Tag zwei des diesjährigen Mera Luna Festivals. Der höchst ungruftige Wetter-Trend sollte sich fortsetzen: Am Sonntag war es nochmal ein wenig wärmer als am Samstag, der bei einigen Unvorsichtigen schon ordentliche Sonnenbrände hervorbrachte. Unsereins, mit Sonnencreme eingeschmiert und Cap sowie gut gefüllter Trinkflasche ausgestattet, zog es natürlich pflichtbewusst wieder um 11 Uhr vor die Mainstage. Mit JanRevolution präsentierte sich eine Synth-Pop-Rock-Band, die ziemlich genau runden Geburtstag feierte. Mit einem launigen “Guten Morgen” wurden die Fans von Jan Christian Borkowski begrüßt, die eingängigen und recht abwechslungsreichen Songs machten Laune und warfen die Frage auf, warum die allermeisten nach scheinbar 20 Jahren Bandgeschichte noch nie was von der Formation gehört haben. Jan bedankte sich im Rahmen des erklärten Karrierehöhepunkts jedenfalls bei allen, die “uns seit fünf, zehn, 20 Jahre unterstützen und dabei sind“.
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Dann ging es flugs rüber zur Club Stage, denn mit Ext!ze präsentierte sich die “etwas andere Hellectro-Band”. Hier gibt’s nicht nur stumpf auf die Fresse, hier ist Humor erlaubt und gar erwünscht, hier paart sich das Cyber-Neon mit später 70er-Disco – wie grandios war bitte das abschließende Gothy Cool?. Herrlich auch die Bitte von Sänger Cyb3rella zum obligatorischen Abschluss-Selfie mit dem Publikum: “Ich möchte, dass Ihr jetzt alle die hässlichste Fresse zieht. Ich will das hässlichste Bild aller Zeiten!” Hier wurde einfach nur pure gute Laune versprüht. Leider nur 20 Minuten lang und damit viel zu kurz. Zumindest zehn Minuten länger durften Erdling danach auf der Hauptbühne ran. Mittlerweile verstärkt durch Valeria “Böse Fuchs” Ereth an der Gitarre (hey, eine Frau auf der Bühne, kaum zu glauben …), gefiel die nicht ganz so einfach zu kategorisierende Gruppe mit dicken Riffs, viel Energie und Spielfreude. Entsprechend die Reaktionen aus dem Publikum. “Kneif mich mal einer, ist das schön“, resümierte Frontmann Neill Freiwald durchaus zu Recht. Wach waren wir danach jedenfalls alle.
Gar nicht mal so weit weg von Erdling sind klanglich Eden Weint im Grab sowie Stahlmann. Auch hier das gleiche Bild: Viel Spielfreude, kräftige Gitarre, Gesichtsbemalung und begeistertes Publikum. Letztere stellten mit Interstellar gar einen noch nie gespielten Song aus ihren kommenden Album Phosphor vor (VÖ: 23.08.2024). Von neuen Songs sind die folgenden Zeraphine weit entfernt, was Sänger Sven Friedrich mittlerweile auch nur lakonisch-ironisch kommentiert. Die alten Dinger wie Die Macht in dir, Still oder Ohne dich funktionieren eben immer noch, zwischendurch gab es zur Auflockerung ein Linkin-Park-Cover (Shadow Of The Day). Letztlich sind Zeraphine aber auch eine dieser Bands, der eine dunkle Umgebung sicher besser steht als ein Open-Air-Auftritt bei 26 Grad und prallem Sonnenschein.
Kontrastprogramm zum Melancholie-Rock an der Club Stage: Da gab Damasius Venys (Mental Exile) sein Mera-Luna-Debüt bei Future Lied To Us und die beiden Kölner Human-Flummis von X-RX sorgten für zusammengerechnet knapp 60 Minuten elektronischen Wumms – die einen naturgemäß deutlich melodischer als die anderen. Seltsam nur, dass X-RX ihren wohl größten Hit Stage 2 diesmal rausließen.
Drüben war es dann Zeit für Musketier-Rock. Die immer populärer werdenden dArtagnan um Feuerschwanz-Fronter Ben Metzner spielten seltsam früh. Dass eine Band mit einem aktuellen Top-3-Chartalbum schon um 14.15 Uhr antreten muss, ist selten, tat der Stimmung aber keinen Abbruch. Vom jüngst veröffentlichten Herzblut schafften es lediglich Mosqueteros und Ruf der Freiheit ins Set, den Rest erledigten die Hits der Vorgänger, das Traditional Was wollen wir trinken und nicht zuletzt das fantastische Avicii-Cover Hey Brother, das einmal mehr beweist, dass gute Songs in unterschiedlichsten Musikrichtungen funktionieren können.
Kräftig hämmernde Beats derweil erneut an der Club Stage bei Das Ich. Mit Dauerbrennern wie Lazarus oder Destillat blieb das Energielevel hoch, aktuell arbeiten Stefan Ackermann und Bruno Kramm aber auch an einem neuen Werk. Zwei noch unveröffentlichte Stücke schafften es auch ins Set, wobei insbesondere Dantes Hölle (so der mutmaßliche Songtitel) durchaus Club-Qualitäten attestiert werden können. Und ein Hingucker sind die Auftritte ja bekanntlich ohnehin – diesmal waren die Gesichter der Band komplett in weiß-schwarz lackiert statt dem sonst so brennenden Ackermann-Teufelsrot. Die Gitarren-Fraktion konnten demnach guten Gewissens an der Hauptbühne bleiben und den Deathstars und ihren “Deathglam and Darkness”-Songs lauschen.
Wir blieben aber erstmal an der kleineren Bühne. Ein ganz besonderes Set hatten sich einmal mehr Welle:Erdball überlegt. Ja, auch der Sender gehört zu den Gruppen, die alle Jahre wieder zwischen Amphi und Mera Luna hin und her getauscht werden. Was man ihnen aber trefflich zugute halten muss: Das Quartett nudelt nicht jedes Jahr die gleichen Songs runter. 2019 gab’s am Tanzbrunnen eine reine Kraftwerk+80er-Jahre-Cover-Setlist, heuer ausschließlich Songs, die sich in irgendeiner Form mit dem Thema Krieg auseinandersetzen. Die Folge: Raritäten im Set wie Das Atom-Boot, ABC-Alarm oder Spiel mit der Welt. Eine sehr erfrischende und überraschende Performance, auch dank der optischen Untermalung durch weiße Mannequins mit Schusswaffen-Attrappen auf der ganzen Bühne, die manch einen zum Nachdenken bringen sollten. Wer für die Hits kam, durfte sich am Ende aber noch über Starfighter 104F-G und Feuerwerk freuen.
Ebenfalls speziell die nachfolgende Performance von Combichrist. In den Tagen zuvor bestanden die Konzerte von Andy LaPleguas erfolgreichstem Projekt fast ausschließlich aus dem neuen, wieder recht Metal-lastigen Longplayer CMBCRST. Auf dem Mera Luna waren aber nur noch der Norweger und Keyboarder Elliott vor Ort, mit einem Oldschool Set. Und wie Oldschool das war. Joy To The World, das Rhythm&Noise-Monster mit Charles-Manson-Sample vom ersten, von vielen längst vergessenen oder nie kennengelernten Album The Joy of Gunz, war Opener. Was für eine Rarität. Dazu versteckte sich LaPlegua noch hinter Laptop und Tasten, in der Folge wirbelte der Frontmann aber wieder voller Energie über die Bühne. Von God Wrapped In Plastic über This Is My Rifle, This Shit Will Fuck You Up und die ewigen Klassiker Blut Royale sowie Get Your Body Beat war fast alles dabei, was sich Fans der frühen Jahre wünschten. Entsprechend die Stimmung inklusive mächtigem Moshpit. “Can you see the fuckin’ smile on my face?“, fragte LaPlegua gegen Ende des Sets. Jep, konnten wir. Er war sicher nicht der einzige Anwesende, der nach diesem Auftritt Grund zum Lächeln hatte.
Weitere Wiederholungstäter auf dem Mera Luna sind Schandmaul, die gesundheitlich bedingt zu einer weitreichenden Änderung im Line-up gezwungen waren. Nach einer Rachenkarzinoms-Therapie ist die Stimme von Sänger Thomas Lindner noch nicht wieder bei 100 Prozent, weswegen der frühere Russkaja-Frontmann Georgij Makazaria bei den allermeisten Konzerten in diesem Kalenderjahr am Mikro steht und sich Lindner auf Gitarre und Keyboard konzentriert. Zudem war Violinistin Saskia nicht mit von der Partie – sie erwartet bald Nachwuchs. So durfte Shir-Ran Yinon am Tag nach dem Auftritt mit ASP gleich nochmal ran. Und während Streicher naturgemäß ähnlich klingen, macht die Stimme doch einen gewaltigen Unterschied. Ob das ausdrucksstarke, aber eben auch tiefe, gepresste Vokalorgan von Georgij so wirklich zu Schandmaul passt und funktioniert, sollte wohl jeder Fan für sich selbst entscheiden, es ist absolute Geschmackssache. Gelöst war die Stimmung allemal – ein Circle Pit um eine “Kein Bock auf Nazis”-Fahne inklusive. Und Thomas Lindner ließ es sich nicht nehmen, einige Worte ans Publikum zu richten. Beim Satz “Vor einem Jahr hätte ich mich nicht getraut, zu sagen, dass wir uns heute hier sehen” musste man dann doch schlucken. In diesem Sinne: Alles erdenklich Gute und weitere Genesung!
Schon bei Schandmaul war die erste Reihe in Teilen von Lord Of The Lost-Anhängerinnen gekapert – ich benutze hier bewusst die weibliche Form des Wortes. Nicht erst seit dem unverdienten ESC-Zero-Points-Desaster erfreuen sich Chris Harms & Co. großer Beliebtheit. Und egal, ob man dem mit gehörig Schmonz und Pomp aufgeblasenen Dark Rock etwas abgewinnen kann oder nicht: LOTL sind einfach Vollprofis, die exakt wissen, was es für mitreißende Liveperformances braucht. Das nicht nur auf Song-Ebene, sondern auch bezüglich ihrer Bühnenshow. Harms muss im schwarz-silbernen Glitzeranzug geschwitzt haben wie ein Irrer, zudem jagten die St. Paulianer noch massig Pyro in die Luft, weil ihnen 28 Grad bei Brutsonne noch nicht warm genug waren 😉 Mit Ausnahme der Headliner war es vor der Bühne bei keinem Act am Wochenende so voll, entlohnt wurden die zahlreichen Anwesenden mit kraftvollen Hits wie Drag Me To Hell, Raining Stars, We’re All Created Evil und natürlich dem abschließenden Blood & Glitter.
Danach leerte es sich deutlich sichtbar. Warum Epica den Co-Headliner-Slot bekamen und eben nicht Lord Of The Lost, erschloss sich nicht. Bei deutlich weniger massentauglichem Klang kamen Freunde des gepflegten Symphonic Metal auf ihre Kosten, durch den brutalen Stimmunterschied von Growler und Gitarrist Mark Jansen und Sopran Simone Simons entsteht im Soundbild eine interessante Dynamik. Letztere zeigte sich zudem recht redselig und das gar auf Deutsch. Wobei die Niederländerin ohnehin seit einigen Jahren mit ihrem Mann in Schwaben lebt. Einen etwas kürzeren Weg aus Gelsenkirchen hatten [:SITD:]. Auch eine Band, bei der man weiß, was man bekommt. Pumpende Beats, dröhnende Synthies, kräftige düstere Vocals – und am Ende machte das Publikum zum Dancefloor-Filler Snuff Machinery den Scheibenwischer. “Ihr seid der Wahnsinn, wir könnten euch alle umarmen“, so drückte Sänger Carsten Jacek es aus.
Headliner auf der Club Stage war die neben Front 242 älteste Band des Festivals. Wobei Die Krupps um das ewige Duo Ralf Dörper und Jürgen Engler jüngst ein wenig frisches Blut injiziert bekamen. Nun steht Ex-Sisters-of-Mercy-Gitarrist Dylan Smith bei den “Düsseldorfer Stahlarbeitern” an den Saiten. In Sachen Setlist blieb aber alles beim Alten, wer in den vergangenen fünf Jahren mal bei einer Krupps-Show war, für den gab es keine Überraschungen. Engler kam des Weiteren hier und da mal etwas aus dem Takt, was der Partystimmung inklusive Moshpits aber keinen Abbruch tat. Der Sänger stiftete zudem die Fans zum Regelbruch an: “Mir fehlt hier noch was. Wir spielten ja vor kurzem beim Copenhell Festival in Kopenhagen und da gab es viele Crowdsurfer. Und das waren sogar zu 75 Prozent Frauen!” Die Aktivierung funktionierte, es dauerte nicht lang, bis die ersten Damen sich auf den Weg in Richtung Graben machten – dabei ist Crowdsurfen auf dem Mera Luna eigentlich streng verboten. Sei’s drum … Nach lautem Jubel und einem wie immer brutalen Bloodsuckers zum Ende richtete Jürgen Engler noch ein paar persönliche Worte ans Publikum: “Ich glaube, wir sind im Schnitt alle fünf Jahre hier. Das reicht nicht! Wie wäre es mit alle drei Jahre …, alle zwei? Oder jedes Jahr? Wir kommen immer wieder, bis zum bitteren Ende. Und bis dahin wird es noch lange dauern, versprochen!” Hoffen wir drauf, dass er recht behält – diese Band hat noch reichlich Benzin im Tank.
Das “Finale Grande” war wie so oft bei Goth-Festivals im 21. Jahrhundert VNV Nation vorbehalten. Mit beeindruckender Lichtshow und einem guten Mix aus Alt-Hits wie Nemesis, Perpetual oder Space & Time sowie Stücken der aktuellen Electric Sun-LP rissen Ronan Harris & Co. die vielen Tausenden Fans vor der Mainstage so richtig mit. Klar, das (Handy-)Lichtermeer bei Nova durfte auch nicht fehlen – und mit All Our Sins war das Mera Luna 2024 dann schon wieder Geschichte.
Zum Abschluss ein sehr persönliches Fazit: Grundsätzlich gab es am Wochenende mit Ausnahme der horrenden Verpflegungspreise (und die sind heute nunmal leider normal) nicht viel auszusetzen. Die Akustik war Festival-untypisch insbesondere an der Mainstage durchweg gut bis sehr gut, bis auf den Totalcrash bei Funker Vogt kam es zu kaum bis keinen organisatorischen Problemen, die für die breite Masse wahrzunehmen waren. Es gab genügend Trinkwasserstellen, die bei der Dauerhitze bitter nötig waren und die Stimmung war nahezu bei allen Bands gelöst bis euphorisch. Hinten raus forderten viele in den Sozialen Medien (zurecht) mehr Schattenplätze auf dem Gelände, ohne Kopfbedeckung und Sonnencreme wurde man nahezu überall ungesund durchgebrutzelt. Wie die Menschen hinter der offiziellen Mera-Luna-Facebookseite allerdings umgehend antworteten, scheint dies wegen Fluchtwegen und weiteren organisatorischen Faktoren nicht möglich zu sein. Auffällig war, wie viele Artists auf der Bühne in ihren Zwischenansagen von einem “Familientreffen” sprachen und sich freuten, viele alte Bekannte wiederzusehen. Und darin liegt leider auch die Krux.
Schaut man sich das Line-up mal an, fallen zwei Dinge auf: 1. Nahezu alle Bands, selbst die zu früher Stunde spielenden Acts wie Erdling, Stahlmann oder Schwarzer Engel, waren schon zigmal beim Mera Luna dabei. Der Nachwuchs, den die immer weiter alternde Szene so dringend bräuchte, erhielt quasi überhaupt keine Bühne. Selbst die Opener-“Newcomer”-Bands um 11 Uhr bestanden zu 100 Prozent aus Männern im mittleren Alter. Was gleichzeitig zu Punkt 2 führt: Der Frauen-Anteil war eine Katastrophe. Zwei Sängerinnen bei Welle:Erdball, eine bei Epica, eine Gitarristin bei Erdling respektive Hämatom sowie die Instrumentalistinnen Birgit und Shir-Ran bei Schandmaul/ASP – das war’s. Sieben Frauen bei 40 Bands. Während verschiedene rein männlich besetzte Veteranen-Bands wie Oomph! (Böse Fuchs), Front Line Assembly (Kanga) oder Front 242 (Rein) zuletzt immer wieder jungen, spannenden weiblichen Acts in ihrem Vorprogramm die Chance gegeben haben, ihr zweifellos vorhandenes Talent unter Beweis zu stellen, kommt dies bei den Verantwortlichen scheinbar überhaupt nicht an.
Der Blick auf die ersten bestätigten Acts für 2025 sorgt diesbezüglich für weitere Ernüchterung. Wie schon in diesem Jahr fehlt ein internationaler Headliner, es wird einfach wieder mal das Duo vom diesjährigen Amphi Festival eins zu eins übernommen. Das ist für ein Festival mit 25.000 anwesenden Fans, das über die Jahre unter anderem Tool, Placebo, Nightwish, Within Temptation, Ville Valo, Editors oder The Prodigy begrüßen durfte, einfach zu wenig. Auch in den unteren Zeilen auf dem Plakat fehlen mit Ausnahme der Ritual-Folker Heilung jegliche Aha-Effekte oder spannende Newcomer, unabhängig vom Geschlecht. Zu stören scheint das aber kaum jemanden, von einigen wenigen Facebook-Kommentatoren mal abgesehen. Viele Tausende Tickets für das Event am 9. und 10. August 2025 waren ruckzuck weg, auf der Festivalhomepage gibt’s wenige Tage nach VVK-Start schon nur noch die “Vollmond-Tickets” zum Preis von 159 Euro.
Den Bericht vom Samstag findet ihr hier:
MERA LUNA 2024: Samstag – Flugplatz Drispenstedt (10.08.2024)
Eine Bildgalerie von der Clubstage findet Ihr hier:
Fotos: M’ERA LUNA 2024 – Bands -ClubStage- Sonntag (11.08.2024)
Eine Bildgalerie von der Mainstage findet Ihr hier:
Fotos: M’ERA LUNA 2024 – Bands -MainStage- Sonntag (11.08.2024)
Weblinks M’ERA LUNA:
Homepage: https://meraluna.de/
Instagram: https://www.instagram.com/meralunafstvl/