Manches im Leben braucht halt seine Zeit. Das gilt für Bryan „Dexter“ Holland aktuell in doppelter Ausprägung. Der Sänger der Punkrock-Urgesteine The Offspring ging nach über 30 Jahren zurück an die Universität und ist nun stolzer Besitzer eines Doktors in Molekularbiologie. Der 55-Jährige beschäftigte sich für seine Doktorarbeit mit HI-Viren. Zuletzt wurde es – der Promotion des Frontmanns geschuldet – sehr ruhig um die Band, die insbesondere durch ihre Millionenseller-Alben Smash und Americana berühmt wurde. Nun kam Let The Bad Times Roll, der Nachfolger zum 2012 erschienenen Days Go By, am 16.4. aber endlich auf den Markt.
Fans bekommen auf dem zehnten Studioalbum in etwas mehr als einer halben Stunde vor allem die bekannte Mischung aus brachialem Hochgeschwindigkeits-Punkrock und eher poppigen Songs mit Radiotauglichkeit geboten. In die zweite Kategorie gehört dabei das schwungvolle Titelstück, das einen ernsten Hintergrund hat. „Ich habe das Gefühl, dass wir an einem Punkt sind, an dem die führenden Politiker der großen Nationen nicht mehr sagen ,Wir tun unser Bestes’, sondern eher ,Scheiß doch drauf’ – und das ist ganz schön unheimlich“, sagt Holland. Der Song klingt dabei weitaus freundlicher und fröhlicher, als es seine bloßen Lyrics vermuten lassen – der Genre-typische “Ohohohoh”-Chor wird auf kommenden Konzerten – wann auch immer diese stattfinden mögen – sicher lautstark mitgesungen.
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Weniger locker, dafür umso energetischer schießt zuvor This Is Not Utopia aus den Boxen. Ein weiteres mitreißendes Stück, das mit etwas akademischerem Vokabular auch von Bad Religion hätte geschrieben werden können. Den Rest von Hälfte eins bilden weitere urtypische Offspring-Songs zwischen mittlerem und etwas höherem Tempo, klanglich am ehesten mit der Conspiracy Of One-Ärä zu vergleichen. Dabei hat es auch das bereits vor mehr als sechs Jahren als Einzelsingle veröffentlichte Coming For You auf die Platte geschafft.
Aufhorchen lässt dann „We Never Have Sex Anymore“ mit Brass-Bläsern (!) und einem sehr ironischen Text – ein schwungvoller, stilistischer Ausreißer, den es so in der Offspring-Vergangenheit schon öfter gab (man erinnere sich nur an das Prog-Rock-Experiment Pay The Man auf Americana oder das Ska-beeinflusste The Worst Hangover Ever auf Splinter). Im Anschluss danach dürften sich einige Fans dann die Ohren reiben – bei dem nur rund 60-sekündigen Interlude In The Hall Of The Mountain King handelt es sich tatsächlich um eine Punkrock-Interpretation des gleichnamigen Stückes von Komponist Edvard Grieg aus dessen Schauspielmusik „Peer Gynt“. Drums, Bass, hohes Tempo und großartige, die Melodie spielenden Gitarrensoli – eine wirklich charmante Idee für ein Zwischenstück, gekonnt umgesetzt.
Und die Geschwindigkeit bleibt zunächst hoch, das Doppel aus The Opioid Diaries (hier geht es um Drogenmissbrauch) und allen voran Hassan Chop (laut Interviewaussage von Holland eine Metapher für die Taten islamistischer Terroristen) prescht ordentlich nach vorne und müsste Fans des Smash-Albums gefallen. Das genaue Gegenteil folgt im Anschluss: Die 1997er-Single Gone Away spielen The Offspring live schon seit einigen Jahren nur noch als Piano-Ballade, nun gibt es diese Version auch auf Platte. Absolute Geschmackssache ist das, nicht nur, weil Hollands Stimme hier und da doch deutlich nachbearbeitet wurde. An die Emotionalität des Stücks, im Original eine kraftvolle Rockballade, reicht die Neufassung nicht heran. Das abschließende Lullaby kann getrost ignoriert werden, handelt es sich doch nur um eine kurze, verwaschen klingende Reprise des Titelsongs.
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Alles in allem liefern die Kalifornier hier ein solides Alterswerk ab, die erste Platte ohne das 2018 im Streit geschiedene Gründungsmitglied Greg Kriesel lässt sich unter der Kategorie “Fan-Service” einordnen. Es gibt kraftvolle, eingängige Rock- und Pop-Punk-Songs alter Schule in Hälfte eins, einige mal mehr, mal weniger gelungene Experimente in Hälfte zwei. Womöglich hätte sich manch ein Fan nach neun Jahren Pause ein wenig mehr gewünscht als nur zehn vollwertige Songs, von denen zwei (Coming For You und das Original von Gone Away) schon lange bekannt sind. Aber klar ist: Geht es irgendwann endlich mit richtigen Konzerten los, werden auch einige der Stücke auf Let The Bad Times Roll für ordentlich Stimmung vor der Bühne sorgen.
Tracklist THE OFFSPRING – Let The Bad Times Roll
01. This Is Not Utopia
02. Let The Bad Times Roll
03. Behind Your Walls
04. Army Of One
05. Breaking These Bones
06. Coming For You
07. We Never Have Sex Anymore
08. In The Hall Of The Mountain King
09. The Opioid Diaries
10. Hassan Chop
11. Gone Away Requiem
12. Lullaby
Weblinks THE OFFSPRING
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