Als Jugendliche in den 90ern, die derzeit ja ein nicht nachvollziehbares Revival erleben, hatte man es nicht leicht. Zumindest nicht, wenn man mit Boy-Bands und dem allgegenwärtigen Euro-Dance nichts anfangen konnte. Ich war 15, als ich das erste Mal auf Live stieß und sogleich vollauf begeistert. Das war eigentlich ganz natürlich, umwehte mich seinerzeit doch ein Œuvre aus Nirvana, Soundgarden, R.E.M. und den Counting Crows.
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Ich kam mir damals richtig „alternativ“ vor. Bildeten die gerade aufgezählten Bands doch den perfekten Kontra-Punkt zu Blümchen, Caught In The Act und wie sie doch alle hießen. Das fing bei den Klamotten an und ging den Texten weiter – wie viel tiefsinniger sind die Lyrics von Pain Lays On The Riverside doch verglichen mit Eins, Zwei, Polizei. Die Sänger dieser Bands hatten alle so empfindsame Augen und scheinbar zerrissene Seelen. Das, was die vortrugen, meinten sie auch.
Alles, was sie taten, taten sie in voller Verachtung für den Mainstream. Das Problem war: sie waren es selbst … also der Mainstream. Denn alle oben aufgezählten Bands hatten noch etwas: Plattenverträge bei riesigen Labels. Und über die verkauften sie irrational viele Tonträger. Die vorgehaltene Attitüde war, auch wenn sie irgendwann einmal authentisch gewesen sein mochte, nichts weiter als Kalkül. Das war echt fies, als mir das Jahre später bewusst geworden war. Es führte zu einem mehrere Jahre anhaltendem musikalischen Hiatus. Aber das ist eine andere Geschichte.
Was ich eigentlich ausdrücken wollte: Live haben mich, allem voran mit ihrem fantastischen Album Throwing Copper (1994), eine sehr lange Zeit in meiner Jugend begleitet, beeinflusst und musikalisch sozialisiert. Als ich in den letzten Wochen, nach ungefähr 20 Jahren, Mental Jewelry wieder auflegte, kamen all diese Erinnerungen wieder hoch. Auch wenn ich mich musikalisch mittlerweile in völlig anderen Gefilden aufhalte, mich die beinahe naiven Weltverbesserungslyrik teilweise befremden und ich Ed Kowalczyks Stimme unendlich knödelig finde, kann man die umwerfende Energie und Ernsthaftigkeit nicht leugnen, die von Mental Jewelry ausgehen.
Songs wie Pain Lies On The Riverside, The Beauty Of Gray und Tired Of Me sind einfach richtige Klassiker des Alternative-Rock Genres. Das kann man nun mit einem Abstand von 25 Jahren ohne Umschweife zugeben. Die frühen Live haben die Zeit überdauert. Ein Album, das einen als Teenie damals stark beeinflusst hat, nach so langer Zeit wieder zu hören ist eine Sache. Aber wie geht es den Künstlern selbst, sich mit so in die Jahre gekommenen Material wieder auseinander setzen zu müssen? Gitarrist Chad Tayler gibt uns hier einen kleinen Eindruck:
„Wenn ich mir unsere frühen Songs so anhöre, fallen mir vier einschlägige Dinge auf: erstens, dass wir wirklich ehrgeizig waren. Und Eds Texte behandelten in ihrer Reife Themen, die weit über den Horizont von durchschnittlichen Teenagern hinausgehen. Diese Substanz musste auch in der Instrumentierung übermittelt werden. Zweitens war unser Wissen in Sachen Musiktheorie recht mager, aber dies versuchten wir mit rhythmischer Struktur und sehr viel Dynamik wett zumachen. Wir machten einfach das Beste aus den drei Akkorden, die wir beherrschten und holten aus ihnen alles raus. Drittens verfügt Ed über die sagenhafte Gabe, komplexe Melodien mit einfachen Akkorden zu verflechten. Viertens haben wir das Glück, mit Gracey and Dahlheimer eine wirklich starke Rhythmus-Sektion zu haben. Diese beiden Typen sind echt außergewöhnlich und waren es auch damals schon. – Wir haben uns immer und in jeden Song voll reingehängt, mit einigen haben wir Volltreffer gelandet, aber am wichtigsten ist, dass wir stets mit aller Leidenschaft zu Werke gegangen sind.“
Mental Jewelry erschien am 31.12.1991 bei Radioaktive Records. Jerry Harrison von den Talking Heads produzierte das Album. Dieser engagierte sich seinerzeit stark für die Band und gab ihnen Gelegenheit, mehr als nur die 12 mit der Plattenfirma vereinbarten Tracks aufzunehmen. Unter dem Vorwand, so später besser auswählen zu können, wollte er Live die Möglichkeit geben ganze 15 Songs auf ihr Debüt zu bringen. Da das Album jedoch auch auf Vinyl erscheinen sollte, waren diesem ehernen Vorhaben Grenzen gesetzt. Ein Teil dieser “Outtakes” hat nun den Weg auf die Anniversary Edition geschafft.
Auch für Live hat sich die Welt in den letzten beiden Jahrzehnten weiter gedreht. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sie nach langer Trennung ihre Reunion mit Ex-Leadsänger Ed Kowalczyk bekannt gaben und so wieder in Originalbesetzung agieren: Ed Kowalczyk (Gesang, Gitarre), Chad Taylor (Gitarre, Background-Gesang), Patrick Dahlheimer (Bass) and Chad Gracey (Schlagzeug, Percussions). Derzeit sind Ed, Patrick und die beiden Chads recht erfolgreich auf ihrer Reunion-Tour unterwegs (bisher gibt es allerdings nur Termine für die USA, Afrika und Australien). Außerdem arbeite man gerade an neuem Material.
Aber was bekommt man, wenn man sich Mental Jewelry 25th Anniversary Edition zulegt? Teil der Neuauflage ist auch der bislang nicht veröffentlichter Studiotrack: Born Branded. Dieser hatte es seinerzeit nicht auf Mental Jewelry geschafft und ist dann in Vergessenheit geraten – zu Unrecht, wie ich finde. Weiterhin gibt es einen Club-Remix von Pain Lies On The Riverside von Public-Enemy-Produzent Hank Shocklee, sowie zwei Songs von der 1991 erschienenen EP 4 Songs. Auf der zweiten CD findet sich eine bisher nicht veröffentlichte Live-Aufnahme eines Konzerts, das die Band 1992 im The Roxy in Los Angeles gegeben hat.
Mental Jewelry – 25th Anniversary Edition erscheint am 11.08.2017 bei Geffen, Universal.
Anspieltipps: Pain Lies On The Riverside & Born Branded
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Tracklist LIVE – Mental Jewelry 25th Anniversary Edition:
CD 1:
01. Pain Lies On The Riverside
02. Operation Spirit (The Tyranny Of Tradition)
03. The Beauty Of Gray
04. Brothers Unaware
05. Tired Of Me
06. Mirror Song
07. Waterboy
08. Take My Anthem
09. You Are The World
10.Good Pain
11.Mother Earth Is A Vicious Crowd
12.10,000 Years (Peace Is Now)
13.Born Branded (Previously Unreleased)
14.Pain Lies On The Riverside (Hank Shocklee Club Remix)
15.Negation (von: 4 Songs EP)
16.Heaven Wore A Shirt (von: 4 Songs EP)
CD 2:
01. Show Intro (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
02. Waterboy (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
03. Take My Anthem (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
04. Pain Lies On The Riverside (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
05. Susquehanna (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
06. Negation (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
07. You Are The World (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
08. Tired of Me (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
09. Heaven Wore A Shirt (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
10.Operation Spirit (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
11. Good Pain (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
12.Beauty of Gray (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
13.Peace Is Now (16. Juli 1992, Live im The Roxy)
Weblinks LIVE:
Official: http://freaks4live.com/
Facebook: https://www.facebook.com/THEBANDLIVE/