ULTRA SUNN im Interview: “Vieles entwickelt sich für uns in die richtige Richtung” (english version below)

ULTRA SUNN im Interview: "Vieles entwickelt sich für uns in die richtige Richtung" (english version below)
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Wer des Öfteren auf EBM- oder Dark Wave/Cold Wave-Partys abhängt, dürfte schon einmal von Ultra Sunn gehört haben. Das belgische Duo um Sänger Sam Huge und Produzentin/Keyboarderin Gaelle Soufflet hat in den vergangenen Jahren den einen oder anderen Clubhit abgeliefert. Mit Songs wie Night Is Mine, Can You Believe It und allen voran Keep Your Eyes Peeled gelangen dem Paar erste spürbare Achtungserfolge. Peitschende Stampfbeats, New-Beat-Bässe und der dunkle Gesang kreieren ein maximal tanzbares Soundbild, das sowohl Fans von Oldschool-EBM-Acts wie Nitzer Ebb, Front 242 oder A Split Second, als auch von aktuellen Düster-Wave-Bands wie Lebanon Hanover und Selofan gefallen sollte. Die bisherigen Veröffentlichungen, drei EPs an der Zahl, sorgten auch schon für zahlreiche Konzertbookings am anderen Ende der Welt. Allein 2024 sind Ultra Sunn zweimal auf großer US-Tournee unterwegs, um ihr nun erscheinendes Debütalbum US vorzustellen. Zwischendurch stehen aber auch immer wieder Gigs auf europäischem Boden an. Die beiden beantworteten im Zuge des LP-Release einige unserer Fragen rund um musikalische Einflüsse, Festival- und Backstage-Erlebnisse sowie die Situation von Frauen im doch sehr maskulin geprägten EBM-Genre.

Lass Dir den Beitrag vorlesen:

1) Zunächst einmal: Wie gut fühlt es sich an, nach den drei EPs Night Is Mine, Body Electric und Kill Your Idols jetzt endlich ein “richtiges” Album veröffentlichen zu können?

Wir sind sehr aufgeregt und glücklich, dass das erste Album jetzt raus ist. Der Prozess war im Vergleich zu den EPs auch ein anderer. Wir begreifen dieses Album als ein zusammenhängendes Ganzes und sind darauf erpicht, es durch Live-Performances zum Leben zu erwecken.

2) Habt Ihr eine Form von zusätzlichem Druck verspürt, weil “DAS Debütalbum” einer Band in den Augen vieler Musikfans traditionell einen Sonderstatus hat (gerade im Vergleich zu EPs)?

Nicht wirklich. Wir streben danach, die Musik zu machen, die wir lieben und hören wollen. Das Wichtigste für uns ist, am Ende mit den Tracks glücklich zu sein, dass sie sich für uns aufrichtig und echt anfühlen. Es war jetzt das richtige Timing, ein erstes Album zu veröffentlichen und Vieles lief wie von selbst.

3) In den vergangenen Wochen und Monaten habt Ihr schon viele Songs des Albums via Streaming, aber auch live vorgestellt. Ich war bei der Show mit Selofan in Dortmund und hatte das Gefühl, dass jedes Stück genauso gut funktioniert wie ältere Hits, die seit Jahren bekannt sind. Wie fühlten sich diese “Showcase-Shows” für Euch an, wie waren die Reaktionen?

Wir liebten die Gelegenheit, die neuen Songs schon in Live-Sets packen zu können und nahmen sehr starke Publikumsreaktionen wahr. Dass wir einige Singles schon vorher einzeln veröffentlichten, erlaubte den Fans, sich mit den Stücken schon einmal anzufreunden und mitzusingen.

4) In anderen Interviews habt Ihr bereits erzählt, dass Bands wie Front 242, A Split Second oder Underworld Euch inspirierten. Ich bin ehrlich und hoffe, dass das in Euren Ohren nicht zu blöd klingt: Ich höre in Eurem Sound sogar einige Klänge, die man aus dem eher trashigen wahrgenommenen Eurodance-Genre kennt. Mal ehrlich: Sind vielleicht auch (ganz oder in Teilen belgische) Acts wie Technotronic oder 2 Unlimited ein Einfluss?

Das klingt doch gar nicht blöd! Wir lieben Eurodance. Das ist das Genre, mit dem wir aufgewachsen sind. Es inspiriert uns wirklich. Die 90er-Szene in Belgien hat einige exzellente Musik hervorgebracht. Wir denken da auch an Acts wie Modular Expansion, Digital Excitation, Lords of Acid, oder 2 Flying Stones. Generell: Wir lieben frische und intensive Energien, die uns helfen, zu wachsen und unsere positive Message zu verbreiten.

ULTRA SUNN - Some Ghost Could Follow (Session Part 2)

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5) Zudem habt Ihr auch schon verraten, dass Ihr generell viel Musik hört, die gitarrendominiert ist und Sam auch selbst Gitarre spielt. Eure Musik klingt aber stets vollelektronisch. Ist es für euch eine Option, über die Ihr nachdenkt, irgendwann die Gitarre bei Ultra Sunn zu etablieren und euch wie viele andere EBM-Acts in der Vergangenheit ins Industrial-Rock-Genre vorzuwagen?

Sam hat einen Rockmusik-Hintergrund, die E-Gitarre ist sein erstes Instrument. Manchmal nehmen wir sie zur Hand, um Melodien zu komponieren, vor allem für Refrains. Dann transponieren wir diese in unsere Maschinen und Synthies. Unsere Musik ist hauptsächlich von EBM und New Beat inspiriert, in unseren Augen sind das zwei sehr Rock-orientierte Musikstile. Die Energie und Attitüde bleibt die Gleiche, man lässt nur die Gitarre weg. Wir würden die Option nicht komplett ausschließen, aber wir lieben es, die klanglichen Möglichkeiten auszuloten, die uns analoge Maschinen und Sampler geben. Das ist etwas, was uns sehr inspiriert.

6) Ihr durftet schon mehrfach Konzerte für Front 242 und Nitzer Ebb eröffnen, die wahren Legenden der EBM. Hattet Ihr Zeit, sie backstage zu treffen und wenn ja, welche Ratschläge gaben sie Euch?

Gerade mit Front 242 hatten wir einige schöne Momente. Sie gaben uns viele Ratschläge in puncto Musikproduktion, Komposition und technischen Aspekten, wie wir unsere Maschinen nutzen. Es war sehr bereichernd, sich mit ihnen austauschen zu können, aber auch zu merken, dass sie sich für unsere Erfahrungen und Standpunkte interessierten. Und sie zeigten, wie sie über all die lange Zeit ihrer Karriere frisch und fokussiert blieben.

7) Ihr wart auch schon kräftig auf den amerikanischen Kontinenten unterwegs. Das kann wahrlich nicht jeder Indie-/Underground-Act aus Europa von sich behaupten. Welche Erinnerungen stechen für Euch heraus und welche Unterschiede zum Live-Erlebnis in Europa gibt es?

Es ist tatsächlich sehr verschieden, obwohl wir alle die Leidenschaft für Musik teilen. Der größte Unterschied ist wohl, dass vor allem die südamerikanischen Länder eine sehr wichtige und unverkrampfte Tanz-Kultur besitzen. Es ist da völlig normal, im Supermarkt Salsa zu tanzen, während man einkauft. Wir haben das geliebt! Darüber hinaus hatten wir das Gefühl, uns mit weit weg lebenden Menschen wieder verbinden zu können, obwohl wir sie noch nie zuvor in der Realität getroffen hatten. Dieses Gefühl ist unbezahlbar.

8) Dieses Jahr erwarten Euch wieder interessante Live-Konzerte. Das vermutlich beeindruckendste Erlebnis dürfte das Sick New World in Las Vegas sind. Was hätten 2019-Gaelle und 2019-Sam geantwortet, wenn man Ihnen damals gesagt hätte: “In fünf Jahren steht Ihr auf einem Billing mit Slipknot und System of a Down.”?

Wir wären vermutlich umgekippt. Aber mal im Ernst: Es entwickelt sich für uns seit dem Anfang von Ultra Sunn vieles in die richtige Richtung und das in einer angenehmen Geschwindigkeit, eins nach dem anderen. Das erlaubt es uns, mit der nötigen Entspannung auf diese Tour zu gehen, gerade auch dieses Festival zu spielen. Natürlich freuen wir uns aber auch riesig auf das Publikum und die Gelegenheit, mit vielen Bands, die wir verehren, gemeinsam dort spielen zu dürfen. Und ja, wir werden da auch etwas Zeit drumherum verbringen und uns Bands wie auch Las Vegas angucken, bevor es für uns dann weiter auf Tour geht.

ULTRA SUNN - Shake Your Demons (Session Part 1)

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9) Gibt es sonst noch Erlebnisse, auf die Ihr Euch in 2024 besonders freut?

Los Angeles wird sicher ein fantastischer Abend. Und wir möchten natürlich das Konzert in unserer Heimatstadt Brüssel am 1. Juni erwähnen. Wir lieben das Venue und ein Heimspiel ist natürlich etwas Besonderes. Aber auch der Rest der Tour wird großartig und wir werden auch noch einige Dates ergänzen. Wir können es kaum erwarten!

10) Wenn man so sieht, wie voll Euer Tourplan ist, könnte man meinen, dass Ihr von der Band mittlerweile leben könnt. Oder habt Ihr noch reguläre Jobs neben her?

Die Band erhielt just dann das nötige Momentum, als Sam gerade sein Studium abschloss. Aktuell ist Ultra Sunn unser einziger Job.

11) Zum Abschluss noch ein ganz anderes Thema: Auch nach mehr als 40 Jahren ist EBM immer noch eine einzige Würstchenparty. Es gibt nur ganz wenige Frauen, die diese Art von Musik produzieren oder in entsprechenden Bands mitspielen. Kannst du, Gaelle, hier vielleicht eine Art Vorbild- oder gar Idol-Funktion einnehmen? Und ist das ein Thema, über das Ihr vielleicht auch nach Konzerten mit Fans redet?

Tatsächlich ist die EBM-Welt eine, in der es viele Männer gibt. Das ist aber in der Musikindustrie generell so. Andererseits: In “unserer” Szene entwickelt sich etwas, es gibt zunehmend Platz für Frauen. Ich weiß nicht, ob wir darüber sprechen sollten, dass ich ein Idol sein könnte, aber ich kann zeigen, dass man nicht zwingend singen muss, um als Frau in einer Band zu sein. Ich liebe die Arbeit mit meinen Maschinen, die Musikproduktion an sich. Tatsächlich gibt es aber Frauen, die nach den Konzerten mit mir darüber sprechen, was immer sehr inspirierend ist. Ich bemerke auch, dass das Frau-sein in der Musikindustrie auch queere Menschen und andere Minderheiten inspirieren kann, Musik zu machen und damit aufzutreten, zu touren.

ULTRA SUNN live im deutschsprachigen Raum:

06.06.2024 Berlin, Gretchen Club
28.07.2024 Köln, Amphi Festival

AMPHI FESTIVAL 2024 – Alle Infos zu Line-up und Vorverkauf

Weblinks ULTRA SUNN

Homepage: www.ultrasunn.com
Facebook: www.facebook.com/ULTRASUNN
Instagram: www.instagram.com/ultrasunn
Bandcamp: ultrasunn.bandcamp.com/album/us

English version:

1) First of all: How good does it feel to finally have a full length album out in a few weeks after releasing the three EPs Night is Mine, Body Electric and Kill Your Idols?

We are very excited and happy to release this first album. The process was quite different from when we were making our EPs. We conceived this album as a cohesive whole, and we are eager to bring it to life through live performances.

2) Did you feel some “extra pressure” while making it because in most people’s minds albums, especially a debut album, is more important than EPs?

We didn’t really feel any pressure. We strive to make the music that we love and want to hear. The most important thing for us is to be happy with the tracks in the end; it’s our way of being most sincere in our approach. It was just the right timing to release this first album, and things happened quite naturally.

3) In recent weeks you played lots of the new tracks live. I was at the show in Dortmund with Selofan and got the impression that every single new song worked as good as the older ones that are known for years. How did it feel for you lately, how were the reactions of the audience?

We love being able to incorporate these new tracks into our set, and we notice that the audience is very responsive. Releasing the singles one by one before the complete album release allows people to have time to familiarize themselves with the songs and be happy to sing them along with us.

4) In former interviews you stated that bands like Front 242, A Split Second or Underworld inspired you. I think I also discovered some “proto-eurodance”-sounds in your music. So I don’t hope that this question doesn’t sound too stupid in your ears, but: Are early-90s acts like Technotronic or 2 Unlimited an inspiration for you as well?

It doesn’t sound stupid at all! We love Euro dance; it’s also the music we grew up with and that inspires us a lot. The 90s scene in Belgium indeed has many excellent things; we think of Modular Expansion, Digital Excitation, Lords of Acid, or 2 Flying Stones, to name a few. We love this fresh and intense energy that helps us build and share our positive message!

5) I read that you listen to a lot of guitar-based music and have some skills on the instrument as well. But your music, at least until now, has been fully electronic. Is it an option for you in the future to include guitar riffs and going into a more “industrial rock or whatever you may call it” direction?

Sam has a rock musical background, and his first instrument is the electric guitar. Sometimes we pick up a guitar to compose melodies, especially for the choruses, and then transpose the music onto our machines and synths. Our music is mainly inspired by EBM and New Beat, which, in our eyes, are two very rock-oriented styles of music. The energy and rock attitude remain the same, simply by breaking away from the guitar. We’re not closed to the idea, but we really enjoy exploring the sound possibilities of analog machines and samplers; it’s something that inspires us a lot.

ULTRA SUNN | IT SESSIONS

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6) You’ve been on tour with the likes of Front 242 and Nitzer Ebb, true legends and pioneers. Has there been some time for backstage meetings and talks and if yes, which advice did they give you?

We’ve had some particularly good moments with Front 242, who have given us a lot of advice on how to produce music, compose, or even some very technical aspects of the machines we use. It’s really enriching to be able to exchange with them and to notice how much they are also eager to listen to our experiences and viewpoints, showing how they have remained fresh and accurate over all this time.

7) You had the opportunity to play quite a lot of shows in North and South America, something that certainly not every independent music act from Europe can do. Which memories stand out for you? Is it really “that different” from Europe (atmosphere, crowd, organization, traveling) like so many other artists say?

It’s indeed quite different from Europe, even though ultimately we’re all passionate about music. The main difference, especially in South America, is that these are countries with a very important and uninhibited dance culture. It’s completely normal to dance salsa while shopping in a supermarket. We absolutely loved that. Above all, we had a feeling of reconnecting with distant friends even though we had never met before, and that feeling is priceless.

8) This year there will be some great live events for you as well: Maybe the one with the most interesting line-up is the “Sick New World” in Las Vegas. What would 2019-Gaelle and 2019-Sam have thought if someone told them: “In 5 years you are on one festival bill with System of a Down and Slipknot” ? And will you have some time to check out some of the other bands?

We probably would have fainted! But on a more serious note, things have been evolving in the right direction since the beginning of the band, and especially at a good pace, one thing at a time. This allows us to be calm for this tour, and particularly for this festival. However, we are no less excited and so happy to meet such a great audience and to share the lineup with bands we’ve always loved. Of course, we’ll spend some time at the festival and enjoy the concerts and Las Vegas before continuing our tour.

9) In addition: What other dates or festivals are you looking forward to most in 2024? 

We are very excited to play in Los Angeles, which promises to be a fantastic evening. We would also like to mention our concert in Brussels on June 1st, in our hometown. It’s a venue that we love, and it’s special for us to play at home. The rest of our 2024 tour is going to be amazing, and there will be more dates added. We just can’t wait!

10) Your tour plan for 2024 is quite full, with two tours in the US next to lots of European dates. It may seem like you can live “just from music” . or do you still have any other regular jobs next to Ultra Sunn?

The band started to gain momentum just as Sam was finishing his studies, and now ULTRA SUNN is our only job.

11) Completely different topic: Even after more than 40 years of the music genre EBM is a total “sausage party”. There are just a very few women producing and performing this or similar style(s) of music. Is it possible that you, Gaelle, become some kind of “idol” or influence for other women? Are there some girls coming to you after live shows and talking about this?

It’s indeed a world where there are a lot of men. However, this is also the case in the music industry at large. On the other hand, the scene we’re in, especially concerning the new generation, is becoming increasingly inclusive, leaving more room for women than before. I don’t know if we can talk about being an idol, but I think I can show that you don’t have to be the female singer to be in a band; I love my work on the machines and on the music production. Other women have indeed come to talk to me after concerts, and it’s always inspiring to exchange with them. I also notice that being a woman in this industry can also inspire queer people and other minorities to dare to make music and tour.

 

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