Melancholie bei 30 Grad
Turbine, Einkaufswagen, Stahlrohre, Ventilator, Blecheimer, Regentonne, Nägel, Maschinenbohrer, Reisetasche. Befindet sich derartiges Gerät auf einer Konzertbühne, wird es für gewöhnlich von den Mitgliedern einer der individuellsten Bands in der Geschichte Deutschlands bedient. So auch an diesem recht sommerlichen Abend im Kölner E-Werk. Nach dreimaliger beziehungsweise gut zweijähriger Verschiebung konnten die Einstürzenden Neubauten ihre LP Alles in Allem endlich auch in Nordrhein-Westfalen vorstellen. Im gut gefüllten, wenngleich mit knapp 2000 Gästen nicht ganz ausverkauften Venue ging es fast pünktlich ohne Vorgruppe um kurz nach 20 Uhr los. Im Fokus des Abends sowie der gesamten “The Year Of The Rat”-Tour stand wenig überraschend das “Berliner Album“, wie es Sänger und Texter Blixa Bargeld in Interviews bezeichnete.
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Soundhalluzinationen
Gleich mehrere Stücke setzen sich mit dem Leben und den Menschen in der Bundeshauptstadt auseinander. Mal geht der heute 63-Jährige recht eindeutig auf Wohlfühlurbanität wie Metropolenmelancholie ein, letzteres vor allem im unheilvollen Grazer Damm. In anderen Fällen geht es eher kryptisch zu, wie im nur aus wenigen Textzeilen bestehenden Wedding, das auf dieser Tour als Opener fungiert. Begleitet von Keyboarder Felix Gebhard spielte sich das etablierte Quintett aus Bargeld, Alexander Hacke, Rudolf Moser, Jochen Arbeit und N.U. Unruh in etwas weniger als zwei Stunden durch ihre jüngeren Werke. Erste sachte Körperbewegungen im Publikum zu Die Befindlichkeit des Landes, doch ganz schnell war es – dem sperrigen Sonnenbarke sei Dank – mit der “Tanzlaune” auch wieder vorbei. Die beiden Songs von der für die weitere musikalische Entwicklung der Band immens wegweisenden 2000er-Platte Silence Is Sexy sollten tatsächlich die ältesten bleiben. Wer die Gruppe in den vergangenen zehn bis 15 Jahren schon live sah, wusste um den Unwillen, die deutlich krachigeren Songs und Klangcollagen der Frühjahre darzubieten. Nun wurden mit Haus der Lüge und Die Interimsliebenden auch die letzten heiligen Kühe der letzten Touren geschlachtet – so konsequent wie schade.
Reibend-laut wurde es nur bei Zivilisatorisches Missgeschick, dem über eine Metallplatte gezogenen Maschinenbohrer sei Dank. Der Song, für den Bargeld den Pathos aller 13 Satztitel rezitiert (unter anderen “Meteoriteneinschlag: Europa trifft Europa“) markiert einen dieser fiesen wie irre spannenden Momente, den die Neubauten heute live noch liefern. Es ist ein Beweis für die schier unerschöpfliche Breite an Möglichkeiten zur Klangerzeugung, für die Musik, die über sich hinausweist. Die Blickbewegungen folgen den Geräuschen, immer auf der Suche danach, welchem Mittel der Tonerzeugung man gerade zu verfallen droht. Ob Bargeld Nägel klangvoll auf den Bühnenboden fallen lasst, Hacke eine gefüllte Reisetasche in direkter Mikrofonnähe um seinen Kopf windet oder Moser das Gitter eines handelsüblichen Einkaufswagens malträtiert – die Ideen scheinen der Band auch nach vier Jahrzehnten nicht auszugehen.
Subsinnwelten
Die Fans, eine bunte Mischung aus Alt-Goths, Indie-Nerds, Feuilletonisten, Hausfrauen und Beastie-Boys-Shirtträgern, honorierten dies lautstark. Vielleicht lag es gerade daran, dass sich Blixa Bargeld für seine Verhältnisse sehr redselig zeigte, häufig lächelte und gar für die ein oder andere Witzelei zu haben war. Die reingerufene Forderung eines Fans nach Sehnsucht vom 1981er-Debüt Kollaps parierte der Frontmann mit einem lakonischen “Wie? Das können wir doch gar nicht. Das ist doch von Rammstein.” Kurz vor dem Ende ein weiterer, ähnlicher Moment. Mit dem Mute der Verzweiflung erschallten die Buchstaben Z, N und S aus der Audienz – Blixa stieg mit einem spontanen “Es tanzt das ZNS, tanzt das ZNS, tanzt das ZNS – tanz!” ein, Bassist Hacke zog das Spielchen mit einem “Sag auf Wiedersehen, sag auf Wiedersehen …” noch ein wenig in die Länge.
Natürlich blieb es aber bei dieser kurzen A-cappella-Einlage, denn wie bereits beschrieben sind die Neubauten-Klassiker längst im Konzert-Giftschrank verstaut worden. Stattdessen endete der Auftritt mit Let’s Do It A Dada, bei dessen Spoken-Word-Zwischenpart N.U. Unruh mit schlohweißer, schon fast Papst-ähnlicher Maskerade für weitere Lacher sorgte. Über beinahe zwei Stunden bewegt die Gruppe die Töne zum Kribbeln, Vibrieren, Zischen, Hauchen, Ächzen, Kratzen, Quietschen. Die Klänge brodeln, es hallt und hämmert, klirrt, wirbelt und wabert, donnert und flimmert, flirrt und summt. Der Besuch eines Einstürzende Neubauten-Konzerts ist immer noch etwas Besonderes, die Performances versprühen weiterhin einen einzigartigen Vibe – nur dass eben im wahrsten Sinne des Wortes leisere Töne angeschlagen werden. Beseelt von den avantgardistisch-experimentellen Klangsphären applaudiert das Publikum – und bewegt sich in Richtung der nächsten lauen Sommernacht.
Setlist EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN – Köln, E-Werk (17.05.2022)
01. Wedding
02. Möbliertes Lied
03. Nagorny Karabach
04. Die Befindlichkeit des Landes
05. Sonnenbarke
06. Seven Screws
07. Grazer Damm
08. Alles in Allem
09. Zivilisatorisches Missgeschick
10. How Did I Die?
11. Am Landwehrkanal
12. Ten Grand Goldie
13. Susej
14. Taschen (Z)
15. La guillotine de Magritte (Z)
16. Tempelhof (Z)
17. Rampe (ZZ)
18. Let’s Do It A Dada (ZZ)
Fotos und Text: Claudia Helmert und Patrick Friedland
Weblinks Einstürzende Neubauten:
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