Im Kölner E-Werk erhielten wir die Möglichkeit, ein Interview mit Ronan Harris zu führen. Mit Electric Sun ist kürzlich ein neues Album von VNV Nation erschienen. Inmitten der Konzertvorbereitungen nahm sich Ronan geduldig Zeit für uns. Er erläuterte uns allerlei Hintergründe zur Geschichte von VNV und zur Entstehung seiner Musik. Somit entstand ein sehr ausführliches, aber vor allen Dingen auch ein aufrichtiges und intensives Gespräch:
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Wie bist du ursprünglich zur Musik gekommen?
Sie war immer da. Als ich ein sehr kleines Kind war, hörte ich in der Küche Musik, ich war vielleicht drei oder vier Jahre alt, und ich erinnere mich an Lieder, die im Radio liefen. Ich war schon immer von Musik fasziniert. Was mich mit der Musik verbindet, sind nicht die visuellen Dinge, sondern die Vorstellungskraft und als ich älter wurde, verbrachte ich meine Zeit mit einem alten Radio, schaltete es ein, ich fand Musik, fand Sounds, seltsame, atmosphärische Klänge im Radio, die mich interessierten, also war ich immer verliebt in die Art und Weise, wie Musik mich dazu bringen konnte, mir Dinge vorzustellen, es ist einfach die Unmittelbarkeit, die Bilder in meinem Kopf erzeugt. Ich wurde im Jahr 1967 geboren, in den siebziger Jahren war ich mir schon als kleiner Junge der Musik und der verwendeten Elemente sehr bewusst, ich erinnerte mich an Lieder und dachte, warum mag ich das? Warum mochte ich diese Band oder diese Lieder? Und eine Sache, die wirklich bei mir ankam, waren die elektronischen Anfänge, die in den frühen siebziger Jahren aufkamen. Und je mehr elektronische Musik ich hörte, desto häufiger wusste ich zwar nicht was das war, aber ich liebte einfach diese verrückten Sounds.
Ich hab dich zum ersten Mal im Jahr 2000 mit VNV Nation live gesehen. Ihr habt damals auf dem M’era Luna Festival gespielt – und zwar im Hangar. Was unterscheidet dich heutzutage als Musiker von dem Ronan vor gut 20 Jahren?
Ich war sehr energiegeladen, aber ich wusste nicht, was ich tat, und ich denke, ich spielte einfach nach Gehör und tat es so, wie ich es für richtig hielt, ich hatte Spaß. Aber es war nicht professionell, es war nicht erfahren und ich hatte einen normalen Job. Also ging ich nach diesen Wochenenden zurück nach London und ging wieder meinen normalen Job nach. Es fühlte sich fast an, als hätte man zwei Persönlichkeiten. Was mich also von der Zeit unterscheidet ist, dass ich damals Musik geschrieben habe, mit der ich mich gut fühlte, die ich gerne live gespielt habe. Ich habe versucht, ein gutes Konzert für die Leute zu geben, ihnen Energie zu geben oder sie etwas fühlen zu lassen. Und das hat sich nicht geändert. Was sich wirklich geändert hat, ist eine Menge an Erfahrung, das stetige wachsen der Show und der Versuch, sie immer größer und besser und besser zu machen und zu erkennen, dass es einige Dinge gibt, die für mich besser funktionieren. Denn wenn sie für mich besser funktionieren, funktionieren sie auch besser für das Publikum. Es geht nicht darum, etwas zu machen, nur damit es dem Publikum gefällt – wie ein Trick oder ein Plan. Ich muss alles spontan machen. Alles, was ich tue, muss aus meinem Herzen kommen, sonst ist es nicht echt. Ich fühle also die Musik, ich höre die Texte in meinem Kopf und gleichzeitig schaue ich die Leute an und sehe ihre Reaktionen, und das ist meine Unterhaltung.
Ich denke, am besten kann man sagen, dass ich im Jahr 2000 gute Songs hatte. Ich erinnere mich daran, dass wir das erste Mal auf einem Festival gespielt haben, wir haben die Long Version von Standing gespielt. Es gibt ein Video davon, in dem alle ihre Hände in die Luft halten und Spaß haben und ich liebe diesen Moment, weil ich VNV als eine Alternative zu anderen Bands gesehen habe, bezüglich all die Vibes oder der Atmosphäre, die man auf der Bühne präsentieren kann. Und ich liebte, was ich tat, weil es aus meinem Herzen kam. Aber die Band ist größer geworden. Die Liveshow, die Musiker, all das ist viel größer, authentischer. Und ich denke, diese Veränderung war die beste Entscheidung für mich. Es ist schwer für die Leute, das zu verstehen. Denn sie sehen sich Fotos an und fragen sich: Wer ist diese Band? Das war ich und in meinem Schlafzimmer im Jahr 1990, ich in meinem Schlafzimmer im Jahr 1994, als ich das erste Album geschrieben habe. Ich in meinem Zimmer, als Praise The Fallen entstand. Ich in diesem Zimmer, als sich die Ideen für Empires entwickelten. Ich ging ins Studio und es war immer mein eigenes Konzept und ich habe andere Leute dazu geholt, um eine Rolle auszufüllen. Aber was sich geändert hat ist, dass ich mehr darüber weiß, wie ich bekomme, was ich will. Denn ich habe eine Idee, ein Bild in meinem Kopf.
Das gleiche passierte auch mit dem neuen Album. Ich hatte einen Sound in meinem Kopf. Wie komme ich dorthin? Mit jedem Album, mit jedem Jahr und mit jeder Tour lerne ich neue Dinge. Sogar auf dieser Tour habe ich vielleicht die größte Lektion gelernt. Und diese hat für mich das Gefühl der ganzen Show verändert. Ich will nicht sagen, was es ist, aber ich mache etwas für mich auf der Bühne ganz anders. Ich hatte ja eine Kehlkopfentzündung und während dieser Pause musste ich eine Stimmspezialistin aufsuchen. Sie hat mir Dinge über meine Stimme erzählt, die ich gar nicht wusste. Ich dachte, das ist wirklich überraschend, weil ich das niemals gedacht hätte. Und sie sagte mir, ich solle mich an meine Zeit als Sopranist erinnern. Als ich ein junger Sänger war, habe ich das Singen bereits geliebt. Und ich erinnerte mich wieder an all die Dinge, die ich damals gelernt hatte. Wie man z.B. ein Muskelgedächtnis reaktiviert. Und als ich anfing, diese Dinge zu tun, merkte ich, wow, das ist eine große Veränderung für mich.
Foto © Michael Gamon
Gibt es eine ungenutzte Chance in deinem Leben, die du hättest ergreifen sollen?
Ich wurde gefragt, ob ich einen Remix für T.A.T.u. machen möchte und ich habe nein gesagt. Vielleicht weil ich dachte, dass ein Artikel darüber geschrieben werden könnte. Wobei, gibt es eine größte Chance, die man verpasst hat? Ich glaube nicht. Denn ich bin eine Person, die glaubt, dass alles nicht grundlos passiert. Es gibt kein “Ich hätte, ich wollte, ich würde”. Das Leben ist voll von Fehlern und Lektionen. Und selbst die schlimmsten Dinge, die mir je passiert sind, haben mir etwas gegeben, das ich nicht mehr hergeben möchte. So schmerzhaft sie auch waren. Sie haben mich etwas gelehrt. Aber ich habe aus dem Negativen gelernt. Die sehr negativen Erfahrungen, die ich machte, haben mir das Positive vor Augen geführt. Und ich musste alles selbst lernen. Denn ich war anfangs an ein Label gebunden. Das war wirklich unangenehm. Eines Tages habe ich mich von diesem Label getrennt und musste alles neu lernen – den ganzen Prozess, wie das ganze Musikgeschäft funktioniert. Aber ich hatte tolle Freunde, die mir geholfen haben. Leute aus der Branche, die mir Ratschläge gaben. Und all das hat mir geholfen, immer weiter zu wachsen und mich weiterzuentwickeln.
Ich denke, es gibt immer Dinge, an die man zurückdenkt und sagt, ich hätte das auch anders machen können. Aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Ich mache mir also nichts vor. Es ist nicht so, dass ich eine dumme Entscheidung getroffen hätte. Alles, worauf ich mich konzentriert habe ist, wie ich das, was ich tue, besser machen kann. Nun komme ich dem näher, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Alles war also ein großartiger Lernprozess, und ich würde es nicht mehr ändern wollen. In manchen Situationen würde ich sagen, dass ich sie vielleicht anders machen könnte, so dass sie weniger schmerzhaft sind. Ich habe Träume gehabt, in denen ich halb wach dachte, was würde ich tun, wenn ich zurückgehen würde? Wenn ich zurückgehen könnte, um zu sagen, ’98 würde ich irgendetwas ändern, bedeutet dies auch, dass ich alles mit meinem jetzigen Wissen tun würde. Und ich würde alle Chancen aller Menschen, die ich getroffen habe, ändern. All die Dinge, die ich zum ersten Mal erlebt habe… Ich schaue zurück auf die 27 Jahre, in denen ich Shows gespielt und Alben gemacht habe, und ich denke, es ist ein unglaublicher Weg, eine unglaubliche Reise, denn jetzt haben wir das Album Electric Sun und das Beste kommt noch. Es gibt stets Gelegenheiten. Und ich bin immer noch hier, mache große Shows – sie werden größer, sie werden besser. Das genieße ich sehr.
Auf der Bühne erleben wir dich extrovertiert, wortgewandt, herzlich, aber auch humorvoll. Bist du privat auch so? Hältst du z.B. auch mit der Kassiererin im Supermarkt ein Schwätzchen?
Ja, ich war schon immer jemand der gut reden konnte, schon als Kind. Bei einem Live-Konzert entstehen eine Menge Adrenalin und Endorphine. Und es bringt eine tolle Seite in mir zum Vorschein. Kennst du das Wort “Altruismus”? Ich liebe es, dass die Leute etwas von dem haben, was ich tue, weil ich es mit ihnen teile. Ich habe schon vor langer Zeit gemerkt, dass in dem, was ich tue, eine Menge Aufwand und Stress steckt. Aber dadurch kann ich Konzerte geben, die die Leute glücklich machen. Ich habe viele Seiten. Ich kann sehr ernst sein, sehr versiert, oder sehr albern. Ich kann alles sein, aber auf der Bühne liebe ich es, unter Menschen zu sein, die mich zum Lachen bringen, und ich mag es, in Situationen zu sein, in denen ich etwas für jemanden tun kann, das sein Leben besser macht. All das sorgt für innere Zufriedenheit in meinem Leben. Das sind also die Wesenszüge, die in einem Konzert auftauchen, aber es gibt noch viele andere Seiten. Ich glaube, der Eindruck, den man auf der Bühne hinterlässt, kann die Leute auch in die Irre führen, denn wenn sie dich privat treffen, denken sie, du bist immer noch die Person die auf der Bühne steht. Das kann problematisch sein, wirklich problematisch. Weil ich nicht enttäuschen will, aber ich sehe ihnen natürlich an, was es ihnen bedeutet.
Aber ich habe viele Seiten, wie jeder Mensch. Ich kann glücklich sein, ich kann wütend sein, ich kann alles Mögliche sein, aber ich denke immer nach. Ich habe immer etwas zu sagen, und ich liebe es, mich mit Leuten auf Tour zu unterhalten, aktuell z.B. mit den Traitrs zu reden. Wir sitzen gemeinsam da und und unterhalten uns stundenlang miteinander. Es ist fantastisch. Ich habe auch viele Seiten, die live keine Rolle spielen, wenn ich z.B. da sitze und ein Buch lese. Das wirst du bei mir live nicht sehen. Ich mag durchaus meinen privaten Raum, denn ein Teil von mir ist introvertiert. Ich habe auch eine soziale Ader und diese hilft mir auch bei den Konzerten. Auf der Bühne habe ich meinen eigenen Raum. Niemand kann mir etwas anhaben, und ich kann so sein, wie ich mich fühle, wie ich wirklich bin, und wenn man das 20 Jahre lang macht, oder 30 oder 25, wie auch immer, wird es normal. Man lernt und entwickelt sich als Mensch weiter, und so bin ich nicht mehr so sozial ängstlich, was natürlich gut ist.
Foto © Michael Gamon
Welchen Moment deiner Karriere würdest du gerne noch einmal erleben?
Oh mein Gott. Wenn ich es mit den Augen sehen könnte, der ich einst war, so dass sich nichts ändert, würde ich gerne jede der Orchesteraufführungen sehen! Jede von ihnen, wirklich jede von ihnen! Besonders die in Wuppertal. Vielleicht auch das Gothic Meets Klassik, das war für mich so emotional. Wirklich über emotional. Und das M’era Luna 2003. Das war das große Ding. Man sieht es auf der DVD. Es gibt solche Momente, in denen ich etwas zum ersten Mal erlebt habe, und das war besonders intensiv. Es ist sehr schwer für die Leute zu verstehen, dass ich als Kind immer ein Problem hatte. Ich habe alles besonders intensiv empfunden. Alles berührte mich auf einer sehr tiefen Ebene. Es war fast so, als ob meine Emotionen, mein Einfühlungsvermögen auf die Spitze getrieben wurden. Und es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, wie ich damit umgehen kann. Jedes Mal, wenn ich eine solche Situation erlebe, sind die Gefühle so tief, so stark, unglaublich intensiv, dass es überwältigend wird und es sehr schwer wird, zu funktionieren. Als ich also beim Gothic Meets Klassik auftrat, kämpfte ich wirklich hart, denn es war ein Traum für mich, dies zu tun, mit diesem Orchester zu spielen, und ich erlebte die perfektesten und schönsten Momente meines Lebens. Diese Dinge würde ich gerne wieder erleben. Es gibt eine ganze Liste.
Erzähl uns von deinem schönsten Fangeschenk.
Oh mein Gott, das ist wirklich schwer. Das ist sehr, sehr schwierig. Ich hatte schon so viele seltsame Geschenke. Amerikaner machen einem wirklich sehr ungewöhnliche, aber unglaubliche Geschenke. Mir wurde mal eine Reise für einen Flug geschenkt – in einem Kampfflugzeug. Man hat mir auch angeboten, auf der Tribüne zu sitzen und den Start der Raumfähre zu beobachten doch ich konnte das nicht machen. Die Leute bieten dir Dinge an, mit denen sie sich für das bedanken wollen, was du ihnen gegeben hast. Sie überlegen, was sie einem zurückgeben können. Was jedoch immer zählt, sind die kleinsten Dinge. Denn selbst, wenn es nur ein Wort oder eine Geschichte ist, was ein Lied in ihrem Leben bewirkt hat oder ähnliches. Diese Dinge sind so viel wichtiger als jede kleine Schachtel oder Flasche, was auch immer. Es ist die Absicht der Person und wie wichtig es für sie ist, das macht die Stärke eines Geschenkes aus. Aber ich habe schon seltsame, wirklich seltsame Geschenke bekommen! Einige waren wirklich gruselig. Aber ich denke, die Geschenke, die den Personen am meisten bedeuten, sind die, die mich am tiefsten berühren und die ich nie vergessen werde.
Kommen wir zu dem neuen VNV Nation Album Electric Sun. Wie hast du den Releaseday verbracht? Warst du zu Hause und hattest ein Glas Sekt in der Hand? Hast du dich mit deiner Crew getroffen?
Nein, ich habe gearbeitet. Ich leite das Label. Eine Woche zuvor hatte ich Corona. Also kam ich von der Tour, ich nahm ein Antibiotikum für meinen Hals, das ich bekam, als ich die Kehlkopfentzündung hatte und ich hatte eine allergische Reaktion. Wir flogen also vier Tage später nach Zürich und ich wachte auf und mein Gesicht sah aus, als hätte ich die Pest. Als wir dann in Zürich ankamen, musste ich zu einem Hausarzt gehen. Er hat mir viele verrückte Medikamente gegeben und dann war alles wieder wieder ok. Am Samstag bin ich dann nach Hause gekommen. Sonntag bin ich ins Büro gegangen, weil ich gesagt habe, ich kann nicht pausieren. Ich habe keinen Moment, in dem ich mich entspannen kann und sagen kann, ich mache nichts. Und ich kam nach Hause und sagte zu meiner Partnerin, dass ich mich wirklich müde fühle, einfach erschöpft. Aber das ist normal. Eine Woche nach einer Tour ist die ganze Anspannung weg. Und man fühlt sich einfach müde und muss sich erholen.
Also ging ich früh ins Bett und wachte dann um 01:00 Uhr nachts mit starken Kopfschmerzen und Fieber auf. Ich habe vier Tage lang 22 Stunden am Tag geschlafen. Ich meine jeder, der Covid hatte, weiß wie das ist. Manche Leute hatten es leicht. Ich würde sagen, diese Woche war schlimm. Und ich habe das ganze Wochenende nicht gearbeitet, musste jedoch viele Entscheidungen für das Label treffen. Und ich dachte, ich will einfach nur, dass dieses Album endlich rauskommt, denn wenn man eine Produktion für ein Album macht, läuft das so: Du entscheidest im Juni, wir werden nächstes Jahr ein Album herausbringen, bevor wir auf Tour gehen, wir haben also genug Zeit. Alles wird fertig sein. Dann marschiert Russland in die Ukraine ein und plötzlich entstehen die Energiekrise und all die Lieferkettenprobleme, dazu kommen die pandemiebedingten Lieferkettenprobleme. Die Kosten für Papier etc. steigen. Die Produktionszeiten werden länger und länger und es gibt immer mehr Verzögerungen. Also alles, was schief gehen könnte, kann man nicht einplanen. Ich wurde im Dezember auch noch krankgeschrieben und musste ein Konzert absagen. Das kann man nicht planen, und ich steckte mitten in der Produktion eines Albums, also musste ich härter arbeiten, und dann gab es erneut drängende Probleme.
Es hieß, an einem Tag komme ein Lastwagen, an einem anderen Tag komme er nicht. Und wenn er nicht komme, verzögere sich die Veröffentlichung um eine Woche, zwei Wochen. Dann haben wir gesagt, ok, wir brauchen alles bereits zwei Wochen vor dem Veröffentlichungstag. Niemand sonst besteht darauf, aber Amazon wollte es so. Das bedeutete also, dass unsere Alben eine Woche früher fertig sein mussten und ich habe gesagt, ich kann das so nicht veröffentlichen. Es verzögert sich, aber ich kann das inmitten in einer Tournee regeln. Also muss das Album am Ende der Tournee herauskommen. Dann haben wir noch vier Wochen Zeit. Und es gibt nichts, was du tun kannst. Aber als es dann endlich veröffentlicht wurde, habe ich meine Exemplare am Mittwoch erhalten. Am Freitag der Folgewoche war der Erscheinungstag. Und ich habe das ganze Wochenende damit verbracht, mit Leuten zu sprechen, die ihre Exemplare vorab bekommen haben. Es gab tatsächlich einige Einzelhändler, die das Album 1,5 Wochen vor dem Release Day verschickt haben. Ich habe herausgefunden, dass echt viele Leute schon ihre CDs bekommen haben und es ist sehr einfach, eine CD zu nehmen und sie online zu stellen. Und wenn sie online ist – Bye Bye Veröffentlichungskampagne.
Dahinter steckt meine Investition, sprich meine Kosten. Es ist keine große Firma! Das bin ich. Wenn jemand so handelt, verletzte er meine Kampagne und zerstört sie. Aber das Erstaunliche ist, dass niemand das Album geteilt hat. Niemand! Und ich dachte, das ist eine beachtliche Sache. Niemand wollte sagen, dass er ein Exemplar hat, aber ich habe das ganze Wochenende damit verbracht, mit Leuten zu reden. Ich sagte: “Bitte teilt es nicht.” Und es war großartig. Ich glaube, es entstand dazu eine viel stärkere Verbindung zu den Fans, als ich auf Facebook schrieb, wie ich die Dinge und das Album sehe. Wir sind uns in gewisser Weise näher gekommen. Und ich war wirklich erstaunt über die Resonanz. Aber selbst in der Woche vor der Veröffentlichung arbeite ich jeden Tag und versuche, Dinge zu erledigen, und dann kommt der Veröffentlichungstag und ich denke: Will ich Alkohol? Nein, das will ich nicht. Ich saß auf dem Balkon, es war ein schöner warmer Abend. Und ich dachte einfach über den ganzen Prozess der Herstellung nach. Heilige Scheiße, das war verrückt. Aber es war vielleicht notwendig, weil ich mich mehr anstrengen musste. Und indem ich mich mehr anstrengte, entstanden mehr Ideen. Ich hatte ein sehr klares Konzept für das Album, bevor ich anfing. Aber ich musste mich noch mehr anstrengen, damit es funktioniert. Aber es hat mich auch geschwächt, denn ich war krank, was bedeutet, dass ich, wenn ich weiter nonstop arbeite, auf der Tour krank werde, und das ist passiert. Man muss also bedenken, dass alles einen Dominoeffekt hat, aber man hat keine andere Wahl. Entweder man arbeitet, oder es gibt kein Album. Aber es hat funktioniert, es hat sich ausgezahlt.
Welcher Moment ist für dich aufregender? Der Releaseday oder der Augenblick, in dem du die neuen Songs zum ersten Mal live performst?
Oh nein. Der Freigabetag ist einfach, weil man die Reaktionen sieht. Viele Künstler sorgen sich auch davor, denn es ist mein Output, meine Art, es ist sehr schwer, Kommentare zu lesen, in denen die Leute sagen: “Ich mag das nicht, weil blablabla.” Du gibst etwas von deiner Seele preis, also hast du eine emotionale Bindung. Für ein Label ist es einfacher, das zu lesen. Jeder Künstler hat ein Problem damit, Kommentare zu lesen. Sie wollen sie nicht lesen, sie haben Angst, dass die Leute mich verletzen oder dass die Leute nicht verstehen, wie man so etwas macht und was es bedeutet, ein Album zu machen. Aber ich konnte es nicht glauben, diese Reaktionen. Noch nie in meiner Karriere habe ich eine solche Reaktion erlebt. Und sie folgten ununterbrochen. Die Leute schrieben mir, Freunde die ich seit 10 Jahren nicht mehr gesehen hatte, riefen mich an und fragten mich “WTF – Was hast du denn da herausgehauen?” Und am Tag der Veröffentlichung haben mir viele Leute von ihren Erfahrungen erzählt. Es folgten persönliche Kommentare von besten Freunden.
Ich habe mit dem Mischer gesprochen und allen anderen Beteiligten gesprochen. Sie sagten nur, dass es vorbei ist, es ist vorbei. Es waren zehn Monate solider Arbeit nötig, um dieses Album zu erschaffen und es gab so viele zufällige Dinge, die mich aufhalten wollten. Doch ich nahm das als ein Zeichen, dass ich damit zeigen kann, dass ich mich durchsetzen und diese Probleme überwinden kann. Denn wie ich im Song Invictus sage: “Wenn du es versuchst und scheiterst, steh auf und fang neu an.” Dies sind Worte, die im 18. Jahrhundert von einem amerikanischen Präsidenten geschrieben wurden. Ich habe sie gelesen, als ich jünger war, und die mich heute noch begleiten. Der Akt des Versuchs, der Akt des Scheiterns gehört zum Prozess des Gewinnens dazu. Ich denke, das ist etwas, was wir den Kindern heutzutage nicht beibringen. Scheitern ist der beste Teil des Prozesses. Wenn alles funktioniert, denkt man, dass es immer klappen wird.
So funktioniert die Welt aber nicht. Ich habe vor langer Zeit gelernt, etwas anderes zu finden, das ich tun kann, wenn gerade etwas nicht funktioniert und ich es heute nicht erledigen kann. Ich habe immer versucht, diese Zeit für etwas zu nutzen. Denn ich muss den Prozess beibehalten, weiterarbeiten. Jede Minute meiner Zeit wird weiterhelfen. Und wenn ich nicht an Musik arbeite, sondern an Papierkram oder so, kommen mir immer neue Ideen in den Hinterkopf. Und das sind oftmals die besten Ideen.
Was hast du bei diesem Album anders gemacht? Es scheint noch mehr aus einem Guss erschaffen zu sein. Einzelne Momente spürt man intensiver, als je zuvor. Du singst noch passionierter – teils auch ernst oder wütend. Zwischendurch musste ich mal an Frika zurückdenken.
Oh, das ist interessant. Es ist eine Stimme, aber mit verschiedenen Stilen. Ich habe eine Menge Musik gehört. In den Jahren der Pandemie auch viel recht schräge Musik. Und ich habe meine ganze Zeit damit verbracht, mich der Musik auszusetzen, die ich mag. Was hat sich also geändert? Bei anderen Alben hatte ich nicht immer die besten technischen Voraussetzungen, um das zu erreichen, was ich wollte und ich dachte immer, ich hätte eine tolle Ausrüstung. Es wird schon gut klingen. Auf ihre eigene Art und Weise klingen sie auch großartig. Aber ich hatte eine Idee für dieses Album, die so viel größer war. Es ist also ein Gefühl, es ist ein abstraktes Bild. Es ist ein Konzept. Und daraus wachsen die Emotionen und ich glaube, ich wurde in vielerlei Hinsicht reifer. Ich meine, mit dem Eröffnungstrack Electric Sun begann ich ein cineastisches Album zu machen. Als wir zuletzt auf dem M’era Luna spielten, sagte ich, dass das nächste Album dunkler sein werde. Aber nicht im negativen Sinne.
Ich war schon immer ein Mensch, der seine Gedanken und Beobachtungen über die Welt mit anderen teilt. Ich tat es z.B. auf Judgement. Aber nicht bei allen Liedern. Das Gleiche gilt für Electric Sun. Ich hatte eine Menge cooler Leute, die mit mir gearbeitet haben. Einer von ihnen war ein Tontechniker, denn ich brauchte jemanden, der mir half, um Zeit zu sparen. Er saß einfach am Computer und drückte die Knöpfe. Aber seine Erfahrung… Ein toller Typ, er hatte eine tolle Persönlichkeit. Wir haben den ganzen Tag geredet und dann haben wir drei Stunden gearbeitet. Wir hatten so viel Spaß beim Reden und es war eine großartige Erfahrung. Aber manchmal wusste ich nicht, woher diese Stimme kam, wenn ich sang. Ich habe genau das gesungen, was ich mir vorgestellt habe, als ich die Lieder geschrieben habe. Und ich habe verschiedene Lieder geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war alles anders und neu. Ich habe einfach die Musik geschrieben, die mir gefiel und die mir Spaß machte. Und ich dachte ehrlich gesagt, dass es für die allgemeinen Fans schwierig sein würde, das aufzunehmen oder zu verstehen. Ich dachte, mit einem Song wie Electric Sun würden sie es vielleicht verstehen.
Dieser ist inspiriert von der Musik der späten 50er und frühen 60er Jahre. Also lange, bevor es Soundtracks gab. Auch wenn manche Leute sagen, es klingt wie ein James Bond Soundtrack. Aber dieser Stil, selbst der Stil der James Bond Soundtracks, entstammt einer früheren Musik und ich habe mich von vielen verschiedenen Liedern inspirieren lassen. Ich habe mir das Album noch einmal angehört und merke dann ‘oh, jetzt weiß ich, woher diese Idee stammt.’ Es ist keine Kopie einer Idee. Es ist die Inspiration eines Gefühls, wie eine Melodie gespielt wird. Ich wollte einfach etwas Größeres, und als ich die Vocals aufnahm, habe ich wirklich so gesungen, wie ich wollte und konnte. Denn in der Vergangenheit hatte ich nicht die technische Hilfe und das Setup, um das zu tun. Ich habe einige eher simple Songs wie Carbon oder Matter und Form. Bei Matter and Form und Chrome habe ich einst ganz anders gesungen. Aber es kommt darauf an, wie es abgemischt ist. Die Person, die arbeitet und dir sagt: “Nein, nochmal und nochmal.” Ich bin nicht die Person, die diese Entscheidungen treffen sollte. Jemand anderes muss es außerhalb meines eigenen Kopfes hören.
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Als ich das Studio für Noire geschaffen habe, suchte ich nach einem passenden Platz dafür. Ich war verzweifelt und hatte keine passenden Möglichkeiten für die ideale Lösung. Ich wurde nicht fündig. Jemand baute dann einen Raum für mich und es klang einfach schrecklich. Als ich also dieses Album machte, habe ich wirklich versucht, es so gut wie möglich klingen zu lassen, aber ich musste an anderen Orten arbeiten. Ich hatte nicht diesen einen Raum, dies änderte ich. Jetzt habe ich meinen passenden Raum, ich habe mir genau das aufgebaut, was ich aus all den Erfahrungen gelernt habe, denn ich wusste nicht, wie lange die Pandemie dauert. Aber ich wollte einen Raum bauen, der alles hat, was ich brauche, und ich kann hier nun jedes Stück Musik machen, das ich jemals machen wollte. Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal das zu schaffen, was ich wollte. Aber ich wollte auch, dass es anders wird. Mit viel größerem und besserem Sound.
Und die andere Sache ist, dass man nicht entscheiden kann, welche Songs man schreibt. Sie entstehen von selbst. Es ist z.B. etwas in meinem Kopf. Man könnte sagen ,nein, nein, nein, ich will diesen Song nicht haben, das ist kein VNV-Song’. Das ist Blödsinn. Meine Alben sind so vielfältig. Sie sind orchestral, es geht über Balladen bis hin zu harten, dunklen Nummern und so weiter. So etwas wie einen VNV-Song gibt es nicht. Ich habe einfach gemacht, was ich wollte. Die Leidenschaft war da, und ich arbeitete mit diesem Konzept, isoliert von der Welt. Es war perfekt. Alle Gefühle waren da. Es war großartig, z.B. At Horizons End zu schreiben. Ich habe ein Stück geschrieben, das genau diesem Gefühl entsprach, das ich erzeugen wollte. Aber als ich die Vocals aufnahm, konnte ich sie genauso singen, weil ich wusste, wie sie in meinem Kopf klingen. Ich hatte dieses Gefühl und die richtige Ausrüstung. Und ich hatte die Person, die ich brauchte, um diese Idee zu verwirklichen. Das war die Person, die es mit mir zusammen gemixt hat. Alles kam zusammen, um es geschehen zu lassen. Zusätzlich kamen am Ende Leute hinzu, die mir Zeit ersparten, weil ich diese allmählich verlor.
Und sie wurden zu den besten Leuten, mit denen ich je gearbeitet habe. Sie haben mir geholfen, so zu singen, wie ich es normalerweise auch tue, aber all ihre Tipps waren sehr wertvoll. Es beispielsweise mit so einem Mikrofon, mit diesem Mixing, mit diesem Schnitt… zu versuchen. Ich sagte, “Ok, wir haben fünf verschiedene Versionen. Welche magst du?” Ich habe diese Entscheidungen sonst auch immer getroffen, aber es war ein Prozess, der mir geholfen hat, mehr zu bekommen, als ich jemals zuvor erreicht habe, und ich konnte ein Album machen, das so besonders klang. Ich habe mir vor Electric Sun noch nie ein eigenes Album, viermal täglich angehört. Denn es ist wirklich so nah dran, wie ich ein Album klingen lassen wollte. Es gibt da diesen Moment. Wenn du mit allem fertig bist, wartest du ein oder zwei Monate, und dann sagst du ,Wer zum Teufel hat das gemacht? Ich bin nicht mehr diese Person.’ Es erscheint wie eine andere Person in dir selbst. Und ich habe in den letzten Jahren so viele Songs geschrieben. Ich habe auch an Dingen gearbeitet, die nichts mit Musik zu tun habe. Doch die Melodien sind einfach in meinem Kopf entstanden. Das ist ein Mechanismus in mir. Und damit geht es los. Ich habe die Melodie, mache mir Notizen und ein schnelles Demo.
Ich hatte 85, manchmal 90 Songs, mit denen ich arbeiten konnte. Einige von ihnen waren sehr fortgeschritten, andere bestanden nur aus einer Melodie. Aber es sind Songs, die ich auf Electric Sun verwendet habe. Es gibt eine Menge Songs, die nie benutzt und nie weiterentwickelt wurden. Ich wollte sie eigentlich auf dem Album haben, doch am Ende habe ich sogar vier Songs geschrieben, während ich das Album machte. Du sitzt da, arbeitest an einem anderen Song und plötzlich spielst du eine Melodie und denkst dir, ,oh wow, wie wäre es damit?’ Und diese Melodie bringt dich dazu, dir den ganzen Song vorzustellen und plötzlich fließt alles. Es hat sich einfach so angefühlt, als wäre ich in einem natürlichen Raum und ich denke, dass auch der Stil des Albums meine Stimme mehr zum Vorschein bringt. Man singt anders, man fühlt sich anders. Alles fühlte sich anders an: Ich habe einige Songs gemacht, zu denen die langjährigen Fans noch immer eine Verbindung finden. Aber ich möchte, dass sie auch hören, wohin ich gehe. Das ist der Weg, den ich gehen will. Ich will einen Film machen, der nie gedreht wurde.
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Hätte Electric Sun ohne die Pandemie anders geklungen? Wir hatten schließlich auch starke Gefühle zu der Zeit.
Ich war glücklich, ich war wirklich glücklich. Ich bin sehr selbstständig. In einer Notsituation weiß ich genau, was zu tun ist. Ich gehe direkt in einen Modus. Ich saß also mit meinen Lieben zusammen. Wir mussten uns schützen. Ich sagte zu meiner Partnerin: “Das sind unsere Rollen. Du musst arbeiten, ich werde mich um den Hausputz kümmern, ich gehe in den Supermarkt usw. und werde vorsichtig sein.” Mein Studio ist nur eine zehnminütige Autofahrt von unserem Haus entfernt. Wir wurden ein Team und diese kleine Einheit wurde großartig, weil ich in meiner eigenen Welt sein konnte. Einer der größten kreativen Anstöße, die man haben kann, ist übrigens Langeweile. Am Telefon zu sitzen und zu lesen, wie beschissen die Welt ist, hilft niemandem. Also leg das Handy weg.
Ich glaube, es hätte tatsächlich anders geklungen. Denn Ende 2019 hatte ich bereits ein Konzept für ein Album. Allerdings ein ganz anderes. Und das wäre auch etwas gewesen. Ich denke immer noch darüber nach, denn diese Songs sind eine Herausforderung und ich werde sie auch noch machen. Seitdem Electric Sun fertig ist, denke ich schon über das nächste Album nach. Also, die ganze Zeit über dachte ich, dass ich alles habe. Sei es, als ich das Studio gebaut habe oder danach, denn dann hatte ich meinen Rückzugsort. Ich konnte nicht sagen, dass mir dieses oder jedes fehlte, also sagte ich mir: Ronan, es ist Zeit abzuliefern!
Im zweiten Teil haben wir u.a. über die poetischen Texte von VNV gesprochen. Zudem hat uns Ronan seine Gedanken hinter der lyrischen Single Before The Rain erklärt. Es ging auch um künstliche Intelligenz, Tipps für Newcomer Bands und einen dunklen Moment in seiner Laufbahn, in der er VNV Nation fast aufgegeben hätte. In wenigen Tagen erscheint der zweite Teil unseres Interviews.
Update: Den 2. Teil unseres Interviews findet ihr hier.
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