DIE NERVEN – Essen, Zeche Carl (18.10.2023)

Fotos: DIE NERVEN
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Und ich dachte irgendwie in Europa stirbt man nie” – unbewusst, weil längst vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs verfasst, schrieben Die Nerven die Textzeile des Musikjahres 2022, aus dem Song Europa. Der Opener zu einem selbst betitelten und absolut hochklassigen Album, das in den Jahresbestenlisten der Musikmagazine völlig verdient in der Regel ganz weit oben stand. Bevor Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn bei ihrem ersten Deutschland-Auftritt der 100 Milliarden Dezibel Tour Part 2 ihre Noise-Salven aufs Publikum in der Zeche Carl losließen, gab es aber erstmal zartere Töne auf die Ohren.

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Dafür sorgte Shitney Beers, bürgerlich Maxi Haug. Die kann, wie man in Songs wie Hun So Low auf ihrer aktuellen Platte This Is Pop hört, durchaus stilistisch perfekt zur Hauptband des Abends passen – nur stand sie hier nicht mit Band auf der Bühne, sondern ganz allein mit ihrer Gitarre und präsentierte acht Stücke in reduziertester Version. “Das wird jetzt für uns alle unangenehm“, begrüßte sie die einigen Hundert Zuschauerinnen und Zuschauer im gut gefüllten Club selbstironisch, wohl wissend, dass heute kaum jemand auf Carl gekommen ist, um hochmelancholischen Lo-Fi-Songwriter-Pop zu hören. Mit ihrer einnehmenden Stimme und einigen gut gesetzten Gags (“Jetzt geht’s richtig ab, der nächste Song handelt von Fürzen“) zog die Künstlerin aber doch die meisten Anwesenden auf ihre Seite.

Manch eine/r sah Shitney Beers vielleicht schon Anfang des Jahres als Support des Fjørt-Konzerts an Ort und Stelle, das konnte natürlich nicht unerwähnt bleiben. So bezeichnete sie damals ein männlicher Gast als “zickig“, was verständlicherweise bei ihr nicht so gut ankam. Sie fragte, ob besagter Gast erneut anwesend ist – war er nicht. Als Geschenk hatte sie dem Unbekannten extra einen in der Arschtasche angewärmten Schokoriegel mitgebracht, den Mr.X dann hätte essen sollen. Hat nicht ganz geklappt, unterhaltsam war die Geschichte dennoch. So vergingen die 30 Minuten wie im Flug und setzten einen charmanten Kontrapunkt zum Folgeprogramm. Und es bleibt für Shitney Beers zu hoffen, dass vielleicht Filmregisseure vor Ort waren, die noch einen passenden Soundtrack für ihre nächste Herzschmerz-Szene brauchen – denn da würden Songs wie Long Distance perfekt funktionieren.

Gerade mal 15 Minuten später – gut, viel umzubauen gab es nach Shitney Beers Set logischerweise nicht – enterten Kevin Kuhn, Julian Knoth und Max Rieger alias Die Nerven zu Beethovens Ode an die Freude die Bühne. Freude ist dann auch das passende Stichwort für die nun folgenden 75 Minuten. Seit Jahren, insbesondere dem 2014er-Album Fun, sind die aus der Neckarregion stammenden Musiker absolute Kritikerlieblinge, der große kommerzielle Durchbruch bleibt dem Trio aber weiterhin verwehrt. Warum dem so ist, wird nach dem Besuch eines Konzerts nochmal um einiges unklarer. Es scheint nicht nur im nationalen, sondern auch internationalen Vergleich aktuell nahezu unmöglich, eine weitere Rockband zu finden, die Spielfreude, Dynamik und Wucht, Eruptionen, Atmosphäre und Ohrwurm-Hooks derart gekonnt zu einem großen Ganzen kombiniert.

Dabei spielt es auch keine Rolle, ob man die Stücke vorher kennt oder nicht. Fünf komplett neue Songs im klassischen Die-Nerven-Sound zwischen Noise-Rock und Postpunk, die voraussichtlich kommendes Jahr auf einer neuen Platte veröffentlicht werden, fanden ihren Weg ins Set und kamen nicht weniger packend rüber als “Klassiker” wie Niemals oder die Songs des aktuellen Albums. Den Vogel schießen Kuhn, Rieger und Knoth bereits an sechster Stelle ab. Der Erde gleich, ein im Original 3:42 Minuten langes Stück, das rund um den Release der LP im Herbst 2022 gegenüber Hits wie Europa oder Keine Bewegung vielleicht etwas unterging, erstrahlt live zu kaum fassbarer Pracht. Auf das melancholische, von Knoth inbrünstig gesungene Intro, folgt ein ausgiebiger Impro-Part, bei dem alle drei Mitglieder immer wieder zeitgleich laute, kurze Ausbrüche anschlagen, bevor das Stück nach einem rasenden Hardcore-Punk-Zwischenspiel wieder zur großen Refrain-Melodie zurückfindet. Acht Minuten moderner Rockmusik-Wahnsinn, erwidert von purer Euphorie im Publikum.

Die Nerven wirken wie eine bestens geölte Maschine mit drei perfekt ineinandergreifenden Zahnrädern. Wenn einer da trotzdem heraussticht, ist es Drummer Kevin Kuhn – und das nicht wegen seiner sehr kurzen weißen Shorts, die er an diesem Abend in Essen trägt. Er wirkt fast wie ein Dirigent des Ganzen, lässt komplexe Schlagzeug-Figuren lächerlich einfach aussehen, entfaltet in seinem Spiel dennoch ungeheure Kraft. Zwischendurch gönnt er sich immer mal wieder ein wenig Gesichtskirmes, lächelt das Publikum schelmisch oder fröhlich an, unterhält es mit Krähen-ähnlichen Zwischenschreien, macht die Pommesgabel oder nach Ende eines besonders mitreißenden Parts einfach mal einen “Mic Drop” – nur eben mit den Sticks.

Da stört es überhaupt nicht, dass sonst eher wenig Kommunikation von der Bühne kommt. Immerhin kann ein Missverständnis ausgeräumt werden. Max Rieger zeigt sich fest davon überzeugt, bereits zum vierten Mal in der Zeche Carl mit den Nerven zu Gast zu sein – Knoth und Kuhn schütteln neben und hinter ihm den Kopf. Eine Nachfrage bei den (wenigen) Die-Hard-Fans im Publikum, die schon beim ersten Mal dabei waren, sorgt für das Resultat. Es ist der dritte Auftritt in der Zeche Carl, einen weiteren in Essen gab es in der einige Kilometer südlich gelegenen Weststadthalle. Wäre das also auch geklärt.

Nach den älteren Hits Der letzte Tanzende vom Fluidum-Debütalbum (ebenfalls improvisatorisch verlängert) und Angst ertönen lautstarke “Zugabe“-Rufe schon, als das Trio noch nicht einmal von der Bühne runter ist.  Es folgen noch Frei und zum krönenden Abschluss Albtraum mit seinen prägnanten Textzeilen: “Was auch immer wir jetzt machen, ist mit Sicherheit nicht richtig” und “Es ist mehr Albtraum als Traum“. Tja, wenn mal jeder Albtraum so viel Spaß machen würde wie dieses Konzert.

Setlist DIE NERVEN @ Essen, Zeche Carl (18.10.2023)

01. AIDL (neuer Song, vermutlich Arbeitstitel/Abkürzung)
02. Glas (neuer Song)
03. Europa
04. Niemals
05. WWH (neuer Song, vermutlich Arbeitstitel/Abkürzung)
06. Der Erde gleich
07. Grosse Taten (neuer Song)
08. Funktionieren (neuer Song)
09. Keine Bewegung
10. Ein Tag
11. Der letzte Tanzende
12. Angst
13. Frei (Z)
14. Albtraum (Z)

Hinweis: Die in diesem Artikel gezeigten Bilder wurden beim Konzert im Berliner Festsaal am 19.10.2023 aufgenommen.

Weblinks DIE NERVEN

Bandcamp: https://dienerven.bandcamp.com/album/die-nerven
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