Wenn das Wetter im Frühsommer von warm auf Regen umspringt, dann heißt das in der Regel, dass das Hurricane in Scheeßel vor der Tür steht. Wie oft ist es schon im Schlamm versunken, sodass nur noch Trecker halfen, um überhaupt wieder von den Camping- und Parkflächen zu kommen. Die eigens geschriebene Hymne “Am sichersten seid ihr im Auto” kommt eben nicht von ungefähr. Dennoch scheint das Hurricane in diesem Jahr unter einem besseren Stern zu stehen. Der Regen hat es diesmal laut den Wetterfröschen nicht in die Running Order geschafft. Dafür wäre auch gar kein Platz, denn nach zwei Jahren Zwangspause lechzen die Fans nach guten Bands. Daher ist das Programm des Hurricane Festivals prall gefüllt mit Bands, die den Fans den Schweiß aus allen Poren treiben sollen. Natürliche waren die Veranstalter auch in der Zwangspause nicht untätig, so wurde auch für Attraktionen außerhalb der Bühnen gesorgt. So erwartet uns ein großes kulinarisches Angebot, einige Mitmachaktionen, ein Karussell und auch ein Riesenrad, um die Wartezeit auf dem leicht vergrößerten Gelände zu überbrücken, falls mal die Lieblingsband gerade nicht spielt.
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Für diejenigen, die es gar nicht mehr abwarten können, geht es bereits am Donnerstag mit einer Warm-up-Party los. Den Anfang machen dabei die Hansemädchen mit ihrer Massenkaraoke, bevor Alex Mofa Gang direkt aufs Ganze gehen. Noch ist das Tausendmal Berührt-Intro nicht mal ganz zu Ende, will Sänger Sascha eine Wall of Death sehen und springt dazu selber mit ins Publikum. “Auf die nächste Stunde, ihr süßen Mäuse“, sagt er uns, als er wieder zurück auf der Bühne ist. Dort springt er wie wild weiter, unter anderem auch vom Schlagzeug. Das Publikum feiert jede Sekunde mit und hilft bei der letzten Aktion besonders mit, als Sascha mehrere Meter an einen Pfeiler des Zelts hochklettert und von diesem die Menge springt. Passend gibt es dazu anschließend den Song Arschbombe. So kann man ein Festival mal mit einem Totalabriss starten – gern mehr davon!
Etwas ruhiger wird es anschließend bei Milliarden. Auf dem Platz tanzen, vor sich hin träumen und lautes Singen steht hier an der Tagesordnung, während sich das Zelt immer weiter füllt. Den Abschluss den Warm-Ups machen Sondaschule und Megaloh, bevor die Fans zum ersten Mal durchgeschwitzt in die Zelte fallen.
Am Freitag startet dann das eigentliche Festival, wie inzwischen etabliert, mit dem Hurricane Swim Team. Zunächst erwartet uns Elton und verkündet: “Lange habt ihr gewartet, nun ist es endlich wieder soweit, das Hurricane!“, sagt er, bevor er die erste Band des Tages ankündigt. Bereits zum Öffnen der Schleusen zum Infield um 15 Uhr sind so schon viele zusammengekommen, um den Hits wie Lass und Scheeßeln gehen und dem Kulthit Am sichersten seit ihr im Auto zu lauschen.
Für viele gings danach auf direktem Weg weiter zur River Stage, auf der Inhaler ihre Songs zum Besten geben. Mitsingen und auf der Stelle wippen steht auch hier an der Tagesordnung. Der Himmel zeigt sich bedeckt, leider entsteht dadurch eine schwüle Hitze, die vieles Bewegen noch etwas ungemütlich macht, während sich der Staub schon in der Luft festsetzt. Hurricane eben.
Auf der Mountain Stage eröffnen Wargasm, während mit The Dead South bereits die zweite Band des Tages auf der Forest Stage mit ihrem tanzbaren Folk zum Tanze bittet. Ohne groß viel Zeit mit Ansagen zu verschwenden, ging es hier einmal quer durch die Schaffensgeschichte.
Währenddessen bereiten sich OK Kid auf der River Stage vor, um direkt ohne Unterbrechung weiter durchs Programm zu führen. Eine große Menge rappt die Texte mit und für die frühe Uhrzeit ist der Platz vor der Bühne auch schon gut gefüllt.
Aber auch im Zelt, am dem vorher noch das Warm-up stattfand, steht Stillstand nicht an der Tagesordnung. Hier rappt Kelvyn Colt zusammen mit dem Publikum seine Texte, während ein Tänzer, welcher etwas an eine Person aus der Serie “Orange is the new Black” erinnert, für viel Abwechslung sorgt.
Zurück auf der Forest Stage hat die dort spielende Band viel Vorfreude. “Hallo, wir sind die Giant Rooks und wir haben 3 Jahre auf diesen Moment gewartet”, sagt uns Sänger Frederik Rabe, mit einem breiten grinsen. “Wenn wir könnten, würden wir über zwei Stunden spielen”, erzählt er weiter, was wir ihm gerne glauben. Aber nicht nur die Band hat Lust zu spielen, auch das Publikum hat Lust mitzumachen. Zusammen wird gesungen, getanzt und schon mal ordentlich Staub aufgewirbelt. Das mit dem Staub sollte sich in der nächsten Zeit auch erstmal nicht mehr ändern.
Die Sängerin LP mag vielen als Künstlerin noch nicht so bekannt gewesen sein – dabei stammen einige Songtexte namhafter Bands aus ihrer Feder. Nun steht sie auf der blauen Bühne des diesjährigen Hurricane Festivals und weiß auch mit ihren eigenen Songs zu bezaubern. Das Pfeifen bei den Songs ist übrigens echt und zusammen mit ihrer unverwechselbaren Stimme ein Markenzeichen.
Markante Stimme? Damit geht es nebenan direkt weiter, als Dermot Kennedy mit seiner Band die Bühne betritt. Ein bunter Mix aus handgemachtem und elektronischem Sound wird hier geboten und tatsächlich mit „Something to Someone” ein komplett neuer Song präsentiert.
Gefühlt gab es bisher mehr Rap und Pop als “Auf-die-Fresse-Musik” – das sollte sich nun ändern, als Millencolin die Bretter der Mountain Stage erklimmen. Dieses Jahr feiern die schwedischen Punkrocker ihr 30-jähriges Bestehen – dennoch sind die Jungs auf keinen Fall zu alt für den Scheiß, denn ihre Show rockt wie eh und je. So bildet sich vor der Bühne ein ordentlicher Pit, der schnell zur Staubfalle des Todes wird. Ein Glück für die, die trotz Aufhebung aller Regularien noch eine Maske tragen – Pech für den jungen Herren in der ersten Reihe, der sich mit Anzug und Krawatte fein rausgeputzt hat. Aber egal – die Krawatte sitzt – weiter im Text. “Did you miss us during the Pandemic, Germany? Because we missed you!” fragt Sänger Nicola und bekommt prompt ein lautstarkes Feedback – und ob wir das vermisst haben! Auch das Staub Thema wird nochmal aufgenommen “Just join the pit – it’s not dangerous – it’s just dust!” ein paar Songs später, als dann der Staub auf der Bühne ankam, sollte er diese Aussage allerdings noch bereuen. Ein Blick auf das weitere Programm dieser Stage ließ vermuten, dass sich zwischendurch Duschen nicht lohnen sollte.
Wer vor dem Staub fliehen wollte, hatte mit Fontaines D. C. die richtige Wahl getroffen. Nicht nur schützt das Zelt der White Coast Stage vor den Gefahren von oben, sondern auch durch den Holzboden vor der nächsten Hustenattacke. Im ersten Song geht es noch verhalten her, besteht dieser nur aus aus Schlagzeug, Bass und der Stimme von Sänger Grian Chatten, dessen dicker irischer Akzent schon hier gut zu hören ist. “Fucking awesome”, “Ist das Geil” – das sind nur zwei Stimmen die aus dem Publikum, die das Konzert wohl gut zusammenfassen. Eine große Show gibt es nicht, lediglich Grian hat ab und an einen kurzen Moment, in dem er etwas wilder über die Bühne läuft und etwas Bewegung auslöst. Auf den Applaus nach den Songs sagt er uns immer wieder “vielen Dank”, weitere große Reden bleiben jedoch aus.
Man könnte die Mountain Stage an diesem Tag mit einem Spielplatz vergleichen. Einem Spielplatz für Metal(-core)-Fans. Nur gibt es keinen Sandkasten, dafür einen Staubkasten. Freiwillig wirft hier zwar keiner den Staub in die Luft, ihre Förmchen für den Staubkuchen haben jedoch alle dabei. Jeder bekommt ein großes Stück ab, ob er will oder nicht. Um es mit den Worten von Sänger Loz Taylor von While She Sleeps zu sagen: “It’s just dust, eat that shit”. Masken helfen an dieser Stelle nur bedingt. Geht eine Weiße Maske in den Pit kommt sie wenige Minuten später wieder braun heraus. Es gab nur eine Möglichkeit, dem Ganzen zu entkommen: die Flucht nach hinten. Aber auch dies bringt Nachteile mit sich. Die Staubtüme des Spielplatzes gehen gut in die Höhe und versperren die Sicht auf die Bühne teilweise vollständig. Dennoch spornt Loz das Publikum immer weiter an, die Pits noch größer zu machen. “How long have we waited for live music to come back so we can do exactly this?”, fragt er uns und möchte kurz danach Crowdsurfer sehen, auch wenn diese eigentlich auf dem Festival verboten sind. Aber auch Loz sollte seine Worte irgendwann bereuen. “I’m literally coughing up dust, respect to you guys down there”, sagt er. Das Thema Staub ist heute eben in aller Munde …
Zu den Bands, die während der Zwangspause äußerst fleißig waren, gehören The Killers mit Fug und Recht, denn diese haben in den letzten zwei Jahren jedes Jahr ein Album auf den Markt gebracht. Auch wenn es nur zwei Songs davon ins Set schafften, war der Platz vor der Forest Stage ziemlich voll und brach in lautstarken Jubel aus, als Brandon Flowers, elegant in schwarz gekleidet mit einer rosa Ansteckblume und seine blau gekleideten Mitstreiter die Bühne betraten und mit Mr. Brightside und Spaceman direkt zwei Knaller auf die Menge losließen. “Hurricane – Was geht ab? Es waren ein paar schwere Tage, Covid brachte viel Stress, viel Isolation”, begrüßte Brandon die Anwesenden und stellte klar, was viele an diesem Wochenende teils mehr, teils weniger erfolgreich ausgeblendet hatten: “This is a Superspreading Event!” Trotz dieser kleinen Erinnerung gab es sowas wie Mindestabstand höchstens an den Seiten der Menge – im hinteren Bereich war teilweise kaum ein Durchkommen möglich, was sich später noch als logistischer Schwachpunkt herausstellen sollte. Brandon entdeckte in der Menge ein Schild, auf dem ein Fan darum bat, bei einem Song den Platz hinter den Drums zu übernehmen. Dieser Wunsch wurde prompt gewährt – und ja, das konnte sich echt sehen lassen. Mit All These Things That I’ve Done endete die Show – Rufe nach einer Zugabe blieben leider unbeantwortet.
Zurück zum Spielplatz – natürlich der Mountain Stage. Mutti hat gekocht, also muss das Spielen passend unterbrochen werden, um keinen Ärger zu bekommen. Etwas so macht es den Eindruck, denn vor der Bühne ist es zu Neck Deep schlagartig leerer. Nach dem energiegeladenen Set von While She Sleeps und den danach anstehenden Electric Callboy ist eine Stärkung jedoch auch nötig. “We are Neck Deep and we are here for your beer and weed”, begrüßt und Sänger Ben Barlow und sollte seine Absichten noch mehrfach wiederholen. Der Pop-Punk der Band ist dabei zwar nicht wesentlich entspannter als der Sound ihrer Vorgänger auf der Bühne, dennoch ist der Staub in der Luft nicht mehr in einem unzumutbaren Zustand.
Auf der River Stage bereitet sich derweil die bekannteste unbekannteste Band der Welt auf ihren Auftritt vor – zumindest behauptet das das riesige Banner vor der Bühne. Als der Vorhang fällt wird erkenntlich, wie könnte es auch anders sein, es handelt sich um SDP, welche mit dem passenden Song DBUBDW – für was dieser Titel die Abkürzung ist, kann man sich an dieser Stelle denken. Mit viel Humor innerhalb und außerhalb der Texte geht es durch den Abend. Schon früh im Set werden riesige Bälle und ein riesiger aufblasbarer Schwan in die Menge geworfen. Letzterer wird dabei schnell gekapert und zum Crowdsurfen wiederverwendet. “Wir sollen euch auf keinen Fall sagen, dass ihr die Bälle nicht behalten dürft, also spielt die in keinem Fall nach hinten und habt Spaß damit” klingt es dabei von der Bühne, sodass einige Bälle wirklich nicht mehr vorne ankommen, sondern irgendwann im Publikum auf dem Boden landen und die Luft verlieren. Bekommt man so einen Riesenball überhaupt an der Security vorbei? Bei der Band steht jedoch Mitsingen weit mit im Vordergrund. Nicht nur bei eigenen Songs, sondern auch beim Cover von Schrei nach Liebe von den Ärzten. Beim späteren Ne Leiche wird sich dann einem schwierigen Thema gewidmet. Wie der Songtext verrät, müssen wir einen Leiche entsorgen. Wie machen wir das am besten, wenn die Polizei einem schon im Nacken hängt? Natürlich wird sie mit einer Wall of Death eingemauert! Wenn mal alle Fragen so leicht zu beantworten wären. Auf den Erfolg gibt es zu Ende des Konzerts nochmal ein großes Feuerwerk, bevor sich SDP verabschieden.
Eigentlich sollte man meinen, dass Electric Callboy mittlerweile auf die Hauptbühne gehören. Die aktuelle Tour war so gut wie überall ausverkauft und durch die – leider vergebliche – Teilnahme am ESC-Vorentscheid sind die Jungs aus Castrop-Rauxel im Mainstream angekommen – zumindest vom Bekanntheitsgrad her, denn ihre Songs sind ja bekanntermaßen nicht radiotauglich (schönen Gruß an den NDR – eure Definition von radiotauglich ist für meine Ohren meistens nicht tauglich). Entsprechend gab es eine wahre Massenwanderung von den anderen beiden Bühnen, diese ließ den Platz vor der Mountain Stage aus allen Nähten platzen. Wer im vorderen Wellenbrecher stand und heute noch kein Stück vom Staubkuchen hatte, tat das spätestens jetzt. Passend dazu kam die Ansage von der Bühne “Lasst und zusammen Spaß haben und dreckig werden!” und auf ging die wilde Fahrt. Eine Runde vorwärts, die nächste Rückwärts – Stillstand gab es hier auf jeden Fall nicht. Wie auch bei der Party-Setlist? Wer bei Songs wie Castrop X Spandau (leider hier ohne Kalle) und Hypa Hypa stillstehen kann, der ist entweder zu nüchtern oder einfach ein Spießer. “Ausrasten Leute! MC Thunder Leute!” ruft Kevin, um mit dem entsprechenden Song und dem abschließenden We Got The Moves das Finale einzuläuten. Wer noch keine Staublunge hatte – allerspätestens jetzt war’s dann soweit. Was ein Finale! Das nächste mal dann bitte auf der Hauptbühne.
Das Gegenstück zur Party – der ruhige Abend auf der heimischen Couch – gab es derweil auf der Forest Stage. Hierbei konnte auch gern auf das von Neck Deep verlangte Weed zurückgegriffen werden, denn hier füllen Seeed die Bühne. Richtig, nicht nur vor der Bühne ist viel los, die Band benötigt mit ihrer Vielzahl an Mitgliedern auch einiges an Platz. Platz für einen großen Aufbau ist nicht vorhanden, braucht es aber auch nicht. Anfangs ist die Stimmung noch verhalten, was sich erst später im Set bei Schwarz zu Blau, dem Solo-Song von Peter Fox, ändern sollte. Das vorher noch zurückhaltende und eher verträumte Publikum wird schlagartig wach und dreht den Party-Schalter auf Anschlag. “Wer ist alles heute mit dem Metronom von Hamburg nach Bremen um 12:30 gefahren?”, fragt Peter Fox und hebt selber die Hand. Es war eine sehr schöne Zugfahrt mit vielen Fans, erzählt er weiter. Und bestimmt auch voll, das ist es auf der Bühne aber auch. Neben den Musiker sind auch immer wieder Tänzer:innen zu sehen, welche für viel Bewegung und Abwechslung sorgen, während der Rest der Band ihr Ding macht.
Wer nach dem Auftritt von Seeed noch nicht genug hatte, konnte auf der River Stage noch DJ Martin Garrix lauschen. Für viele ging der Weg jedoch zurück Richtung Zelt, immerhin stehen noch zwei komplette Festivaltage an und man möchte sich ja auch nicht schon am ersten völlig verausgaben.
Text von Mirco Wenzel & Cynthia Theisinger