NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

Fotos: NEW WAVES DAY 2022 (2/2)
Gary Numan, © Claudia Helmert
Geschätzte Lesezeit: 6 Minute(n)

Der heißeste Tag des Jahres. 34 Grad waren es tagsüber im Herzen des Ruhrgebiets. Naturgemäß kreisen die Gedanken dann um Freibäder, die Gartenhängematte oder den Strandurlaub. Doch Sommerzeit ist eben auch Festivalzeit. Als Besucher des New Waves Day blieb es einem immerhin erspart, der Sonne schutzlos ausgesetzt zu sein. Schließlich findet das Happening für Wave, Gothrock und Postpunk traditionell in der Oberhausener Turbinenhalle statt. Die Innentemperatur bewegte sich dennoch gefühlt rund um die 30-Grad-Marke. Und das war bei weitem nicht das einzige, was so manch Fan aufstöhnen ließ. Schon vorab hatten die Veranstalter gut zu tun, um mehrere Bands zu ersetzen. Ursprünglich waren, vor der coronabedingten Verschiebung, gar DAF als Headliner eingeplant, was sich dann aus dem traurigstmöglichen Grund ohnehin von selbst erledigte. In diesem Kalenderjahr mussten Soviet Soviet und ausgerechnet die eigentlich zum Festival-Inventar gehörenden Chameleons (Vox) aus verschiedenen Gründen absagen. Ersatz wurde gefunden. Gegen das, was am Tag selber noch passierte, waren aber alle machtlos. Blancmange spielten am Vorabend noch einen gelungenen Auftritt beim “Meltdown Fest” im Londoner Southbank Centre, machten sich am Samstagmorgen bester Dinge auf zum Flughafen – um vor Ort festzustellen, dass der Flug in den tiefen Westen Deutschlands ersatzlos gestrichen wurde. Und es sollte leider nicht die letzte spontane Hiobsbotschaft des Tages bleiben. Doch dazu später mehr …

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So begann der Tag 40 Minuten später als eigentlich geplant mit Reptyle. Die Band mit der kürzesten Anreise aller spielt seit ihrer Gründung 1998 so schnörkellosen wie traditionellen Gothrock, dies in immer mal wieder wechselnder Besetzung. Noch recht frisch dabei sind Drummer Gerwin Spalink und Sänger Kai Roarside, dessen tiefe, sonore Stimme sich passend in den Gesamtsound der Band einbettet. Ein überaus solider Auftritt, der vom für die frühe Uhrzeit recht zahlreich erschienenen Publikum mit guter Stimmung und viel Applaus quittiert wurde. Fans durften sich zudem über ein Gimmick am Merchandise-Stand freuen: Vom aktuellen Album Decrypt The Void gab es exklusiv am New Waves Day eine limitierte Anzahl an Kassetten – Retro rules! Wer die Ostwestfalen in diesem Jahr noch live sehen will, hat dazu ein paar weitere Gelegenheiten. Herausragend hierbei sicherlich der Supportauftritt für Then Comes Silence am 2. Oktober in Gütersloh.

Setlist REPTYLE @ NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

01. End
02. Just Another Message
03. Bless The Dead
04. Timeworn
05. Echoes
06. Decrypt The Void
07. Heroes Of The Working Dead

Weiter ging es mit dem “Psychedelic Wave Rock” von Whispers In The Shadow, der sich von dem zuvor Gebotenen vor allem durch den regelmäßigen Einsatz flächiger Keyboard-Klänge und die nicht ganz so dunkle Stimmfarbe von Sänger und Gründer Ashley Dayour unterschied. Die Österreicher veröffentlichten im vergangenen Herbst ihre Werkschau Gilding The Lily – A Retosprective 1996 – 2021 mit 21 Songs. Gut die Hälfte davon fand in Oberhausen einen Weg ins Set, dank der hohen Hitdichte vergingen die 45 Minuten Spielzeit wie im Flug.

Setlist WHISPERS IN THE SHADOWS @ NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

01. Forever 1985
02. The Arrival
03. The Lost Souls
04. Back To The Wound
05. A Song For The Radio
06. Adrift
07. Walk On The Mirror
08. The Urgency Of Now
09. Damned Nation
10. Drowning Like The Moon

Im Anschluss war es Zeit für das erste weiße Bühnenoberteil des Tages inmitten all dem naturgemäß dominierenden Schwarz. Getragen von Simon Huw Jones, Frontmann der 1979 gegründeten And Also The Trees. Kurz nach Beginn ihrer Karriere arbeiteten die Engländer mit The Cure zusammen und spielten auch einige Shows im Vorprogramm der Kultband um Robert Smith. Wo diese heute allerdings die größten Hallen des Erdballs füllt, blieben And Also The Trees immer eine eher nischige Band. Eine für Freunde dezenteren Post-Punks, um genau zu sein. Mit Nachdruck sprechsingte Jones seine zumeist überaus poetisch veranlagten Texte, während drumherum die Drums zappelten, der Bass brummelte und Bruder Justin schnittige Gitarrenlicks beisteuerte. Für das Genre ungewohnte Klänge steuerte bei einigen Songs der 2015 in die Band gekommene Colin Ozanne dazu – die Klarinette gehört dann ja doch zu den Instrumenten, die auf Wave-/Goth-Events eher selten zu hören sind. Gespielt wurde ein Potpourri aus 43 Jahren Historie, inklusive einiger Songs der im vergangenen Jahr wiederveröffentlichten 1986er-LP Virus Meadow. Der Auftritt war zweifelsohne mitreißend, den nun noch etwas zahlreicher vor der Bühne präsenten Publikum gefiel es ebenfalls.

Setlist AND ALSO THE TREES @ NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

01. Slow Pulse Boy
02. Brother Fear
03. Shantell
04. Your Guess
05. River Droite
06. In A Bed In Yugoslavia
07. Wallpaper Dying
08. Virus Meadow
09. Missing
10. So This Is Silence

Deutlich elektronischer ging es bei The Cassandra Complex zu. Die Formation kam mit Rückenwind, erschien doch erst wenige Wochen vor dem Auftritt mit The Plague das erste Album seit 22 Jahren, das gute Kritiken einheimste und in den Deutschen Alternative Charts jüngst auf Platz zwei kletterte. Unter anderem der Titelsong sowie die Anti-Boris-Johnson-und-Donald-Trump-Single The Crown Lies Heavy On Its King waren dann auch Teil der Setlist. Gründer und Sänger Rodney Orpheus war trotzdem nervös, wie er in einer seiner Zwischenansagen zugab. Schließlich stand erfreulicherweise die Geburt von Nachwuchs bei Gitarrist Andy Booth an – mit den spontan eingesprungenen Ersatzmann aus dem Band-Umfeld konnte exakt einmal geprobt werden. Der Sprung ins kalte Wasser gelang allerdings. Der hymnische Electro-Rock sorgte für ordentlich Bewegung vor der Bühne, der Nordire Orpheus, der viele Jahre seines Lebens unter anderem in Aachen und Hamburg verbrachte, entschuldigte sich für sein “nicht so gutes Deutsch“, nur um zwischen den Songs erstaunlich viel in erstaunlich gutem Deutsch zu reden. Damit war er im Verlauf des Tages auch der einzige Musiker, der wirklich mit den Fans kommunizierte – sonst war zwischen den Songs fast durchgehend Schweigen angesagt. Man nahm Rodney die Freude über den Verlauf des ersten regulären Cassandra-Complex-Konzerts seit 2019 wirklich ab – und wünscht dieser sympathischen Band weitere Auftrittsmöglichkeiten in naher Zukunft.

Setlist THE CASSANDRA COMPLEX @ NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

01. The Invisible
02. Nightfall (Over E.C.)
03. Hotline To Elvis
04. Bad Faith
05. Valis
06. Ground
07. The Crown Lies Heavy On Its King
08. Old Boys Network
09. Moscow Idaho
10. March

Wenige Minuten nach dem Auftritt gab es leider einen gewaltigen Stimmungsdämpfer. The Damned waren bereits in Oberhausen angekommen, schon nach der Landung klagte ein Bandmitglied allerdings über Krankheitsymptome. Und tatsächlich ergab der Corona-Test ein positives Ergebnis, auch ein Crew-Mitglied hatte sich angesteckt. Somit konnten die 1976 gegründeten Punk-Veteranen um Dave Vanian nicht auftreten. Mittlerweile mussten die Briten weitere Auftritte, unter anderem auf dem Glastonbury-Festival und im Vorprogramm der Stadionshows von Die Ärzte absagen – wir wünschen an dieser Stelle gute Besserung!

Glück im Unglück für die anwesenden Fans von Pink Turns Blue. Das 1985 in Köln gegründete Trio erklärte sich spontan bereit, das eigene Set von 60 auf 85 Minuten zu verlängern und dieses um gut eine Stunde vorzuziehen. Sänger und Gitarrist Mic Jogwer begrüßte die Fans ausführlich – um danach über eine Stunde lang absolut gar nichts mehr zu sagen und lediglich die Musik sprechen zu lassen. So ging es auf eine höchst melancholisch-melodiöse Zeitreise mit maximal möglicher Sogwirkung. Songs vom in der Szene kultisch verehrten 87er-Debüt If Two Worlds Kiss wie After All und Missing You waren genauso Teil des Auftritts wie Not Even Trying und You Still Mean Too Much To Me der erst 2021 veröffentlichten Tainted. Mit lautstarkem Applaus wurde das Trio verabschiedet.

Setlist PINK TURNS BLUE @ NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

01. Not Even Trying
02. There Must Be So Much More
03. So Why Not Save The World
04. I’ll Never Give Up
05. Walking On Both Sides
06. I Coldly Stare Out
07. After All
08. Walk Away
09. Something Deep Inside
10. Missing You
11. You Still Mean Too Much To Me
12. Your Master Is Calling
13. Can’t Be Love
14. When It Rains
15. State Of Mind
16. If Two Worlds Kiss
17. Michelle

Zu guter Letzt wurden die Lautstärkerregler großzügig nach oben geschoben. Oder? Zumindest fühlte es sich bei Gary Numan so an. Nicht wenige kritisierten in den Sozialen Netzwerken die ihrer Meinung nach zu laut abgemischte Show. Wobei das natürlich immer auch Geschmackssache ist, manch anderen kann es ja bekanntlich nie “fett genug” sein. Schon rein musikalisch setzt der Altmeister, der Ende der 70er-Jahre mit der Tubeway Army erste große Erfolge feierte, aber ganz andere Zeichen als die weiteren Bands im Aufgebot. Seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre verdingt sich der Wahl-Kalifornier vor allem auf Industrial Rock statt Wave. So hämmerten und schepperten die Drums mächtig, dazu höllische Distortion auf die Gitarre – Fans älterer Nine Inch Nails-Platten geht hier das Herz auf. Aktuell erlebt Numan seinen zweiten Karrierefrühling, heimst wieder hohe Chartplatzierungen ein und spielt vor vollen Hallen. Und neben großartigen Songs wie dem Opener Intruder, dem Titelsong der aktuellen Platte oder My Name Is Ruin vom Vorgänger Savage klingen auch die alten Hits wie Cars und Metal überaus vital. Apropos vital: Mit 63 windet sich der gebürtige Londoner immer noch mit vollem Körpereinsatz über die Bühne. So verwunderten die euphorischen Fanreaktionen keineswegs, der Auftritt beim New Waves Day markierte einen phänomenalen Abschluss für eine fast viermonatige Welttournee Numans, die, wie er auf Facebook schrieb, “erfolgreichste und schönste Tour meines Lebens“. Gerne wieder – und das so schnell wie möglich. Nur dann bitte wieder mit Down In The Park, das in der Setlist diesmal schmerzlich vermisst wurde.

Setlist GARY NUMAN @ NEW WAVES DAY – Oberhausen, Turbinenhalle (18.06.2022)

01. Intruder
02. Love Hurt Bleed
03. Halo
04. Metal
05. Pray For The Pain You Serve
06. Cars
07. A Black Sun
08. Pure
09. Is This World Not Enough?
10. A Prayer For The Unborn
11. The Fall
12. My Name Is Ruin
13. The Chosen
14. Are Friends Electric?
15. Everything Comes To Down To This
16. The Gift

Kurz vor Mitternacht war diese Auflage des New Waves Day beendet, eine Stunde früher als ursprünglich angedacht. Auch wenn die zahlreichen, mal mehr, mal weniger kurzfristigen Absagen die Laune doch nachvollziehbar drückten, hat das Festival sehr viel Spaß gemacht. Auch Nischenmusik, wie sie hier von sechs tollen und spielfreudigen Bands präsentiert wurde, hat es verdient, mal auf einer recht großen Bühne wie der in der Turbinenhalle zu landen. So hoffen wir auf eine Fortführung des Konzepts im kommenden Jahr. Für einen persönlichen Wunsch hinsichtlich 2023 muss aber am Ende noch Raum bleiben: Frauen auf die Bühne! In diesem Jahr stand da leider keine einzige.

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1 Comment

  • Sehr treffende Rezension. Danke an die Veranstalter und alle Bands. Nächstes Jahr definitiv wieder. Dann bitte gerne wieder mit Chameleons und auch gerne (immer wieder!!!) mit AATT und … ja,
    Patrick Friedland hat Recht, mit Frauen auf der Bühne – ich kann da z.B. Second Still wärmstens empfehlen https://secondstill.bandcamp.com/album/violet-phase
    Die Turbinenhalle ist auf jeden Fall eine Super-Location mit besten Rahmenbedingungen für den New Waves Day.

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