Der weiße Rabe ist nicht nur Titel des fünften Albums der norwegisch-heidnischen Geschichtenerzähler Wardruna, sondern auch das Totemtier von Bandchef Einar Selvik. Bis auf den Titel habe jedoch, so Selvik das fünfte Werk der Band weniger mit Raben im Speziellen zu tun, sondern allgemein mit Totemtieren, Geistwesen, Überlieferungen und dergleichen. Es ist in der Tat konzeptionell eher generischer Natur. Im Großen und Ganzen dreht es sich um mündliche Überlieferungen und Animismus, also der Idee, dass in jedem Ding ein Leben wohnt. Solcherlei Überlegungen verbinden sich mit der weit verbreiteten Vorstellung, dass unsere fernen Vorfahren, was ihre Spiritualität angeht, sehr eng mit der Natur verbunden waren. Viel enger als wir heute, versteht sich und das auch noch freiwillig. Man wählt in dieser Hinsicht auch das Wort Spiritualität, statt den Begriff Religiosität zu nutzen. Schließlich weiß man ja, dass all das auf das germanische Heidentum nicht zutrifft. Man will sich selbst des mystischen Zaubers nicht berauben und als Joker hat man ja immerhin die spärliche Quellenlage auf seiner Seite.
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Und dieses “Zurück zur Natur Ding”, Knurren im Gleichklang der eisigen Winde, Verwurzelung der nackten Füße mit dem Permafrost, der ja dank globaler Erwärmung nicht mehr ganz so frostig ist wie zu Ragnars Zeiten, und männliche, axtschwingende Kraftmeierei haben ermüdenderweise immer noch Hochkonjunktur und jetzt allmählich die Ramschkisten erreicht. So latschen gestandene Musiker aus bekannten Viking-Metal-Bands als Komparsen durch Hau-Drauf-Filmchen mit quasi-historischem Anstrich, deren Requisiten sich in der Nachlese immerhin noch hervorragend als Merchandise unter die Wochenend-Schildmaiden bringen lassen. Und auch Wardruna selbst sind inzwischen bekannt als die Band der Erfolgserie Vikings und Valhalla, dem aktuellen Umsatzwunder aus dem Assassins-Creed Franchise.
Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen dem medialen Aufstieg der Band und ihrer musikalischen Entwicklung? 2015 war der History Channel auf Wardruna aufmerksam geworden und Kristian Espedal hatte die Band verlassen. Ragnarok (2016) war das erste Album ohne seine knorrige, animalische und manchmal sperrige Ausgestaltung der Songs. Tatsächlich traf man Wardruna, entgegengesetzt des urspünglichen Selbstverständnisses, mit Ragnarok viel häufiger live in nicht immer vorteilhaften Locations an. Ich erinnere mich an zwei Konzerte der Band, ersteres im Volkspalast in Leipzig (durchaus noch angemessen), zweiteres im Rahmen des 2018er WGT auf der agra (najaaaa …). Skald (2018) hingegen überraschte mich. War das reduzierte, stark auf überlieferte Quellen fußendes Album ein fast akademischer Kontrapunkt zu der Runaljod-Reihe, die ja eigentlich als abgeschlossen galt. Ein neuer Zyklus, der sich an den Liedern und Weisen orientieren sollte, so meinte ich, habe begonnen.
Nun schlägt Kvitravn jedoch wieder in die spirituelle, Naturverehrungs-Kerbe, naja und ich erwähnte es weiter oben: Ohne, dass ein rechtes Konzept wie einst bei Runaljod vorhanden wäre. Gut, so ist es eben mit Erwartungen: Jeder ist dafür selber verantwortlich. Mit Skald wurden jene der Fangemeinde nicht erfüllt. Wahrscheinlich schlug sich das in den Verkaufszahlen nieder. Nun haben wir Kvitravn und es wird das fortgesetzt, was vorher gut funktioniert hat.
Ich will auch gar nicht weiter unken. Es war handwerklich überhaupt niemals schlecht, im Gegenteil. Wardruna verstehen es auch auf Kvitravn wie keine zweite Band durch gezielt gesetzte Atmosphäre aufzuwühlen, die Hörer in die Introspektion, ja Meditation zu schieben (Grá, Ni) und animistischen Frieden (Andevarljod) zu stiften. Durch sie erhält die Natur eben diese archaische Mystik (Skugge), die sie bestimmt nie hatte, die wir uns aber vielleicht wünschen oder vor unserem inneren Auge heraufbeschwören, wenn wir an Norwegen denken oder auch nur auf dem Dannewerk um Haithabu bei steifer Brise spazieren gehen.
Sie erreichen das durch repetitive, ruhelose, organische Motive (Kvitravn, Visveiding), pointierte Echos und musikalische Assoziationen, deren Entsprechungen man in der Natur wiederfinden kann. Hier und da knistert ein Feuer. Die Jagd, das Suchen, das Finden ist ein Herzschlag. Folgt man dem Wasser, dann scheint auch die Musik zu fließen. Werden Geschichten erzählt, die von der großen Weisheit der Ahnen künden, wird auch der musikalische Erzählraum weit wie eine Kuppel. Wir werden eingesogen in diese epische Uferlosigkeit grenzenlosen Pathos‘. Wir gehen darin auf, wir verlieren uns darin. Und das ist zauberhaft.
Darin haben Wardruna mittlerweile auch Erfahrung und sie halten die Messlatte hier in Bezug auf die allgemeinen Qualitätsstandards weiterhin hoch. Legt man jedoch ihr Debüt Gap Var Ginnunga (2009) neben Kvitravn, wird das wenig gefestigte Bild des Neulings deutlich. Die Stücke stehen recht zusammenhangslos nebeneinander. Sie erzählen lediglich von der spirituellen Kraft. Es wird ihnen jedoch wenig Gelegenheit gegeben, ihren Charakter und eben jene spirituelle Kraft aus sich selbst heraus zu entwickeln. Und schließlich darum soll es doch gehen? Stattdessen gefallen sie nur oder zielen auf das, was uns oder den meisten von uns vermeintlich am Verlorengehen oder am Uns-finden so gefällt oder was wir – noch schlichter – mit einem Wardruna-Song so verbinden.
Vom Rest muss man eigentlich nicht weiter reden. Ich mach es aber dennoch, denn sonst würde man Kvitravn weiter schmählern und das soll nicht Ziel dieser Rezension sein. Der Umgang mit und der Einsatz von historischen oder überlieferten Instrumenten, die Selvik für Wardruna allesamt selbst entwickelt und sich beigebracht hat, ist und bleibt meisterlich und wird von ihm stetig weiterentwickelt. Was der Mann in den letzten Jahren hier unter anderem für Pionierarbeit geleistet hat, darf nicht unerwähnt bleiben. Ebenso die stimmliche Leistung von Lindy Fay Hella, deren Debüt Album Seafarer (2019) im vorletzten Jahr gezeigt hat, wie stark ihr kreativer Einfluss auch bei Wardruna sein könnte (oder vielleicht auch ist?). Hinzu kommen die vielen Kollaborationen auf Kvitravn, die zeigen, wie groß die Aufmerksamkeit des Projektes auch außerhalb des Hau-Drauf-Genres immer noch ist. So unterstützen Kirsten Bråten Berg und Sigrid Berg, zwei in Norwegen etablierte und sehr berühmte Folk-Größen bei Andevarljod.
Mit Kvitravn legen Wardruna keine große Überraschung vor. Jedoch würde man es sich wünschen. Im Moment bewegt sich die Band noch im Spektrum eines „Wer hat, dem wird gegeben.“ – leicht kann sich hier jedoch Langeweile einstellen, die zu Gefälligkeit führen kann. Aber noch müssen wir uns nicht sorgen: Ein weißer Rabe macht noch einen Schlussverkauf.
Kvitravn ist am 21. Januar bei Columbia Local erschienen.
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Tracklist WARDRUNA – Kvitravn:
01. Synkverv
02. Kvitravn
03. Skugge
04. Grá
05. Fylgjutal
06. Munin
07. Kvit hjort
08. Viseveiding
09. Ni
10. Vindavlarljod
11. Andevarljod
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Weblinks WARDRUNA:
Official: http://wardruna.com
Facebook: https://www.facebook.com/wardruna