Tag 2 beim diesjährigen Amphi Festival. Und dieser hätte für den Schreiber dieser Zeilen eigentlich um 11 Uhr mit den Dark-Rockern Schöngeist beginnen sollen – die Deutsche Bahn hatte etwas dagegen. Erste Töne wurden stattdessen von Wiegand aufgenommen, die kurz vor Festivalbeginn für die scheinbar recht spontan aufgelösten The Joke Jay eingesprungen waren. Mit dem gefälligen Synthiepop konnte man sich gut für die kommenden knapp zehn Stunden eingrooven. So richtig auf Betriebstemperatur ging es kurz darauf mit den Tschechen von Blitz Union, die erst kürzlich als Support von Subway To Sally hierzulande zu sehen waren und sich zur frühestmöglichen Stunde über ein sehr gut gefülltes Theater freuen durften. Einige Fans in den vorderen Reihen hatten sich gar mit der Maske im Design des Bandlogos ausgestattet. Die Prager Synthrocker bedankten sich mit einer speziell eingedeutschten Version ihres Songs Plastic und konnten die Stimmung über ihre Dreiviertelstunde hoch halten. Eine junge Formation, von der man sicher noch einiges hören wird. Gleiches gilt für die im Theater folgenden Traitrs. Die Kanadier, deren in der Szene wohl prominentester Fan Ronan Harris sie im Frühjahr auf die Electric Sun-Tour von VNV Nation mitnahm, bewiesen einmal mehr, warum sie zu den besten Post-Punk-Newcomern der Stunde zählen.
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Das Schöne bei einem Festival mit drei Bühnen: Für jeden Geschmack ist quasi zu jeder Stunde etwas dabei. Für völlig andere Sounds, nämlich die Verschmelzung von Mittelalter- und Folk-Klängen mit elektronischer Musik, stehen auf der Mainstage Qntal, deren Sängerin Syrah den Ohren einmal mehr mit ihrem Mezzosopran schmeicheln konnte. Die denkwürdigste Performance in der ersten Tageshälfte fand aber zweifelsohne auf der MSRheinEnergie statt, wo das Ensemble Oberer Totpunkt aufspielte. Mit zwei Drumsets, eines davon teils in rot lackiert, Gitarren, Keyboards und mehreren Requisiten wie einem Hammer, einem Megafon, einem mit Blüten drapierten Mikrofonständer, mexikanischen Totenmasken sowie einigen Prisen Kunstblut bot das Projekt von Bettina Bormann und Michael Krüger mächtig was fürs Auge. Und musikalisch? Vergleiche mögen bekanntlich die wenigsten Bands, aber vielleicht trifft die Bezeichnung „Goethes Erben trifft moderne Elektronik trifft Neue Deutsche Härte“ ja ins Schwarze? So oder so: Das war so eingängig wie wuchtig wie ungewöhnlich und bleibt deshalb in Erinnerung – und die Tatsache, dass die Bandmitglieder noch lange für einen Plausch am Merchdesk zu finden waren, rundet den sehr positiven Eindruck ab.
In Sachen Bühnenperformance folgte das exakte Gegenteil. Potochkine begnügen sich mit einigen Maschinen, zwei Mikros (eins mit, eins ohne Hall-Effekt) und einem Screen, auf dem 45 Minuten lang nichts außer dem Bandnamen aufleuchtete. Aber wer kann sich darüber beschweren, wenn dann so eine Klanggewalt aufs Publikum losgelassen wird wie bei dem französischen Duo? Zwischen Dark Wave, Dark Techno und EBM einzuordnen, hämmerten die Beats auf dem Innendeck umher. Sängerin Pauline haut dazu alles rein, was geht. Sie singt, schreit, kiekst, haucht, quietscht, nimmt sich zwischendurch auch die Zeit, dem Publikum in den vorderen Reihen einen Besuch abzustatten und so abzutanzen, wie es die Umstehenden zu Krachern wie dem passend betitelten Pogo ebenfalls taten. Wer auf der Suche nach treibenden frischen elektronischen Sounds ist und keine Probleme mit der französischen Sprache hat, dem seien Potochkine und insbesondere ihr aktuelles Album Sortilèges absolut ans Herz gelegt. Schade, dass es weder Merch noch Musik von Pauline und Hugo vor Ort zu kaufen gab.
Auf der Mainstage ging das „Genre, wechsel dich“-Spielchen derweil munter weiter. Solitary Experiments, die im kommenden Jahr (genauer: Mitte September, ein exaktes Datum folgt) ihr 30-jähriges Bestehen mit einer großen Show im Berliner Kesselhaus feiern werden, verzückten ihre traditionell zahlreich vertretene Fangemeinde mit treibenden Elektro-Sounds. Sänger Dennis Schober, bekennender „Gelato“-Anhänger, ließ es sich zur Feier des Tages nicht nehmen, den traditioneller Solitary-Kleiderkodex (rotes Hemd, schwarze Krawatte) ein wenig anzupassen und erschien im späteren Verlauf der Performance in einem Langnese-Eiskarten-Retroshirt. Nicht das einzige wahrlich herausstechende Outfit, das an diesem Tag auf der Hauptbühne zu sehen sein sollte. Doch dazu später mehr.
Erstmal war es an der Unzucht, die einmal mehr viele Songs ihres Debütalbums Todsünde 8 auf das Publikum losließ, die Stimmung hochzuhalten. Wenige Tage nach dem Festival kündigten die Niedersachsen eine neu gemasterte Fassung der Platte für den 13. Oktober an – Hits wie Engel der Vernichtung oder Deine Zeit läuft ab erstrahlen darauf nochmal in neuem Glanz. Und wer sich Sorgen macht, dass Sänger Daniel Schulz nach seinem Einstieg bei Oomph! nicht mehr mit vollem Herz bei seiner „alten“ Band dabei wäre – dem konnte nach diesem Auftritt ein glasklares Nein entgegnet werden. Den Song gibt’s übrigens wie einige weitere Stücke als Drohnen-Live-Aufnahme auf dem offiziellen YouTube-Kanal des Festivals zu sehen und zu hören.
Der Nachmittag im Theater stand derweil im Zeichen der Frontfrauen mit beeindruckender Präsenz. Scarlet Dorn ist nach Touren und Zusammenarbeiten mit Oomph! und Lord Of The Lost vielen Beobachtern ein Begriff, der gemeinsam mit Chris Harms aufgenommene Song I Love The Way You Say My Name (über 900.000 Streams bei YouTube) stand aber leider nicht auf der Setlist. Schade, war eben jener Harms doch ohnehin zugegen (siehe weiter unten im Artikel). Nichtsdestotrotz sorgten Scarlet und ihre Mitstreiter an den Instrumenten für Verzückung und Top-Stimmung im Theater. Gleiches gilt für Fenne Kuppens von Whispering Sons, die mit ihrer womöglich von Ian Curtis inspirierten Performance immer wieder aufs Neue fasziniert. Die Belgier ließen es sich nicht nehmen, neben Postpunk-Krachern wie Heat und Alone auch einige bislang unveröffentlichte Stücke zu präsentieren.
In die Vergangenheit blickte hingegen Andy LaPlegua, der für die „I listened to Combichrist before they were Metal“-Fraktion einige Klassiker aus den früheren Jahren zum Besten gab. Ins „Oldschool Electro Set“ schafften es mit Feed Your Anger, Are You Connected und Without Emotions Songs, die im Band-Line-up schon lange nicht mehr erklingen. Leider litt das Set, „eines der letzten Oldschool-Sets, die wir für lange Zeit spielen werden“, des Norwegers an stellenweise deutlich zu leisem Sound. Das konnte man von Martin Sane aka Fix8:Sëd8, der mit Horror-Gewandung und Gruselprojektionen für passende atmosphärische Untermalung seines Dark-Electro-Sounds sorgte, sowie Rue Oberkampf auf der Orbit Stage wahrlich nicht behaupten. Teilweise hämmerte der Bass gerade bei der aus München und Passau stammenden Band schon etwas zu heftig. Das Publikum ließ sich davon nicht stören und feierte zu Brechern wie Solitude, Es versucht und La Course kräftig ab, nicht selten mit geschlossenen Augen. Denn, wie Fans des Electroclash, Dark Wave und EBM kombinierenden Trios wissen: Hier gibt es mächtig Strobo auf die Augen. Den Epilepsie-Test bestanden glücklicherweise alle Anwesenden, Sängerin Julia sorgte mit einem nüchternen „Ich sehe, einige von euch haben ihre Sonnenbrillen dabei. Gute Entscheidung“ für den Spruch des Festivals. Ähnliche musikalische Gefilde bereisen die darauf folgenden NNHMN – und auch hier durfte man sich über treibende Beats, wabernde Basslines und prägende weibliche Präsenz freuen, die in anderen Subgenres der Schwarzen Szene eben immer noch absolute Mangelware ist.
Zurück zum Tanzbrunnen: Coppelius waren quasi der Fremdkörper im Line-up, generell spielen Acts, die eher im folkig-/mittelalterlichen Bereich zu verorten sind, beim Amphi keine große Rolle. Stimmungsgaranten sind sie aber trotzdem regelmäßig. So auch diesmal die Berliner mit ihrem „Kammercore“. Darin enthalten war auch eine gelungene Coverversion von System Of A Downs Klassiker Chop Suey. nebst Klassikern wie Risiko oder Gumbagubanga. Danach wurde das Publikum wieder einmal kräftig durchgewechselt, denn der Auftritt der schwedischen Synthpopper Kite stand an. Der lief eine Zeit lang auch absolut positiv, gegen Ende wurden die Malmöer aber von der Technik im Stich gelassen, was einen vorzeitigen Konzertabbruch zur Folge hatte. Schade.
Von „Svenskan Synthpop“ zu „Allemagne Zero Points“: Lord Of The Lost spielten nach dem ESC-Desaster in Liverpool wieder vor ihrer Heimatszene und vermochten es, das Publikum mal so richtig mitzureißen. „Fühlt sich gut an, zuhause zu sein“, ließ Sänger Chris Harms das tobende Publikum wissen. Den zahlreich zu erspähenden T-Shirts zufolge waren viele Fans exklusiv für LOTL da und bekamen nicht nur Hits wie Die Tomorrow, Loreley und das abschließende Drag Me To Hell auf die Ohren, sondern auch einen ganz besonderen Schmaus auf die Augen. Oder? Nun ja, wie man zum „Borat-Strand-Outfit“ von Keyboarder Gared Dirge steht, bleibt jedem selbst überlassen – die meisten schienen aber trefflich amüsiert zu sein.
Deutlich dunkler, wenngleich die knallblauen Haare von Keyboarderin Shannon Hemmett einen Akzent setzen, sind Actors zugange, musikalisch wie outfit-technisch. Der Auftritt der Postpunk/Gothrock-Band aus Vancouver wurde mit Spannung erwartet, gehören Jason Corbett & Co. doch allgemein zu den aufstrebendsten Gruppen der Szene und heimsten für ihre beiden Alben It Will Come To You und Acts Of Worship vielerorts starke Kritiken ein. Und ja, die Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Ein erfrischendes schwarzes Hit-Feuerwerk erster Güte, dank Krachern wie Strangers, Like Suicide, Face Meets Glass oder dem abschließenden Bury Me. Leider war es im Theater zumindest im hinteren Bereich allerdings recht leer. Wie so oft auf Festivals wie Club-Tanzflächen galt auch hier: Was der Schwarzkittel nicht schon mindestens 25 Jahre lang kennt, das wird gerne ignoriert.
Denn sicherlich waren nicht alle, wenngleich natürlich viele bei L’Âme Immortelle auf dem Schiff oder gerade bei OMD an der Hauptbühne. Fünf Jahre zuvor traten Andy McCluskey, Paul Humphreys und Kollegen noch als Co-Headliner beim Amphi auf. Die Reaktionen waren derart euphorisch, dass es nun für den ganz großen Slot reichte. Und was soll man sagen? Die Entscheidung der Veranstalter entpuppte sich als goldrichtig. Die Veteranen übertrafen ihren Gig von damals noch einmal. Trotz des nun wieder recht kräftigen Regens war die Stimmung vor der Mainstage bestens, die Performance von viel Spielfreude geprägt. Schade, dass nach dem Über-Hit Enola Gay Schluss war – die lautstarken „Zugabe“-Rufe blieben um kurz vor 22 Uhr sicher auch der restriktiven Lärmschutzverordnung wegen leider unerhört.
02. Electricity
03. Messages
04. History Of Modern II
05. (Forever) Live And Die
06. If You Leave
07. Souvenir
08. Joan Of Arc/Maid Of Orleans
09. Talking Loud And Clear
10. The Punishment Of Luxury
11. So In Love
12. Pandora’s Box
13. Locomotion
14. Sailing On The Seven Seas
15. Enola Gay
02. Like Suicide
03. Only Lonely
04. L’appel du vide
05. Slaves
06. Crystal
07. Killing Time (Is Over)
08. Obsession
09. Cold Eyes
10. We Don’t Have To Dance
11. Face Meets Glass
12. Post Traumatic Love
13. Strangers
14. How Deep Is The Hole?
15. Bury Me
02. Requiem
03. Asche
04. 5 Jahre
05. Fear
06. Life Will Never Be The Same Again
07. Es tut mir leid
08. Angst
09. Judgement
10. Catch My Fall
11. Stumme Schreie
12. Fallen Angel
13. Bitterkeit
14. Still
02. Kill It With Fire
03. The Future Of A Past Life
04. Dry The Rain
05. Under The Sun
06. Destruction Manual
07. Loreley
08. Die Tomorrow
09. Blood & Glitter
10. One Last Song
11. Drag Me To Hell
02. Are You Connected
03. Blut Royale
04. Electrohead
05. Feed Your Anger
06. Fuck That Shit
07. Get Your Body Beat
08. I Want Your Blood
09. Fuckmachine
10. Without Emotions
11. They
02. To My Creator
03. Nur für dich
04. Schöne Augen
05. Chop Suey!
06. Kryptoxenoarchäologie
07. Diener 5er Herren
08. Gumbagubanga
09. Risiko
10. Bitten Danken Petitieren
11. Dark Ice
02. Prognosis
03. Baptism Of Fire
04. The Needle
05. Unknown To Virtue
06. Monolith
07. Chlorine Clean Tears
08. Metabolite
02. Heat
03. Got A Light
04. Something Good
05. Alone
06. Flood
07. Walking Flying
08. Loose Ends
09. Hollow
10. Surface
11. Waste
02. Scorched By A Flame So Dark
03. Falling
04. Queen Of Broken Dreams
05. Are You Watching Me
06. Your Highness
07. Love Wasn’t Made For Me
08. One Day
09. Born To Suffer
10. Heavy Beauty
11. Cinderella
12. Unstill Life
02. Crash & Burn
03. Immortal
04. Wonderland
05. Delight
06. Discipline
07. Epiphany
08. Every Now And Then
09. Stars
10. Rise And Fall
02. Langfristig
03. Rattenfänger
04. Dia de los Muertos
05. Totentanz
06. Alltag macht tot
07. Gevatter Tod
08. Hamburg
09. Meine Welt
10. Die Krieger
11. Paul ist tot
02. Mouth Poisons
03. Still From Here Sores
04. Madgalene
05. Ghost And The Storm
06. The Lovely Wounded
07. The Suffering Of Spiders
08. Skinning
09. The Flesh
10. Youth Cults
02. Sonne der Nacht
03. Unsterblich
04. Keine Zeit
05. Kenne mich
06. Fake News
07. Zusammen allein
08. Wehe!
Und dann war es, sofern man sich nicht zur Aftershowparty ins Theater bewegte, auch schon wieder vorbei, das Amphi Festival 2023. Wieder einmal ein wundervolles Wochenende, bei dem man querbeet durch alle Subgenres der Schwarzen Szene Bewährtes abfeiern und Neues entdecken konnte. Das wird kommendes Jahr natürlich erneut so sein, erste Bands für die 2024er-Auflage am 27. und 28. Juli sind bereits bestätigt. Dann dürfen sich bis zu 12.5000 Fans auf Veteranen wie Solar Fake, Kirlian Camera oder Girls Under Glass wie auch auf Amphi-Premieren von Acts wie Minuit Machine oder Auger freuen. Karten und das bislang bekannte Line-up gibt’s hier.
Den Bericht zum ersten Tag des Amphi Festival 2023 findet Ihr übrigens hier! Weitere Fotos zum Sonntag gibt’s hier sowie hier.