Etwas mehr als drei Jahre ist es her, dass Kirlian Camera mit Hologram Moon ein Album auf den Markt brachten, das von Fans wie Kritikern sehr positiv aufgenommen wurde. Songs wie Kryostar, Lost Islands, Haunted River und allen voran das mit Covenant-Frontmann Eskil Simonsson aufgenommene Sky Collapse kombinierten den typischen Dark-Wave-Sound mit poppigen und lieblichen Melodien, spätestens mit dem Stück V2K auf der nachfolgenden Hellfire-EP war man geneigt, der Band aus Parma eine gewisse Nähe zum Future Pop zu unterstellen. Fast so, als ob sie diesen Eindruck mit dem Nachfolger völlig konterkarieren wollen, melden sich Kirlian Camera nun mit dem Doppelalbum Cold Pills (Scarlet Gate Of Toxic Daybreak) zurück.
Die jeweils aus acht Liedern und jeweils etwas mehr als 40 Minuten bestehenden Suiten kommen zum Großteil weitaus sperriger daher als das Material des Vorgängers. Bereits das komplex aufgebaute The Illusory Guest zu Beginn von CD1, respektive Schallplatten-Seite A, weist mit über acht Minuten den Weg. Pulsierende Synthies, gesetzte Drums und die gewohnt starke Stimme von Elena Alice Fossi finden hier zusammen, vom Prädikat “Single-tauglich” ist das genau so weit entfernt wie das als erster Vorbote ausgekoppelte The 8th President zum Ende der ersten Albumhälfte. Einigen Interviews zur Folge wollten Fossi und KC-Gründungsmitglied Angelo Bergamini zunächst den musikalischen Weg von Hologram Moon weitergehen, entschieden sich aber während des Aufnahmeprozesses, diesen Plan zu verwerfen. Mit Erfolg, wie man nun hört.
Auf den balladesken, doch recht eingängigen Titelsong folgt mit I Became Alice dann ein verhältnismäßig rockiges Stück. Riffs von Mia Wallace treffen auf organische klingende Drums, die wütend wirkende Stimme Fossis verschwindet (leider) hinter einer Effektwand. Nichtsdestotrotz könnte Track Nummer drei gerade bei zukünftigen Livekonzerten richtig zünden. So richtig aufhorchen werden die Hörerinnen und Hörer wohl bei Crystal Morn. Denn das ist tatsächlich doch ein Song, der in den Clubs – so diese eines Tages wieder öffnen – die Tanzflächen füllen könnte. Tanzbarer Beat, eingänger Refrain – sicherlich das Lied, das Liebhabern des Vorgängeralbums am besten gefallen wird.
Da ein Album in diesem Stil von der Band wie bereits erwähnt nicht erwünscht war, zieht Cold Pills im Anschluss einen gewaltigen Schlenker. Lobotomines erinnert an frickelige Covenant, das klavier-getragene Instrumental Randomists And Sleepers leitet dann in die “Single”. In der Pressemitteilung steht etwas vom “dunkelsten Album” der mittlerweile mehr als 40-jährigen Bandgeschichte – wer The 8th President hört, mag dieser Behauptung uneingeschränkt Recht geben. Hier tritt Altmeister Bergamini sogar nochmal selbst ans Mikro, auf jüngeren KC-Releases eine Seltenheit. Seine tiefen, gepressten Spoken-Word-Vocals passen hier perfekt in die superdüstere, den Hörer schon fast in ein schwarzes Loch verschluckende Atmosphäre. Definitiv eine Kunst, so etwas zu produzieren, garantiert allerdings nicht jedermanns Geschmack.
Ein bisschen lieblicher klingt Dreamlex, der Opener auf CD 2 – eingängig ist das allerdings genau so wenig wie die folgenden Dusk Religion und LSDay. Ersteres würde sich mit seinen Tribal-Drums womöglich gut auf einem Kriegsfilm-Soundtrack machen, zweiteres kommt als elektronisches Avantgarde-Ambient-Experiment im Stile von klassischen Releases der Plattenfirma Warp Records daher – Aphex Twin würde es womöglich gefallen, ebenso wie das später folgende Blue Drug. Mit Phoenix Aliena, vor einigen Wochen auch als Version mit italienischen Lyrics veröffentlicht, wird es noch einmal etwas luftiger und eingängiger. Und hinten raus glänzt Fossi mit ihrer charismatischen Stimme noch zwei weitere Male auf Apophenia und dem blubbernden Lux Industries (MMXX), einer Neuauflage eines vier Jahre alten Songs des Nebenprojekts Spectra*Paris, bevor Twin Pills den Hörer mit Dream-Pop-esken Klängen am Ende regelrecht einlullt.
Ganz klar: Cold Pills ist keine Platte zum Nebenbeihören. Dieses Album braucht viel Zeit und Aufmerksamkeit. Wer sich diese nimmt, erkennt bei jedem weiteren Durchgang neue, vielschichtige Sounds inmitten einer atmosphärischen und jederzeit sauberen Produktion. Die Italiener distanzieren sich klar von alten Hits wie Eclipse, K-Pax, Nightglory oder Sky Collapse und präsentieren sich hier ganz und gar unkommerziell und superdüster. Ein großartiges Album für nächtliche Autobahnfahrten oder für ruhige Momente in den heimischen vier Wänden – dann aber am besten gleich mit aufgesetzten Kopfhörern.
Wie Kirlian Camera die Songs ihren neuen Werks auf die Bühne bringen wollen, bleibt abzuwarten. Unbedingt live-tauglich klingt das Gros dieses Doppelalbums nicht. Eine erste Kostprobe für die deutschen Fans gibt’s Ende August im Gelsenkirchener Circus Probst, im Rahmen der Reihe “Konzertsommer im Revier”. Mehr dazu hier.
Tracklist KIRLIAN CAMERA – Cold Pills (Scarlet Gate Of Toxic Daybreak)
CD1:
01. The Illusory Guest
02. Cold Pills
03. I Became Alice
04. Not True
05. Crystal Morn
06. Lobotomine
07. Randonists And Sleepers
08. The 8th President
CD2:
01. Dreamlex
02. Dusk Religion
03. LSDay
04. Phoenix Aliena
05. Apophenia
06. Blue Drug
07. Lux Industries (MMXX)
08. Twin Pills
Einen Konzertbericht zur vergangenen Tour von Kirlian Camera findet Ihr hier.
Weblinks KIRLIAN CAMERA
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