ALCEST – Spiritual Instinct

ALCEST – Spiritual Instinct
Geschätzte Lesezeit: 3 Minute(n)

10

Gesamtnote

10

Aufzehrende poetische Schönheit

Alcest war immer schon der musikalische Spiegel, von dem was sich im Inneren von Multi-Instrumentalist und Komponist Neige abspielt. Es ist der Avatar seiner spirituellen Erinnerungen, Expression seiner Eindrücke und widerstreitenden Gefühle. Seit nunmehr 20 Jahren widmet er sich mit Leidenschaft diesem Projekt, feilt am Ausdruck der Musik, an dem was Alcest für ihn bedeutet: Die Erweiterung seiner Empfindsamkeit. Dabei gelingt der Band, was den wenigsten gelingt und damit meine ich noch nicht einmal, dass bei dieser Herangehensweise, der Arbeit, der ganzen Aufzehrung zwangsläufig etwas völlig Neues, etwas Prägendes, etwas für die Geschichtsbücher entstehend musste. Was zweifellos geschehen ist. Das wirklich Magische an Alcest ist, dass es Neige gelingt durch die Projektion seiner spirituellen Erfahrungen, unsere individuellen zu aktivieren. Wer das nicht glaubt, muss nur einmal auf ein Konzert der Franzosen gehen und sich anschauen, wie absorbiert die Menschen von der Musik dort sind, wie verzaubert und zum Teil zu Tränen gerührt.

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Es ist schwer ist Worte zu fassen, was diese Art von Musik mit einem anstellt. Oft erklären die Künstler, sie finden über ihre Form der Kunst einen Weg, sich ihren inneren Dämonen zu stellen. Allzu oft wird man dann jedoch lediglich mit einem Abglanz selbstgerechter Larmoyanz konfrontiert. Hier jedoch wird man von den Emotionen, die von den Songs getragen werden, eingesogen und festgehalten. Man hört die Schönheit, die Verzweiflung und den Schmerz, man sieht sie im Inneren und man kann sie sogar spüren – mitfühlen. Neiges Dämonen werden zu den eigenen Dämonen.

Und davon bekommt man schon in den ersten 14 Minuten von Spiritual Instincts reichlich. Hier in der Doppelspitze, von der bereits Protection als Single erschienen ist, wird deutlich: Das sechste Album der Franzosen nimmt uns mit auf eine nachtblaue Reise, die viel Wut, Verzweiflung, Angst und Selbstzweifel in sich trägt. In Les Jardins De Minuit (Die Mitternachtsgärten) und Protection verschmelzen die rohen Black-Metal Wurzeln der Band, mit dem wofür diese so unverkennbar geworden ist. Da ist das kraftvolle, unkonventionelle, organische Schlagzeugspiel von Winterhalter. Da sind gleich mehrere emotional aufgeladene Riffs, die Melodien formen von so schlicht schöner Komplexität, dass man augenblicklich gefesselt ist. Da ist Neiges Stimme, wie immer mehr Instrument als Zentrum des Gesangs, wie immer sanft und ätherisch, leidvoll und zerbrochen.

Symbolismus und die Symbolgewalt der Musik

Obwohl Spiritual Instinct nicht als Konzept-Album geplant war, eint die sechs Songs ein symbolistischer Anker, der auf dem Cover durch die Sphinx visualisiert wurde. Diese mystische Gestalt vereint das Animalische und das Spirituelle: Seiten, die jeder mehr oder weniger in sich trägt. Der daraus erwachsende Kampf mit all seinen Ängsten, der Wut und den Selbstzweifeln, dem ganzen unerfreulichen Kram, den man dabei so über sich selbst erfährt, die Erkenntnis der Unvereinbarkeit und dass es unvereinbar gemacht bleibt sind zentrale Themen von Spiritual Instinct.

Das Hörbarmachen zentraler symbolträchtiger Bilder spielte dabei genauso eine Rolle, wie das musikalische Visualisieren, wie es beispielsweise bei Soundtracks der Fall ist. So haben sich Alcest bei L’Île Des Morts (Die Toteninsel) von der gleichnamigen Bilderserie (1880-1886) von Arnold Böcklin (1827-1901) inspirieren lassen. Der Track, der mit elektronischen kalt bebenden Beats startet, mit denen sich die ersten Gitarrenlinien leicht dissonant vermischen, ist ein wahres Inferno an rhythmischen Verschiebungen und verschränktem Riffing, bevor sich die tragenden Melodien hervorschälen. Bei Le Miroir (Der Spiegel; meiner Meinung nach der beste Song des Albums) wird unter Verwendung eines analogen 70er Jahre Synthesizers und nur eines einzigen Riffs ein atemberaubender Spannungsbogen geschaffen. Einen vergleichbaren Song hat die Band noch nie geschrieben. Die Melodie ist weit und spannt sich voll dunkler Erwartungen wie der nächtliche Sternenhimmel. Das sind die Minuten, in denen man ganz mit sich allein reflektiert, das sind die Minuten, in denen es unter der Oberfläche brodelt und einem die Einsamkeit Gefängnis wird.

Alcest sind eine Band, die mich mit jeder ihrer Veröffentlichungen aufs Neue in Erstaunen versetzt. Spiritual Instinct bildet da keine Ausnahme. Einen Augenblick habe ich überlegt, ob es ein wenig zu kurz geraten ist. Aber die Albumlänge lädt zum mehrmaligen Hören ein. Und dadurch wird Spiritual Instinct in seiner komplexen Wucht und Schönheit mit jedem Durchgang sogar noch besser und besser.

Spiritual Instinct wird am 25. Oktober in verschiedenen Formaten bei Nuclear Blast erscheinen.

Anspieltipps: Spiritual Instinct ist ein Album, das mit einer Gesamtspielzeit von knapp 41 Minuten. Das Destillat noch weiter zu destillieren, würde dem Album nicht gerecht. Wer dennoch einen schnellen Eindruck, eine Quintessenz haben möchte, dem seien der Eröffnungstrack Les Jardins De Minuit und Le Miroir empfohlen. Diese beiden Songs bringen Spiritual Instinct am besten auf den Punkt.

Tracklist ALCEST – Spiritual Instinct:

01. Les Jardins De Minuit
02. Protection
03. Sapphire
04. L’Île Des Morts
05. Le Miroir
06. Spiritual Instinct

ALCEST - Protection (OFFICIAL MUSIC VIDEO)

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Weblinks ALCEST:

Official: www.alcest-music.com
Facebook: www.facebook.com/alcest.official
Instagram: www.instagram.com/alcestofficial
Label: www.nuclearblast.de/alcest

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