Was soll man zu einer neuen Depeche Mode-Veröffentlichung schon sagen, gerade wenn man sich selber als Die-Hard-Fan bezeichnet? Eine schwere Entscheidung, wie man die neue jetzt erschienene Blu-Ray/DVD/CD Spirits In The Forest / Live Spirits-Soundtrack irgendwie objektiv beurteilen möchte.
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30 Jahre, einen Monat und sieben Tage nach dem legendären Music For The Masses-Finalkonzert im kalifornischen Pasadena, welches mit 101 als eines der besten Livealben überhaupt verewigt wurde, spielen Depeche Mode am 25. Juli 2018 auf der Berliner Waldbühne das Tourfinale ihrer Global-Spirit-Tour. Als Erstes muss man seinen imaginären Hut davor ziehen, was in den vergangenen 30 Jahren mit dieser Band passiert ist, und welche Höhen und besonders Tiefen sie erlebt hat. Dass diese Band nun immer noch auf der Bühne steht, ist schon bemerkenswert. Und sie werden immer noch oder vielleicht sogar noch mehr verehrt, als damals zum Ende der goldenen 80er Jahre.
Als im November des letzten Jahres der Corbijn-Film Spirits In The Forest in über 3000 Kinos weltweit gezeigt wurde, sind die Massen in die Säle gepilgert, weil sie sich irgendwie eine Fortsetzung des legendären 101-Films erhofft hatten. Aber Anton Corbijn hatte mit dem Film das Pferd von hinten aufgezäumt und ausgesuchte Fans zu Wort kommen lassen. Die Band ist nur in Live-Sequenzen zu sehen gewesen und hat sich über den gesamten Film nicht zu Wort gemeldet. Das alleine zeigt, welchen Outstanding-Status Anton Corbijn bei Depeche Mode hat und welche Experimente die Band selbst in ihrem Namen zulässt. So war Spirits In The Forest mal wieder nicht bei der gesamten Fan-Gemeinde gut angekommen, da viele mit falschen Erwartungen in die Kinos gegangen sind.
Überraschungen sind fehl am Platz, Depeche Mode gehen auf Nummer Sicher.
Jetzt werden die Gemüter besänftigt und das komplette Finalkonzert wird hinterher geschoben. Und auch hier bleiben so einige Wünsche unerfüllt bzw. waren die Erwartungen zu weit nach oben geschraubt. Depeche Mode haben bei der Setlist des Finalkonzerts mit einem Best-Of Programm auf Nummer sicher gesetzt, welches leider mit nur leichten Veränderungen seit bald zwanzig Jahren runtergespielt wird. Überraschungen sind eher fehl am Platz, aber trotzdem gehen die Massen mit und nach so einem Konzert mit einem glücklichen Grinsen nach Hause.
Die rote und die blaue Weste
Anton Corbijn hat es mit Live Spirits sehr gut geschafft, das Gefühl, die Atmosphäre und die Stimmung auf der Berliner Waldbühne einzufangen. Was man bei seinem Film, bei so einigen Tracks merkt: Das Konzert wurde an zwei Abenden aufgenommen. Nämlich am 23. Juli und am 25. Juli 2018. Während alle Musiker an beiden Abenden auf der Waldbühne die identische Bühnengarderobe trugen, hielt Dave Gahan sich nicht an den Dress-Code und trug am ersten Abend eine schwarze Hose mit rotem Streifen und roter Weste und am zweiten Abend eine schwarze Hose mit blauer Weste. Corbijn hat sich beim Schnitt des Konzertes nicht daran gehalten, zumindest die Aufnahmen von Gahan Song-weise zu sortieren, sondern springt im Schnitt immer wieder zwischen beiden Kleidungsstilen des Sängers hin und her. Stellenweise sogar im Sekundentakt. Ich glaube nicht, dass Corbijn dabei nicht auf die Farbe geachtet hat. Vielmehr gewinnt bei mir der Gedanke immer mehr Oberhand, dass es gewollte Absicht ist. Wenn man genau hinschaut, sind Gahans Bewegungen bis ins kleinste Detail durchgetaktet, so dass es nur anhand der Westenfarbe auffällt, dass es sich um verschiedene Aufnahmen handelt. Steckt da mal wieder eine Aussage hinter der Arbeit, welche Corbijn hier abliefert? Wer weiß, der Meister selbst hat sich bisher diesbezüglich nicht zu Wort gemeldet.
Dave Gahan: Die Tanzmaus ist einem Rockmonster gewichen
Aber schauen wir uns doch mal das Konzert an sich an. Dave Gahan mutiert zu einem Rock-Gespenst, das auf der Bühne leidet, feiert, singt und tanzt. Seine Mimik ist bei einigen Stücken weit entrückt und in Nahaufnahme für mich nicht mehr schön anzusehen. Er spielt seine Rolle auf der Bühne bis ins kleinste Detail. Während er früher kaum mehr als Pirouetten, Arschwackeln und in den Schritt fassen als Untermalung der Songs aufbringen konnte, begleitet er Gores Songtexte mit ausschweifenden Gesten und einer fast schon leidenden Mimik. Sein beinahe schon schauspielerisches Talent spielt er am besten wahrscheinlich bei Poison Heart aus. Wir werden wohl nie erfahren, mit wem Gahan in dem von ihm verfassten Text abrechnet, aber derjenige hat es sich mit ihm wohl gewaltig verspielt. Leider wird dieses Bild durch seine Posen unterstrichen, welche teilweise nichts mehr auf einer Rockbühne zu suchen haben. Und diese haben mich schon etwas gestört. Er verbiegt sich in einer Art, dass mir nicht nur der Rücken, die Hüften und Schultern vom Hinschauen schmerzen. Die Tanzmaus von früher ist einem Rockmonster gewichen, das spielend die Masse in der Waldbühne um den kleinen lackierten Finger wickelt.
Und Martin Gore? Der stolpert weiter durch die Szene. Und auch mit fast sechzig Jahren ist er immer noch der schüchterne Junge aus Essex, der irgendwie die Aufgabe bekommen hat, Rocker zu sein. Immer etwas entrückt steht er da, und je älter er wird, desto weniger kann ich ihn für mich greifen. Springt er mit Gahan vorm Schlagzeug von Christian Eigner rum, wirkt auch das irgendwie tapsig. Dass gerade er es ist, der das Schiff am Laufen hält, mag man kaum glauben. Mit dem wunderschönen The Things You Said, Insight und I Want You Now präsentiert er auf dieser Konzertaufnahme endlich mal nicht den ewigen Klassiker Home, was für mich an dem Abend in Berlin eine wunderbare Abwechslung war. Aber auch an Gore nagt der Zahn der Zeit. Natürlich, Corbijn wollte hier nichts schön zeichnen, aber die Defizite Gores als Sänger sind mir selten so bewusst geworden, wie bei seinem Backgroundgesang von Stripped und bei Everything Counts, als er teilweise weit aus dem Takt gesungen hat. Während mittels moderner Studiotechnik alles sauber gebügelt werden kann, ist es hier schon fast zu auffällig, dass Gore hier verkackt hat.
Live-Feeling ist garantiert!
Trotz allem lässt man sich im Endeffekt von dieser Konzertaufnahme doch irgendwie anstecken. Die Gänsehaut, die ich beim Finale von Everything Counts verspüre, ist nahezu identisch wie in dieser Nacht in Berlin und ja, auch wenn es die Fans angeblich nicht mehr hören können, Just Can’t Get Enough ist der würdigste Abschluss, den so ein Konzert, so eine Tour nur haben konnte.
Also doch alles gut? Der 5.1-Mix der Blu-Ray ist für Depeche Mode-Verhältnisse erstaunlich gut gelungen. Erstmals schafft es die Band, dass die Drums und gerade auch Becken und High-Hats von Christian Eigner nicht alles zerdeppern, was Gordeno und Gore musikalisch aufbauen. Stellenweise wirkt das Publikum zwar etwas zu laut gemischt (z.B. It’s No Good, Stripped), was allerdings im Wohnzimmer keinen Schaden anrichtet. Die Live Spirits-Soundtracks, die beiliegende Doppel-DVD allerdings, scheint vom Stereo-Mix nicht so gut gelungen. Das Publikum wirkt hier definitiv zu laut, so dass der Sound etwas darunter leidet.
Ein Gesamtpaket ohne Überraschungen
Wirklich schade bei diesem Rundum-Sorglos-Paket ist dann doch wieder die Songauswahl. Die Live Spirits-Soundtracks sowie der Konzertfilm geben 1:1 die Setlist des finalen Konzerts wieder. Dass es im Vergleich zum ersten Abend in Berlin aber ganze zehn Änderungen in der Setlist gegeben hat, hätte gerade hier genügend Spielraum für Bonustracks geboten. Wrong, Corrupt und auch So much Love wären nur wenige Besonderheiten, die es verdient hätten, hier noch einmal aufgeführt zu werden. Das Cover Artwork wirkt einfallslos wie eine Kopie des letzten Studioalbums und erscheint wieder einmal nur in CD-Covergröße. Auch recht sparsam. Hier muss ich dann mal einen Verweis auf das verdammt tolle Cover-Artwork und das Gesamtpaket der letzten Liver-Veröffentlichung von The Cure loswerden. Wenn Depeche Mode der Corbijn-Film und der Tourabschluss in Berlin wirklich so wichtig gewesen wäre, hätten sie hier das Fan-Herz zumindest mit einer Limited-Edition höher schlagen lassen können.
Depeche Mode unterstreichen ihr besonderes Verhältnis zu Berlin mit der zweiten Live-Veröffentlichung in Folge (Live In Berlin 2014). Würden sie nach diesem Konzert abtreten, wäre es ein würdiger Abschluss ihrer Karriere geworden. Jetzt feiern sie mit Live Spirits das vierzigste Bandjahr und irgendwie wäre es doch auch wieder schade, würde man solche Aufnahmen von ihnen nicht mehr zu sehen bekommen. Sollte es aber doch so sein, dass dies das letzte Live-Dokument ist, kann ich für mich immer wieder sagen: Ich war dabei! Und das wird mir keiner nehmen können.
Spirits In The Forest und Live Spirits-Soundtrack sind am 26. Juni bei Columbia erschienen.
Trackliste: DEPECHE MODE – Live Spirits – Soundtrack:
Disc 1
01. Intro
02. Going Backwards
03. It’s No Good
04. A Pain That I’m Used To
05. Useless
06. Precious
07. World In My Eyes
08. Cover Me
09. The Things You Said
10. Insight
11. Poison Heart
Disc 2
01. Where’s the Revolution
02. Everything Counts
03. Stripped
04. Enjoy the Silence
05. Never Let Me Down Again
06. I Want You Now
07. Heroes
08. Walking In My Shoes
09. Personal Jesus
10. Just Can’t Get Enough
Weblinks DEPECHE MODE:
Web: www.depechemode.com
Facebook: www.facebook.com/depechemode
Youtube: www.youtube.com/depechemode
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