. Sowohl in Köln als auch in Frankfurt wurde ein stimmungsmäßiger Höhepunkt beim alten Hit I Come With Knives erreicht. Hier rasteten dann auch die „dienstälteren“ Fans zusammen mit den Newbies aus und es ergab sich eine brodelnde Magma-Masse, die jeder terrestrischen Fault Line Ehre gemacht hatte. Der bezaubernde Song mit dem auf Deutsch gesungenen Ohrwurm-Mantra verfehlt seine Wirkung eigentlich nie, egal ob in einer heißen Clubnacht, oder vor einer Bühne.
Ein besonderer Moment in Frankfurt ergab sich für eine Frau in der ersten Reihe aber auch beim Unified Field-Song Screams. Kein einfacher Song. Er handelt von sexuellem Missbrauch, von psychischer Manipulation und fatalem Kontrollverlust. Natürlich ist es angesichts der Vorwürfe gegen Rammstein und der ganzen #metoo-Debatte ein anderes Gefühl, diesen Song heutzutage zu hören, als 2013. Obwohl es diese Vorfälle schon immer gab, so genießt das Thema zurecht seit 2017 besondere Aufmerksamkeit. Als Chris während des Songs eine junge Frau in der ersten Reihe liebevoll in die Arme schloss, die Glückliche zu weinen begann und Tränen über ihr mit Glitzerpuder bestäubtes Gesicht liefen, musste ich mir unweigerlich eine wichtige Frage stellen: Wieso sind IAMX-Konzerte so POSITIV sexuell aufgeladen und wie kommt es, dass es hier immer wieder gelingt, einen glaubhaften Gegenentwurf zu der rohen und toxischen Männlichkeit aufzubauen, die zu den Vorwürfen gegen Rammstein und andere geführt haben? Chris Corner scheint ein so durchgängig ätherisch-androgynes Wesen, so unbeständig in seiner Lebensweise, so fragil und filigran und so gnaden- und kompromisslos der Kunst verschrieben zu sein, dass man sich in seiner Gegenwart einfach nur wohlfühlt und gar nicht erst der Verdacht aufkommt, dass irgendein Beteiligter der tiefen Verbindung zwischen Fan und Künstler schlecht dabei wegkommen oder Schaden nehmen könnte. Die Harmonie, die man auch in der öffentlichen Interaktion mit Janine wahrnimmt, impliziert zwar durchaus ein Machtgefälle, aber stets consensual. Und so ist es auch bei den Fans.
Natürlich ist bestens bekannt, dass Chris unter Depressionen gelitten hat. Eine gewisse Selbstzerstörungskraft findet man oft bei den „wahren Künstlern“, die die Kunst nicht nebenbei als Hobby betreiben, sondern ganz und gar darin aufgehen – teilweise bis hin zur Selbstaufgabe. Egal ob Edgar Allan Poe, Vincent van Gogh oder Chris Corner – wir bewundern vor allem Künstler, die beständig auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn balancieren, ohne uns allerdings ihren kräftezehrenden Kampf gegen innere Dämonen ebenfalls zu wünschen. Aber das gibt es alles nur im Komplettpaket. Es ist bei Chris Corner also die Hingabe an seine Kunst, aber vor allem die positive Energie und der innere Wunsch, anderen Menschen zu helfen, die ihn zu einem positiven Gegenentwurf zu machtmissbrauchenden Menschen machen. In Köln und Frankfurt wurden diese positiven Schwingungen die ganze Zeit aufrecht erhalten. „Thank you for all the support, love, and devotion”, bedankte sich Chris bei der Frankfurter Menge. In Köln wollte er allerdings noch eine Steigerung sehen: „So, you love me really? Can you show me?“, forderte er die Anwesenden heraus. Die Gelegenheit gab es natürlich reichlich während des Songs President. Janine unterstützte den bombastischen Sound mit dem hingebungsvollen Bearbeiten einer großen Trommel, auf deren Fell sie vorher Wasser geschüttet hatte. Auch wenn die Stimmung in Frankfurt insgesamt „dichter“ und emotionaler war, so war er auch mit der Performance des Kölner Publikums letztendlich zufrieden, wie seine Ansage vor dem letzten Song des Hauptsets (Happiness) bewies: „Are YOU happy? You make ME happy. You fill my heart with joy and there’s only love in this room. Thank you for everything“.
Natürlich wurde die Band danach noch nicht widerspruchslos entlassen. Während die Zugabe-Rufe bei anderen Truppen bisweilen etwas arg bemüht bzw. halbherzig erfolgen, bewies der donnernde Lärm vor allem in Frankfurt, dass man hier noch lange nicht genug hatte. Für die Zugaben wurde sich noch einmal umgezogen, unter anderem ein Ganzkörperanzug mit Zebramuster kam zum Einsatz. Die Masken, die die meiste Zeit über getragen worden waren, fielen für diesen letzten Showteil, auch wenn man wegen der Lichtsituation wie gesagt ohnehin wenig erkennen konnte. IAMX schenkten uns noch drei weitere Songs, darunter das beliebte Bernadette sowie No Maker Made Me und den Titelsong des Albums The Alternative (einer von nur drei Songs des aktuellen Sets, die auch damals bei meinem ersten Konzert in Leipzig gespielt worden waren). Dann war die Party leider vorbei, aber die Gefühle wirkten noch lange nach. In beiden Städten sah man, nachdem das Licht angegangen war, wie Menschen sich in den Armen lagen. Die Musik von IAMX führt die Leute zusammen, schweißt sie aneinander, reißt die Grenzen ein. Lasst uns diese verbindenden Elemente und die „positive sexuality“ hochhalten, die keinen Missbrauch zulässt und allen Beteiligten nur Freude bringt!
Setlist IAMX @Köln, Live Music Hall (11.10.2023) und @Frankfurt am Main, zoom (18.10.2023)
01. Disciple
02. The X ID
03. Sailor
04. After Every Party I Die
05. Fault Lines
06. Screams
07. I Come With Knives
08. Exit
09. President
10. Happiness
Zugaben
11. No Maker Made Me
12. Bernadette
13. The Alternative
Weblinks IAMX:
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