Gefühlt war die kurze, fünf Dates in Nijmegen und Deutschland umfassende Enter-Shikari-Tour kurz vor dem Jahreswechsel nur ein kleines Stückchen von einer Absage entfernt. “I feel fuckin’ awful” war das wohl prägnanteste Zitat des Abends im ausverkauften Dortmunder FZW – es kam aus dem Mund von Enter-Shikari-Frontmann Rou Reynolds. Und das merkte man ihm leider auch deutlich an. Dazu aber später mehr. Zunächst präsentierte sich mit Wait Of The World ein für viele Anwesende noch sehr unbeschriebenes Blatt im Rockband-Gewand (es sei denn, man hat vor einigen Jahren die Castingshow “X Factor” auf Sky verfolgt …).
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Was wohl vorrangig damit zu begründen ist, dass es die in München heimische Band um den britischen Sänger Ben Hutchinson-Bird in elf Jahren gemeinsamen Musizierens erst auf ein Album gebracht hat. IDK erschien im Oktober 2023, naturgemäß schafften es auch viele Stücke der LP ins etwa 35-minütige Set, nebst einiger neuer Songs. Der Sound? Recht vielseitig, die Basis bilden Klänge aus der Zeit, in der Emo noch nicht zwangsläufig mit den Begriffen “Kajal”, “Schminke” und “Seitenscheitel” in Verbindung gebracht wurde. Gut möglich, dass Gruppen wie Jimmy Eat World hier ihre Spuren hinterlassen haben.
So richtig in eine Schublade wollen sich Wait Of The World aber nicht stecken lassen. Davon zeugten Songs wie die elektronisch stampfenden Make Yourself Believe oder eben auch das Titelstück des besagten Albums IDK. Die Mischung aus Emo-Pop-Rock und nach vorne gehenden, tanzbareren Liedern kam beim Publikum gut an – wenig verwunderlich, stehen doch auch Enter Shikari für energetische Musik, in der Gitarrenriffs auf kräftige Sounds aus dem Computer treffen. “This is fuckin’ lovely, you’re so kind“, bedankte sich Ben bei den Fans, erzählte später noch davon, wie er mit 16 Jahren sein erstes Konzert von Enter Shikari gesehen hatte und wie krass es nun sei, für eben diese Band eröffnen zu dürfen. Wait Of The World lieferten jedenfalls ordentlich ab und hinterließen einen sympathischen Eindruck.
Setlist WAIT OF THE WORLD @ Dortmund, FZW (10.12.2024)
01. Treehouse
02. Bite My Tongue
03. I’m Sick
04. Make Yourself Believe
05. Life Worth Living
06. Neon Dream
07. Japan
08. Lies
09. IDK
Bei der Umbaupausen-Playlist hatte sich scheinbar jemand einen kleinen Spaß erlaubt. Time Life Music präsentiert …. HITS OF THE 80S!!! (Oder so ähnlich …). Nach Take On Me, Footloose, Girls Just Wanna Have Fun & Co. ging um kurz nach 21 Uhr das Licht aus. Nachdem Enter Shikari bei der vergangenen Tour im Februar 2024 erstmals mittelgroße Hallen in Deutschland ausverkauften (siehe Artikel aus Köln unten), ging es nun bewusst wieder in die kleinen Clubs. Bedeutet auch: eine spürbar reduzierte Licht- und Bühnenshow. Hier stand ungekünstelte Energie im Vordergrund und eben keine schön blinkenden LEDs, aufwendige Projektionen oder coole Wassertank-Effekte, wie sie noch im Februar zu sehen waren. Aber schon beim zweiten Song Antwerpen merkten beinharte Fans des Quartetts aus St. Albans bei Birmingham, dass etwas heute nicht ganz stimmt. Sänger Rou Reynolds, der normal wie ein Derwisch über die Bühnen dieser Welt fegt, reduzierte seinen Bewegungsradius merklich, ließ gleich mehrere Screams aus und klang in den cleanen Gesangparts in Songs wie The Last Garrison stellenweise doch arg kratzig. Er war weit entfernt von 100 Prozent, gab aber trotzdem sein Bestmögliches.
Die Stimmung litt darunter nicht. Schon direkt zu Beginn kletterte Gitarrist Rory Clewlow (hier im Interview zum aktuellen Album A Kiss For The Whole World) mitsamt Instrument ins Publikum, es wurde kräftig gepogt, laut mitgesungen, laut gejubelt. Rory und auch Bassist Chris Batten traten den Umständen entsprechend öfter ans Mikro als sonst. Letzterer ließ es sich zudem nicht nehmen, anzumerken, “that it’s been way too long since we’ve played in your wonderful city“. Und dann war da ja noch der heimliche Star des Abends: Crew-Mitglied Lewy, der an diesem Dienstag Geburtstag feiern durfte. Zu seinen Ehren holte Rou die Trompete heraus, spielte ein “Happy Birthday”, in welches das Publikum natürlich lautstark einstimmte. Doch damit nicht genug: Es folgte noch ein “Wie schön, dass du geboren bist …“-Chor. Vermutlich wird das Geburtstagskind überhaupt nicht verstanden haben, was ihm da entgegengebracht wurde, unterhaltsam, schön und spontan war der Moment aber allemal. Grund genug für Chris Batten sich (natürlich mit ironischem Unterton) zu sorgen: “This is gonna backfire, Lewy is going to be more popular than us …” – na, so schlimm ist es nicht geworden.
Denn angeschlagener Frontmann hin, populärer Backliner her: Da sind immer noch unfassbar gute Songs, die Genregrenzen sprengen. Enter Shikari nutzten die Clubtour für zweierlei: Stücke vom aktuellen Album spielen, teils auch die, die es im Februar nicht ins Set schafften, wie Dead Wood oder Leap Into The Lightning – und alte Lieder spielen, die zu den absoluten Fan-Favoriten gehören, aber bei ihrer Veröffentlichung in der Vergangenheit nicht unbedingt zu sehr ins Scheinwerferlicht gestellt wurden. Antwerpen mit seinem “Na na nananananananananaa“-Chor ist immer ein Garant für Euphorie, gleiches gilt für Brecher wie Anything Can Happen In The Next Half Hour oder Radiate, das nach gut 75 Minuten das Hauptset beschloss.
Die kurze Verschnaufpause vertrieben sich die rund 1300 zunehmend verschwitzten Fans mit dem traditionellen “And Still We Will Be Here … Standing Like Statues“-Chor, auf die damit korrespondierenden alten Songs Juggernauts und Stand Your Ground, This Is Ancient Land/Enter Shikari verzichten die Engländer auf dieser Tour aber. Stattdessen gab es Stop The Clocks, im Gegensatz zu Februar diesmal wieder im kompletten Line-up und nicht nur mit Reynolds solo an der Akustikgitarre, und am Ende A Kiss For The Whole World, ein runder Abschluss eines schönen Konzertabends, der mit einem Sänger in Bestzustand noch ein wenig schöner hätte werden können. Der zeigte sich schlussendlich erleichtert und dankbar: “I was scared that everything would go wrong, but …thanks for giving me your energy!“. Gern geschehen und gute Besserung!
Setlist ENTER SHIKARI @ Dortmund, FZW (10.12.2024)
01. Bloodshot (+ Shikari Sound System remix outro)
02. Antwerpen
03. The Dreamer’s Hotel
04. Arguing With Thermometers
05. Destabilise
06. Anything Can Happen In The Next Half Hour
07. Leap Into The Lightning
08. Sorry You’re Not A Winner (+Pendulum Remix)
09. The Last Garrison
10. The Great Unknown
11. Goldfish (+ Shikari Sound System remix outro)
12. The Jester
13. Dead Wood
14. Giant Pacific Octopus
15. Mothership
16. Radiate
17. Stop The Clocks
18. A Kiss For The Whole World
Weitere Konzertberichte zu Enter Shikari aus den Vorjahren findet Ihr hier:
ENTER SHIKARI / FEVER 333 / BLACKOUT PROBLEMS – Köln, Palladium (24.02.2024)
ENTER SHIKARI / BLACKOUT PROBLEMS – Köln, Luxor (08.04.2023)
ENTER SHIKARI / TRASH BOAT / WARGASM @ Oberhausen, Turbinenhalle 2 (20.12.2022)
Weblinks ENTER SHIKARI:
Homepage: www.entershikari.com
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Instagram: www.instagram.com/entershikari