Seit über dreißig Jahren sind VNV Nation ein fundamentaler Bestandteil der Schwarzen Szene. Mit ihrer alternativ-elektronischen Musik werden sie dabei nicht müde, ihren eigenen Weg zu gehen. Sich musikalisch begrenzen zu lassen, liegt Ronan Harris glücklicherweise fern. Dies ändert sich auch mit dem neuesten Werk nicht – im Gegenteil.
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Mit ihrer Electric Sun laden uns VNV Nation zu einer bewegenden Reise ein. Vor mir liegt dieses kleine, runde Prachtexemplar – edel eingebettet in ein Hardcoverbüchlein. Neben den Lyrics befinden sich fantasievolle Illustrationen von Rodolfo Reyes und Michal Karcz in dem Booklet der besonderen Art. Die beiden haben ihre Assoziationen einer anderen Welt zu Papier gebracht und lassen uns daran teilhaben. Auffallend ist das Spiel aus Licht und Dunkelheit. Dieses wird auch noch in den Songs eine bedeutende Rolle spielen. Auf der letzten Seite befindet sich zudem noch ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe, das uns thematisch perfekt auf den Longplayer einstimmt und die Sehnsucht nach einer anderen Welt passend unterstreicht.
Doch wer meint, in dieser anderen Welt erwarte uns der Garten Eden, der irrt. Stattdessen führt uns die gewählte Utopie vor Augen, wie egoistisch, kalt und unberechenbar die Menschheit doch ist. Nutzt sie doch all ihr Wissen, samt der fortschreitenden Technologien, um etwas neues entstehen zu lassen. Leider hat dies jedoch einzig den Hintergrund, sich selbst Vorteile zu verschaffen. Alles dreht sich nur noch um neue Technik, sie ist der Schlüssel zum Glück. Man eifert ihr blind nach und übersieht dabei, dass dies auch Tücken hat. Schnell scheint man nicht mehr ohne die Technologien leben zu können. Der wichtige Blick auf die Mitmenschen scheint zu entgleiten… wo bleibt das Miteinander? Verliert man sich bei diesem Wahn gar selbst? Was wäre die Natur noch wert? Und was passiert, wenn die Technik gefährliche Züge annimmt?
Wenige Stunden vor Veröffentlichung der Electric Sun meldete sich Ronan in einem Facebook Posting zu Wort und er hatte eine wichtige Bitte:
Wenn du es endlich zu hören bekommst, erweise mir bitte die Ehre und höre es dir von Anfang bis Ende an. Ich habe mehrere Leute dabei beobachtet, wie sie es so gehört haben und die Reaktionen waren rein und sehr emotional. Electric Sun ist wie der Soundtrack zu einem Film, der noch nicht gedreht wurde.
Fünf Jahre ist es bereits her, dass mit Noire das letzte Album der Band erschien. In dieser Zeit ist viel passiert. Über uns alle brach die Pandemie einher. Und auch Ronan hatte bereits Ideen und Pläne für ein neues Werk, die er dann doch wieder verwarf. Waren die letzten Jahre doch prägend für uns alle, so hatte auch der gebürtige Ire die Möglichkeit zu reifen, sich selbst nochmal weiterzuentwickeln, aber auch sein Studio so perfekt auszustatten, dass er mit alledem ein bestmöglichstes Ergebnis erzielen konnte. Nun erwartet uns das intensivste und gereifteste Album in der Geschichte der Band. Dazu wissen die Lyrics mit ihrer tiefgründigen und poetischen Schönheit zu betören.
Der Titeltrack zieht einen direkt mit der Electric Sun in seinen Bann. Die herausragende Stärke dieses Albums dringt einem direkt ins Gehör, setzt Gefühle und eine innere Bilderwelt frei. Zart und doch mächtig, wohltuend hymnisch und dann dramatisch orchestral – unterlegt von anklagendem Gesang. Während die Menschheit davon träumt, selbst eine elektrische Sonne zu erschaffen, hat die Bevölkerung längst die Kontrolle über sich selbst verloren und vermag dabei diesen Verlust nichtmal wahrzunehmen. “Running backwards, crying ‘forward’. Like a battle can be won.”… “We can’t accept we’ve no control. Racing helpless through the aether. Staring outward from our world.”
Before The Rain ist wohl ein Song, der einem am vertrautesten erscheint. Beinhaltet er doch einige uns wohlbekannte Elemente aus der hiesigen Klangwelt von VNV. Als Ronan den Clubtrack als erste Single ausgekoppelt hat, ahnten wir nichtmal ansatzweise, was uns auf dem folgenden Album erwarten würde. Eine bezaubernde Cyber Love Story, gespickt mit lauter kleinen Metaphern zeigt uns, wie stark die Liebe in einer zerrütteten Welt sein kann. Auch hier spielt das Licht mit all seinen Facetten und Farben eine wichtige Rolle. Seien es all die bunten Lichter in der Stadt, der faszinierende Regenbogen, oder die kleinen Regentropfen, die in einem heftigen Schauer wie winzige zerbrochene Spiegel erscheinen.
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Dunkle Klänge umgarnen in The Game eine hellere, wohltuende Pianomelodie. Es entsteht eine sphärische Atmosphäre. Dazu wird ein verführerisch riskantes Spiel besungen, in dem stets der Macher gewinnt. Treibend prescht Artifice voran und wurde bereits neben dem aufrüttelnden Track Invictus auf der aktuellen Tour gefeiert. Ersterer kommt mit satten EBM-Beats daher und lässt einfach niemanden stillstehen. “Count to three, bring the world to its knees. A million ways to live or die. Time to put on a show ’cause there’s no place to go.” Die Welt hat längst einen kritischen Scheitelpunkt überwunden und dennoch geschehen weiterhin endlose Verbrechen und verlogene Taten.
Funkelnd und verspielt kommt das instrumentale Stück In The Temple daher, das den zweiten Part der Electric Sun einleitet, gegen Ende scheint die Zeit hinfort zu ticken. Mit Prophet folgt ein quirliger Song, den wir bereits ebenfalls live erleben durften. Ernste Beats unterlegen dabei die einnehmenden Lyrics. “Join the movement! Join the cause! Exalt our names as its own reward. Don’t give it to others, give it all to us. We’re selling betrayal in exchange of trust.” Sind die selbsternannten Propheten doch stets auf der Jagd nach neuen naiven Anhängern, die sich ihrer vernichtenden Bewegung anschließen.
Bedrückend beginnt Wait und erweckt ein beklemmendes Gefühl. Die zweite Single wurde mittlerweile in drei verschiedenen Versionen veröffentlicht. Neben der Singleausgabe folgte ein Extended Mix und nunmehr eine nochmals variierende Albumversion. Mahnend und bezaubernd zugleich umgarnt einen dieses Stück ohnegleichen. Und bis heute kann ich mich nicht entscheiden, welche der drei Versionen ich bevorzuge. Stattdessen mag man sie einfach wieder und wieder hören. Wobei der Titel auch durchaus eine Fortsetzung von All Our Sins – dem Abräumer des Vorgängeralbums sein könnte. Im mittleren Part nimmt sich der Sound gänzlich zurück und sanfte Streicher gesellen sich fast zärtlich hinzu, ehe der Track nochmal richtig Anlauf nimmt und man sich zu der traumhaft schönen Melodie in Trance tanzen möchte. Und während alle von besseren Zeiten sprechen, stellt sich diese Annahme als Trugschluss heraus. Denn während die Herrscher ihren Reichtum vergeuden, statt den Hungernden zu helfen und der Untergang der Welt bevorsteht, denken weiterhin alle an sich, versinken in Selbstmitleid und erstarren in Apathie. Ronan singt seine Lyrics mit fester Stimme und niemand vermag seine Anklage anzuzweifeln.
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Eine dramatische Ballade erwartet uns mit At Horizons End. Diesen Song möchte man gern eines Tages im orchestralen Gewand dargeboten bekommen. Run begegnet uns voller Leidenschaft. Mit inbrünstiger Stimme fragt uns Ronan, wie man weitermachen und nach vorn blicken soll, wenn man gerade erst alles verloren hat. “Passions rise! And a voice cries out inside. When what I know and love is gone. Where should I go? Where should I run?” Hoffnung strahlt der folgende Track Sunflare aus. Der Protagonist wird ermuntert, drohenden Gräueltaten zu entfliehen und in fremde Länder zu ziehen, dabei auf sich selbst zu vertrauen und möglichen Fallen auszuweichen. “All our hopes and all our love. Our greatest wishes go with you. May you find the place that you were meant to find. Hold on to your truth, to serve you well. Words conceal – they are deception. Trust the signs, not the promises!” Dabei erinnert einen der Sound immer wieder an Sonnenstrahlen, die den Weg des Reisenden zu säumen scheinen. Unsere aufregende Reise nimmt mit dem instrumentalen Finisher Under Sky und all seinen Streichern ein beruhigendes und beglückendes Ende.
Aufgewühlt und beeindruckt lässt einen dieses Album zurück. VNV Nation klingen perfekter und moderner denn je. Zudem wirkt der Silberling, wie aus einem Guss geschaffen. Sich nach all den Jahren nochmal selbst zu übertreffen und dieses Werk dann mit einer gewissen Ehrfurcht vor sich selbst zu hören, muss ein überwältigendes Gefühl in einem Musiker auslösen. An dieser Stelle möchte ich unbedingt die immense Intensität von Ronans Stimme hervorheben, die mich auf diesem Album ganz besonders begeistert. Im Ganzen regt der Neuling zum Nachdenken an und man hinterfragt durchaus das eigene Handeln. Ich empfehle wärmstens, den Lyrics eine besondere Beachtung zu schenken. Diese Gedankentiefe gepaart mit lyrischer Poesie sucht durchaus ihresgleichen. Die Electric Sun ist übrigens ebenfalls in zwei Vinylversionen und in einer limitierten Fanbox Edition erhältlich.
Tracklist VNV NATION – Electric Sun:
01. Electric Sun
02. Before The Rain
03. The Game
04. Invictus
05. Artifice
06. In The Temple
07. Prophet
08. Wait
09. At Horizon’s End
10. Run
11. Sunflare
12. Under Sky
Weblinks VNV NATION:
Homepage: www.vnvnation.com/
Facebook: www.facebook.com/VNVNation
Instagram: www.instagram.com/vnvnationofficial