Der Kulttempel in Oberhausen steht vor allem für gepflegte Electro-Musikabende und ausgezeichnete Partys. Aber die heilige Stätte von Peter Jurjahn kann auch anders: Mit Coppelius und Aeronautica stand Saitenmusik auf dem Programm – in Form von “Kammercore” und folkig-steampunkigem Rock. Die aktuelle Konzertreise der Berliner Institution Coppelius zum aktuellen Langspieler Abwärts stand unter dem Motto “220 Jahre Coppelius”, denn zur fiktiven Vita der Band gehört das Gründungsjahr 1803.
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Doch zunächst durften die Dortmunder Steampunker Aeronautica den Reigen eröffnen. Trotz Stimmproblemen des angeschlagenen Vokalisten Tobias wagten die Luftschiffer die Fahrt. Schon vorher gab es einen humorvollen Moment, Drummer Ben trug nämlich einen Hoodie mit der Aufschrift “Drummer-Queen”. Als Freund von flachen Wortspielen kann ich da nur meinen Hut ziehen. Der Sound war von der ersten Reihe aus zunächst nicht besonders gut durchmischt, man hörte vor allem die Drums überdeutlich und wenig Gitarre. Das besserte sich glücklicherweise im Verlauf des Sets. Die Jungs und natürlich das famose Mädel am Bass haben übrigens einiges drauf und konnten ihre Aufgabe als Support-Act, die Menge warmzuspielen, mühelos erfüllen. Das Set begann mit dem Opener der 2019er Scheibe Der Himmel brennt, also mit Wermaschine. Nach der üblichen Begrüßung, bei der Tobias daran erinnerte, dass eines ihrer letzten Konzerte “vor dem großen C” hier stattgefunden hatte, gab es als nächstes schon direkt einen neuen Song namens Wir fliegen wieder zu hören. Dem Publikum gefiel das neue Material sichtlich.
Das Luftschiff-Motiv verbindet die beiden Bands Aeronautica und Coppelius. Bei beiden besteht die Sehnsucht nach den Weiten des Himmels und der ungezügelten Freiheit im Luftstrom. Die Band wies darauf hin, dass der Song am 17.03.2023 rauskommt, aus heutiger Sicht ist er also bereits abrufbar. “Bitte alle ganz viel streamen! Unterstützt uns”, lautete der Aufruf. Für den Song Im ewigen Eis holte die Band sich Unterstützung auf die Bühne: Clara verstärkte den Sound um ihre Vocals als “Königin” und Tobias griff dafür auch zur Gitarre. Ausgerechnet ein Coversong hat sich mittlerweile zu einem All time-Favourite der Aeronautica-Fans gemausert. “Wir waren weit draußen mit unserem Luftschiff über dem Meer und da sahen wir… eine Insel!”, erklärte die Band und läutete natürlich damit den Klassiker, das Lummerlandlied ein. Clara unterstützte auch hier tatkräftig und dieser Song macht in der rockig-aufgepeppten Version von Aeronautica einfach nur Spaß. Der sehr metalige Song Spieglein, Spieglein enthielt auch den von Konstantin Wecker geprägten Ausruf “Sage nein!”. Ein wenig politisch wurde es also auch noch. Gegen Ende des Sets konnte Bassistin Jessica auch nochmal beweisen, was sie am Mikro draufhat. Eine tolle Einführung in den Abend haben die Dortmunder hier geliefert.
Setlist Aeronautica @Oberhausen, Kulttempel (10.03.2023)
01. Wermaschine
02. Wir fliegen wieder
03. Das Ende der Zeit
04. Im ewigen Eis
05. Lummerlandlied (Eine Insel mit zwei Bergen)
06. Pech & Schwefel
07. Spieglein, Spieglein
08. Schwarz
Weblinks Aeronautica:
Homepage: aeronautica-band.de
Facebook: facebook.com/AeronauticaOfficial
Instagram: instagram.com/aeronauticaband
Coppelius bewiesen schon im Vorfeld Herz und Humor. Ein Geburtstagskind in der ersten Reihe bekam kurzerhand ein aus Zahnstochern und einem Pizzabrötchen hergestelltes… Tier überreicht. Ob es ein Schaf oder eine Kuh sein sollte, werden wir nicht erfahren, aber es gibt Extrapunkte für die Kreativität. Die Rückkehr des Kastanienmännchens in neuer Form! Das Set der mit allen Wassern gewaschenen Truppe begann folgerichtig auch mit dem Song Rainmaker. Und schon beim Folgesong Rightful King, einem The Inchtaboktables-Cover und wie der Opener auf dem aktuellen Album Abwärts beheimatet, zog es Le Comte Caspar samt seiner Klarinette mitten ins Publikum. Solche Einlagen erwartet man üblicherweise am Ende des Sets, aber hier bekam man etwas geboten für seine Thaler! Es gab heute eine Menge Abwärts, aber dafür war das Auditorium ja auch angereist: Um das mittlerweile nicht mehr ganz neue Album endlich live zu hören nebst einigen Schätzen aus der – man glaubt es kaum – 220jährigen Bandgeschichte!
Der Comte hatte vorab im galvanischen Netz wiederholt dazu aufgerufen, man möge ihm doch bitte Blütenblätter mit zu den Gigs bringen. Wieso, enthüllte sich bei der Performance des Songs Mein Grab. Gleich drei der Herren trommelten das Intro auf der Instrumentenkonstruktion, bestehend aus einem Metallrahmen und einer dicken Feder, doch le Comte verließ einige Takte zu früh die Formation und kehrte lauthals lachend zurück, um noch schnell fertigzumetallophonen. Fehler und Outtakes sind doch das größte Gaudium! Die Eigenkonstruktion nahm übrigens im Verlauf des Abends Schaden (so ein Rockkonzert ist schließlich kein Ponyschlecken, da geht es ordentlich zur Sache) und musste mitten im Konzert von Bastille notrepariert werden. Aber dennoch zeigte sich hier wieder: Die Feder ist mächtiger als das Schwert! Natürlich gab es dann auch an der passenden Stelle im Song den erwarteten Blütenblätterregen. Wundervoll!
Was sich als roter Faden durch den Abend zog, waren die recht konfusen Ansagen von Bastille. Immer wieder verzettelte er sich in seinen Sätzen, machte lange Pausen und kündigte Lieder an, die gar nicht auf der Setlist standen. Nun erwähnte er jedenfalls die 220 Jahre Bandgeschichte, in der 128 Tonträger entstanden sein sollen, die meisten davon allerdings “verschollen oder der Zerstörungswut von Sissy Voss zum Opfer gefallen”. Als er nun fälschlicherweise Time – Zeit ankündigte, erntete er Kopfschütteln der Kollegen, die stattdessen lieber Der Handschuh anstimmten. “Es war nicht mein Fehler!”, beteuerte er. “Alle haben Schuld, auch SIE! Die Ansage, die ich gerade gemacht habe, müsste jetzt eigentlich kommen. Time – Zeit!”. Die Kapelle Coppelius spielte aber lieber Urinstinkt. Um es gleich vorweg zu sagen: Das nun vielfach erwähnte Stück stand überhaupt nicht auf der Liste und erfreute sich auf den Touren der Vergangenheit zwar großer Beliebtheit, musste dieses Mal aber aussetzen. Nun sollten wir Zeuge eines angeblich basisdemokratischen Aktes werden. Man habe sich nicht entscheiden können, welches Stück man vom 2009er Album Tumult spielen solle, so Bastille. Daher seien aus acht Stücken im Internet drei ausgewählt worden und man würde nun das Gewinnerstück auf der Bühne ziehen lassen.
Aus dem Publikum stieg das Fräulein Selina Otto herauf und steckte ihre Finger in den bereitgestellten Hut, der vorher aber erst einmal gründlich entrümpelt werden musste. Allerhand Konzertrequisiten landeten auf dem Bühnenboden. “Ziehen Sie nun einen Zettel- NICHT DEN!” rief Bastille, woraufhin Fräulein Selina einen Zettel mit der Aufschrift “Gedicht” zu Tage förderte. Bastille rezitierte daraufhin entrückt ein kurzes Poem, bevor es dann musikalisch mit Diener 5er Herren weiterging. Bastille führte gekonnt durch das umfangreiche Werk der Band und präsentierte unterhaltsame Stücke von nahezu jedem Album. Vor Kein Land so schön erinnerte er an die Zeit, als die erste Steampunk-Oper der Welt Klein Zaches genannt Zinnober in Gelsenkirchen uraufgeführt worden war und an die Weggefährten wie Sebastian und Ulrike Schwab, aber auch Rüdiger Frank, der damals die Hauptrolle des Klein Zaches gespielt und gesungen hatte. Frank ist mittlerweile leider verstorben, weshalb ihm das Lied gewidmet wurde. Und auch noch andere traurige Mär war mittlerweile zur treuen Anhängerschaft vorgedrungen.
Nach Der Luftschiffharpunist, das auch die Brücke zur Vorgruppe Aeronautica geschlagen hatte, sprach der Diener: “Es wird kurz ernst, denn es geht um ein ernstes Thema. Um Erpressung! Ich mache das nicht gerne, aber es geht nicht anders. Ich erpresse Sie alle! Das gehört sich nicht und ist zudem strafbar, aber wenn es doch unter uns bleibt… Es geht um den Ausstieg des Grafen Lindorf aus der Kapelle. Ich erkläre es kurz: Wir hatten eine Besprechung im Herrensitz und dann kam Herr Lindorf mit kurzen Haaren rein und Max Coppella bemerkte daraufhin, dass man Menschen mit kurzen Haaren nicht trauen kann. Und Herr Lindorf sagte daraufhin: Wenn das so ist, mache ich nicht mehr mit! Vielleicht liegt es aber auch am Geld und da kommen Sie jetzt alle ins Spiel. Ich erpresse Sie! Sie haben bis zum 19.03. Zeit. Wenn Sie bis dahin nicht 750.000 Euro auf PayPal einzahlen, wird Graf Lindorf die Kapelle Coppelius verlassen! Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Stücke, wie das folgende, wie soll das ohne den Herrn Grafen Lindorf gelingen?” Der Fahnenflüchtige in spe kam daraufhin nach vorne, um Der Musenkuss zu singen.
Der Ausstieg des beliebten Cellisten war natürlich ein Schock für die Anhängerschaft, aber der Grund ist, dass Graf Lindorf sich mehr der Familie widmen möchte und wer könnte dagegen etwas haben? Nach einem ausgiebigen Drumsolo durch Linus von Doppelschlag (auch nach der Entgrafung findet sich ausreichend blaues Blut in den Reihen von Coppelius) wurde unter großem Jubel das System of the Down-Cover Chop Suey auf die Bretter berserkt. Immer wieder erstaunlich, wie man mit klassischen Instrumenten plus Schlagzeug so massive Soundwände erzeugen kann. Die Stimmung im Publikum war übrigens durchgehend ausgelassen und frivol. Es ist immer wieder treffliche Unterhaltung, den Herren von Coppelius zu lauschen, die jedes Konzert in ein kurzweiliges Kammerspiel verwandeln. Eine engagierte Merchdame wurde kurzerhand aber nicht unziemlich ausgezogen, um Werbung für den hauseigenen Zwirn zu machen. Das Intro des Slayer-Songs Bloodlines, ebenso erschienen auf dem Langspieler Abwärts, spielte Le Comte Caspar kurzerhand auf einer E-Geige. Und auch Sissy Voss ließ sich nicht lumpen und kam den obligatorischen Rufen nach einem Basssolo kurzerhand zuvor.
So verging die Zeit wie im Luftschifffluge und trotz eines sehr ergiebigen Sets näherte man sich dem Schluss des Abends. Natürlich nicht ohne nach den lauten “Da Capo!”-Rufen des Publikums noch Bitten, Danken, Petitieren und Gumbagubanga zu spielen. Zum Schluss sagte Bastille zur dankbaren und erhitzten Menge: “Ich sage es auch heute wieder in Oberhausen: Die letzten zweieinhalb Jahre waren nicht einfach in der Veranstaltungsbranche. Danke, dass Sie Ihren Arsch vom Sofa hochbekommen haben. Ohne Sie macht es wirklich keinen Spaß! Danke an Aeronautica, Julia am Merchstand, treue Begleiterin, Tobi, den Drumtech, 85 Jahre dabei. Am Licht – es war wieder blendend – Boris! Am Mischpult unsere treue Seele: Dirty Dietmar. Danke an den Kulttempel und Team. Morgen sind wir in Kaiserslautern, übermorgen in… habichvergessen, aber ich erwarte Sie dort. Merken Sie sich: Abwärts ist das neue Aufwärts!”
So ein Coppelius-Konzert muss man schon live erlebt haben, es gibt so viele wunderbare Momente des Slapsticks, das ich sie gar nicht alle aufzählen kann. Und natürlich einen Riesenzylinder voll mit hervorragender Musik. Wir wünschen dem “Aussteiger” Graf Lindorf alles Gute und danke für 220 Jahre!
Setlist Coppelius @Kulttempel, Oberhausen (10.03.2023)
01. Rainmaker
02. Rightful King (The Inchtaboktables-Cover)
03. Mein Grab
04. Der Handschuh
05. Urinstinkt
06. Gedicht (gezogen aus dem Hut)
07. Diener 5er Herren
08. Reichtum
09. Moor
10. Kein Land so schön
11. Aus den Betten
12. Si Dolce
13. Der Lufschiffharpunist
14. Der Musenkuss
15. Eeee…
16. Nur für dich
17. Chop Suey (System of a down-Cover)
18. Kryptoxenoarchäologie
19. Contenance
20. Bloodlines (Slayer-Cover)
21. Risiko
22. Schöne Augen
Da Capo
23. Gumbagubanga
24. Bitten, Danken, Petitieren
25. Dark Ice
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