Die finnischen Symphonic Metal-Superstars Nightwish bringen zuverlässig alle vier Jahre ein neues Album raus und touren dann damit durch die ganze Welt. Doch dieser Kreis wird nun durchbrochen. Vor einigen Wochen kündigte die Band eine Live-Pause von unbestimmter Dauer an. Das neue Album soll wie geplant im Herbst erscheinen, allerdings dieses Mal ohne die Welt-Tournee. Was die Gründe angeht, hielt man sich bedeckt und betonte, dass das weder auf Floor Jansens Schwangerschaft, noch auf die Solo-Projekte der Mitglieder zurückzuführen sei. Die verbliebenen Live-Termine im Juni wurden so zu besonders begehrten Gelegenheiten, die Band noch ein letztes Mal vor der Pause auf der Bühne zu sehen. Da der Konzerttermin in Berlin leider abgesagt worden war, blieb auf deutschem Boden nur noch ein Gig übrig: Das große Abschlusskonzert im Amphitheater Gelsenkirchen. Man fieberte vor Ort an diesem heißen Sommertag sichtlich dem Auftritt der Symphoniken entgegen. Als Drummer Kai Hahto kurz einen Soundcheck hinter dem Vorhang durchführte und neben der Bühne sichtbar wurde, klatschten und jubelten die Anwesenden bereits.
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Doch zunächst gab es noch etwas härteren Tobak auf die Ohren. Die finnischen Landsleute von Bloodred Hourglass eröffneten den Abend mit ihrer Groove Metal-Show. Man kann sich trefflich darüber streiten, ob Support- und Main Act stilistisch zusammenpassen sollten oder nicht, aber unbestritten ist, dass es von Vorteil für die Verbindung zum Publikum ist, wenn man in eine ähnliche Kerbe schlägt wie der Act, wegen dem die Leute Tickets gekauft haben. Die melodic-begeisterten Nightwish-Fans fremdelten sichtlich mit der rohen Aggressivität der Vorband und waren nur langsam in Schwung zu bekommen. Der massive Gitarrensound von Bloodred Hourglass (die Band wartete gleich mit drei Gitarristen plus Basser auf) und die harten Growls des Frontmanns Jarkko Koukonen hatte aber auch seine dankbaren Abnehmer im Publikum. Auf der rechten Seite sah man einige Arme und von da kam auch der lauteste Jubel. Auf den Rängen jedoch (es handelt sich bei der Location um ein tatsächliches Amphitheater mit halbkreisförmig angeordneten Steinstufen) waren nur Wenige zu nachhaltigem Support zu bewegen.
Das Sextett ließ sich allerdings nicht beirren und präsentierte munter weiter Songs aus seiner achtzehnjährigen Diskographie. Bei Waves of Black wurde es etwas lebhafter und auch einige der anderen Songs, vornehmlich die etwas langsameren Stücke, konnten dann doch überzeugen. “Are you ready for the mighty, mighty Nightwish?”, fragte der Sänger und wies darauf hin, dass die Kollegen sich hinter der Bühne befanden und die Antwort durchaus hören würden. Sie bestand aus donnerndem Jubel, was Koukonen zu folgendem Schluss brachte: “I think the message was delivered”. Dass die langsameren Stücke besser ankamen, wurde von der Band offenbar nicht bemerkt, denn der Fronter meinte gegen Ende des Sets noch “You want something faster, right? What about a Circle Pit?”. Der fromme Wunsch erfüllte sich indes nicht. Es hatte wohl auch niemand Lust, schweißbedeckt, wie man dank der Witterung nun mal war, an irgendwelchen Nebenmoshern abzurutschen und sich langzulegen. Um 20:30 Uhr war der Sand im blutroten Stundenglas durchgelaufen.
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Heute gab es keinerlei technische Probleme oder Verzögerungen, zum Abschluss lief die Maschinerie in Gelsenkirchen wie geschmiert. Um Punkt 9 erklang das Intro und Kai, der ja schon Vorschusslorbeeren an dem Abend bekommen hatte, erschien als erstes auf der Bühne. Drumset, Keyboard und Troys Platz waren nebeneinander auf einem hohen Podest angeordnet, dahinter befanden sich die LED-Wände. Das Set startete wie auch schon die anderen Gigs dieser Tour mit dem rasanten Noise, allerdings wurde dazu nicht das sehr aufwendige offizielle Musikvideo gezeigt, sondern die Videoshow, die eigens für die Human :||: Nature-Tour entwickelt worden war, mit einem Herz aus roten Lavalampen-Blasen und vielen weiteren Elementen. Die Stimmung auf Nightwish-Konzerten ist immer ausgesprochen gut, ich habe noch nie einen Gig der Finnen erlebt, bei dem das Publikum nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen wäre. Und doch kam man nicht umhin, an diesem Abend ein besonderes Gefühl zu verspüren. Es fühlte sich alles noch einmal intensiver an, weil man nicht wusste, wann man es wieder würde erleben können. Wenn man bereits auf der Human :||: Nature-Tour gewesen war, gab es natürlich setlistmäßig keine Überraschungen. “We go a little tribal!”, kündigte Floor den Song an, der sich mit den Ursprüngen der Menschheit beschäftigt. Mit Sleeping Sun und Dark Chest of Wonders gab es auch wieder echte Nightwish-Klassiker zu hören. Direkt sah man wieder Tarja wie im Video in ihrem roten Kleid in der Wildnis stehen, aber diese Zeiten sind vorbei. Nun sang den Song eine hochschwangere Floor Jansen mit der gleichen Anmut und Inbrunst, nur um dann beim Opener des Kult-Albums Once sämtliche inneren Dämonen herauszulassen und zu den Orchesterkapriolen abzugehen. Auch Floor kann beide Gesichter zeigen: feierlich und wild.
Unterstützt wurde die Band auch heute wieder durch zahlreiche Pyroeffekte. Als wäre es nicht schon heiß genug gewesen, aber das Publikum ließ sich trotzdem anfixen und quittierte jeden Feuerstoß mit hochgerissenen Armen und Jubel. Da das Amphitheater direkt am Kanal gelegen ist, sah man immer wieder große Frachtschiffe praktisch direkt hinter der Bühne vorbeifahren und die Schiffer winkten den Zuschauern. Zaungäste gab es auf der anderen Kanalseite auch genug, dort wurden teilweise schon die Picknickdecken ausgebreitet. Ich frage mich, wie jemand, der die Band nicht kennt und nur beim Joggen am Kanal stehengeblieben ist, das Konzert eingeschätzt hätte. Die ruhige Hymne Sleeping Sun, das durchorchestrierte Dark Chest of Wonders und dann I Want My Tears back mit den folkig treibenden Rhythmen und Flötenklängen… es wäre interessant gewesen, die Unbeteiligten zu befragen, was für eine Band sie da ihrer Meinung nach gehört hatten. Floor ließ sich trotz ihres Babybauchs übrigens wie sonst auch von der Musik mitreißen, bewegte sich ausgiebig und headbangte auch. Ihre Bühnenpräsenz war wieder einmal phänomenal. Zu Our Decades In The Sun wurde es dann gleich nochmal besinnlich, als Floor neben ihrem Kollegen Troy Platz nahm und mit ihm “our loveletter to all parents” interpretierte. Troy Donockley nutzte auch gleich die Gelegenheit, seine Stimme nicht nur zum Singen zu erheben, sondern auch eine seiner berühmten britischhumorigen Ansagen zu machen: “This is not a concert, it’s like a party at a friend’s house”, philosophierte er. “And I enjoy this more than my brother’s wedding”, fügte er hinzu, bevor er mit dem Hinweis auf das lateinische Wort für “no one” DEN Nightwish-Song schlechthin einleitete. Den Song, der damals auch auf MTV und VIVA gelaufen war und der Band viele neue Fans beschert hatte, lange bevor Pixar das Motiv aufgegriffen hatte. Nightwish-Fans haben ohnehin nie verstanden, wieso die Leute 100 Minuten mit dem “Finden von Nemo” zubringen mussten. Once, Titel 3, there it is.
Wissenschaft und GefühlN
Von den Klassikern wurde danach wieder die Brücke in die jüngere Vergangenheit der Band geschlagen. Der Begeisterung der Bandmitglieder für die Wissenschaft verdanken wir das ganze Album Endless Forms Most Beautiful, aber auch auf dem aktuellen Album Human :||: Nature gibt es Anzeichen. Shoemaker ist vom Leben von Eugene Showmaker inspiriert, dem Impaktforscher, nach dem ein Mondkrater benannt wurde und dessen Asche auf dem Erdtrabanten in einer Kapsel liegt. Es handelt sich um einen Song voller Emotionen, obwohl man das bei dem Thema nicht erwarten sollte. Und das ist eine der großen Leistungen der Band: Nightwish übersetzen Wissenschaft in Gefühl und verweben beides miteinander. Die schnell gesungenen Schleifen der Strophen, Troys Stimme im Refrain und natürlich ganz besonders der finale Teil, wo sich Floors Operngesang und die Instrumente immer weiter zuspitzen, bis man einfach nur noch unter Strom steht. Auch in Gelsenkirchen gelang dieses Kunststück wieder tadellos. Mit ausgebreiteten Armen sang Floor sich die Seele aus dem Leib, während wir alle ihr mit brennenden Herzen verfielen.
Es brauchte diesen Song einfach für das große Finale, das nun eingeleitet worden war. Last Ride Of The Day brachte uns zurück in die triumphalen Zeiten von Imaginaerum und dann folgten noch zwei der größten Meisterwerke der Band, die zusammen ganze 34 Minuten lang sind. Zwei Songs, einer aus der Vorzeit von Once mit Ghost Love Score und natürlich der fulminante Schlusspunkt eines jeden Konzerts der Tour: The greatest show on earth. Zwei Songs, die die DNA von Nightwish atmen und in ihrer facettenreichen Art sicherlich auch den Schwarzhörern auf der anderen Kanalseite und den Frachtschiffern klargemacht hätten, worum es bei Nightwish eigentlich geht. Um große Gefühle, die Schönheit der Erde und ihrer Bewohner und die Tragik des menschlichen Seins. Wir durchlebten im Amphitheater jedes Kapitel der beiden Opi Magni, bezeugten die Posaunen und Trompeten, betrauerten den brennenden Wald, schwammen mit der Schildkröte und schwiegen mit der flackernden Kerzenflamme. Als es vorbei war, lösten sich vielfache Emotionen im Publikum. Einige weinten, andere hielten sich fest, manch einer starrte noch länger auf die Bühne, wo die Stagehands unseren Traum in ihre Einzelteile zerlegten, als wäre es jede x-beliebige Show gewesen. Wir werden Nightwish vermissen, soviel steht fest. Wir können nur hoffen, dass, nachdem ein neues Album und ein neues Baby das Licht der Welt erblickt haben, auch Tuomas und Co. dieses Bühnengefühl vermissen und uns und die Musik dann wieder vereinen werden.
Setlist Nightwish @ Amphitheater, Gelsenkirchen (12.06.2023)
01. Noise
02. Storytime
03. Tribal
04. Élan
05. Sleeping Sun
06. Dark Chest Of Wonders
07. How’s The Heart
08. I Want My Tears Back
09. Sahara
10. Our Decades In The Sun
11. Nemo
12. Shoemaker
13. Last Ride Of The Day
14. Ghost Love Score
15. The Greatest Show On Earth
Weblinks Nightwish
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