Ü60 für den Dancefloor: Im fünften Jahrzehnt liefern Fehlfarben mit ?0?? eines ihrer tanzbarsten Alben ab und klingen so energiegeladen wie vielleicht seit dem legendären Debüt Monarchie und Alltag von 1980 nicht mehr. Drummerin Saskia von Klitzing treibt die Herrenbande gut nach vorne, nur zwei schleppendere Stücke sind auf der nunmehr zwölften Studio-LP enthalten. Wobei: Wenn Peter Hein anfängt zu röhren, wohnt dem immer auch ein wenig Agitation inne. Die perfekten Belege für diese These liefern eben jede beide in Sachen Geschwindigkeit gesetzteren Stücke Stolz ? und Brot ohne Spiele. “Stolz, Stolz, auf was bist du stolz? Stolz, Stolz, geh scheißen mit deinem Stolz!“, presst der Frontmann heraus – man ahnt, wer damit gemeint sein soll. Denn bei allen Fragen, die Fehlfarben auf ihrer neuen Platte formulieren und unbeantwortet lassen – daher auch der Titel ?0?? -, ist nur eines klar: Personen am rechten Rand der Gesellschaft sind und bleiben für Hein & Co. der Feind. “Es gibt so vieles, das darf man nicht sagen, weil sich die Nazis das ausgedacht haben. Dabei haben die sich gar nichts ausgedacht, dafür waren die im Hirn zu schwach. Die haben nachgemacht und perfektioniert, wie die deutsche Seele funktioniert“, heißt es zum Beispiel in der ersten Vorab-Single Kontrollorgan.
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Viele weitere Lyrics lassen hingegen genug Interpretationsspielraum und müssen mehrfach gelesen und verstanden werden, bevor man ein Verständnis für sie entwickelt. Direkt zu Beginn heißt es in In die Welt gestellt: “Mach dich auf den Weg. Den Weg, den keiner sonst geht. Geh ihn nicht allein. Allein kommst du nicht heim. Heim in jene Zeit, die Zeit, die dir noch bleibt. Bleib nicht zu oft stehen, im Stehen wirst du bequem.“
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Das müssen die Hörenden wohl erstmal etwas sacken lassen. Unter die komplex-poetischen Lyrics packt die Band jedenfalls ein eher melancholisches, dennoch wuchtiges Post-Punk-Instrumental, bevor mit Der letzte Traum der erste richtige Hit kommt. Bloc Party wollen ihr Banquet und Helicopter zurück, mögen böse Zungen behaupten. Näher dran an der britischen “Class of 05” mit ihren zappeligen Drums und zackigen Gitarren-Licks waren Fehlfarben jedenfalls nie. Der perfekte Beweis, wie frisch und jugendlich eine mehr als 40 Jahre alte Band klingen kann.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Tanz auf der Straße, wenngleich hier durch die Rhythmik eher Reminiszenzen an Franz Ferdinand aufkommen. “Da war doch mal was, das nannten sie Spaß“, so eröffnet Hein die womöglich von Corona-Frust durchtränkte Revoluzzer-Nummer, die aber – Hallo Paradoxon – gewaltig Spaß macht und gar die Beastie Boys zitiert. Zur Albummitte covert der Wahl-Wiener Hein sich selbst: Innenstadtfront, eine Ode an und über seine alte Heimat Düsseldorf, stammt ursprünglich von Mittagspause, seiner lediglich von 1978 bis 1980 existierenden Band, in der auch der langjährige Fehlfarben-Gitarrist Thomas Schwebel spielte. Das Sextett packt den nur 79 Sekunden dauernden Song in ein modernes, wiederum schnelles, tanzbares Gewand. Das dürfte auf kommenden Live-Konzerten fantastisch funktionieren.
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Ein weiteres Kernstück auf ?0?? ist die zweite Single Europa. “Wir können und wollen nicht neu, bleiben den Altlasten treu“, da spricht in gewissen Maßen der Frust aus Hein, gefolgt von einer klaren Aufforderung im Refrain: “Den Stier bei den Eiern packen wir, retten Sie Europa …sonst stirbt Europa.” Auch da stochern die Drums zügig voran, dazu flächige Keyboardssounds vom Pyrolator Kurt Dahlke und das unverkennbare Saxophon von Frank Fenstermacher – ganz typisch Fehlfarben. Durchaus sehenswert und stellenweise gar zum Schmunzeln anregend ist das auch das von Dahlke höchstpersönlich per Handy-App gefertigte Musikvideo (siehe oben).
Nach einigen weiteren soliden Postpunk-Songs zeigt sich das Sextett, von dem heute nur noch Gitarrist Thomas Schneider in der alten Homebase Düsseldorf lebt, einmal von der experimentellen Seite. 3 Kapitäne ist Disco-House. Ja, richtig gelesen. Nur halt eben mit Saxofon und Lyrics aus der Hein’schen Feder: “Wir nehmen alles auseinander, nichts bleibt, wie es war. Jeder versetzte Berg ist doch immer noch da.” Wieder so eine Textzeile, bei der sich am Ende fragt, wie sie denn nun gemeint sein könnte. Zweifellos bleibt nach dem Hören von ?0?? aber eine Erkenntnis: Fehlfarben haben noch immer etwas zu sagen, klingen angriffslustig und frisch. Wie das live klingt, kann sich jeder bei der bereits vor Albumveröffentlichung beginnenden Tournee anschauen und anhören.
Tracklist FEHLFARBEN -?0??
01. In die Welt gestellt
02. Der letzte Traum
03. Nachhaltig
04. Stolz ?
05. Tanz auf der Straße
06. Innenstadtfront
07. Brot ohne Spiele
08. Europa
09. Kontrollorgan
10. Ich kann es kaum erwarten
11. Das Rennen macht müde
12. 3 Kapitäne
Das Album erscheint am 14. Oktober auf Tapete Records.
Das “Europa”-Zitat lautet korrekt: “Den Stier bei den Eiern packen wir und retten sie – Europa …sonst stirbt euer Opa – E-U-R-opa.”
Sorry für die Besserwisserei, aber bei Hein & Co. muss man schon etwas genauer hinhören, denn sonst hört man womöglich nur, was man eben hören will! Und genau diese Fehldeutbarkeit macht die besondere Qualität der neuen Texte aus.