Der zweite Tag auf dem Autumn Moon Festival: Es ist deutlich besseres Wetter. Das merkt man, denn es sind deutlich mehr Festival-Besucher zwischen den Veranstaltungsstätten auf dem Mystic Moon Market und der pitoresken Weserpromenade unterwegs, die sich mit den regulären Besuchern des Städtchen vermischen. Die Stimmung ist heiter gelöst und flirrt vor Erwartung. Überall brutzeln Fleischspieße. Ein orientalisch geschmückter Stand bietet Naschwerk aus aller Herren Länder an. Es gibt heimelige offene Feuerpfannen und die Metstände haben auch schon geöffnet.
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Rattenfängerhalle
DARK SIDE EONS (PL)
Wer beim Autumn Moon den sonntäglichen Band Contest für sich entscheiden kann, erhält einen Slot auf der Bühne der Rattenfängerhalle im folgenden Jahr. Warum ich das ausgerechnet an dieser Stelle schreibe? Ja, wärt Ihr im letzten Jahr am Sonntag bis zum Schluss da geblieben, wüsstet Ihr warum. Etwas wackelig sieht es auf der Hauptbühne zu so frühen Stunde zwar schon noch aus, aber der Dark-Wave/Industrial-Elektro, den Dark Side Eons mit schneidenden Gitarren garnieren, ist solide. Well done von dem sympathischen Duo, die mit Ressonanz im März auch ein neues Album vorgelegt haben. Ein guter Auftakt in den zweiten Festivaltag.
NACHTMAHR (AUT)
Wir bleiben elektronisch, wenn auch eine Spur zackiger und das Publikum nimmt Haltung an, als Supreme Commander Thomas Rainer mit seiner Garde auf die Bühne marschiert. Ausdruckslose Mienen, straff gebundene Zöpfe und auf die Haut genähte Fantasie-Uniformen irgendwo zwischen Schulmädchen und Leni Riefenstahl bei den Damen. Flecktarn und schneidiger Fassonschnitt bei den Herren. Die beiden links und rechts flankierten Trommeln sind lediglich Staffage (oder äußerst schlecht abgemischt). Es wird marschiert, Gehorsam gelobt und hektisch gestikuliert. Der Hintergrund ist so vordergründig, dass mir das Spiel mit dem Zweischneidigem nicht einmal kalkuliert erscheint und noch nicht einmal als Spiel. Trotzdem scheint sich das Konzept selbst nach zwölf Jahren nicht totzulaufen. Das Publikum ist hingerissen und die Begeisterung auch nach 60 Minuten ungebrochen.
DAS ICH (D)
Die Pioniere der Neuen Deutschen Todeskunst – wem ich die noch vorstellen muss, ist definitiv auf der falschen Veranstaltung – sind nicht nur Legenden der Szene, feierten in diesem Jahr 30. Geburtstag, sondern zeichneten sich auch, man muss es einfach so sagen, für die beste Live-Performance an diesem Festival-Wochenende verantwortlich. Die Energie ist ungebrochen, ebenso wie die Faszination, die uns immer noch verstört und mitreißt. Die derbe finstere Todes-Poesie im harschen elektronischen Gewand zündet vor dem perfekt choreografierten Ballett auf dem schmalen Drahtseil zwischen Teufelsanbetung und Irrsinn. Es scheint kein Tag vergangen. Das Ich arbeiten nach eigenen Angaben aktuell an einem neuen Studio-Album. Wir freuen uns wie blöde!
GOETHES ERBEN (D)
Und weil wir grad bei Legenden sind: Die reichen sich grad sprichwörtlich das Mikro weiter. Mehr noch als bei ihren Kollegen von Das Ich ist bei Goethes Erben die DNA der Neuen Deutschen Todeskunst in ihrem Schaffen spürbar. Ich hatte Oswald Henke in diesem Jahr bereits im Rahmen eines seiner Kammerkonzerte im Schauspielhaus auf dem WGT in Leipzig gesehen. Ganz anders gestaltet sich der Auftritt der Erben in der Rattenfängerhalle an diesem Abend, die die Band erscheint im klassischen Line-Up und Oswald trägt Lederjacke statt formellen Anzug. Es gibt das poetische Musiktheater in seiner rockigen Version, etwas weniger überzeichnet, mit dem Drive der E-Gitarren, der etwas Einigung innerhalb zwischen den Leuten im Publikum schafft, etwas von der verstörenden Affektiertheit des Vortrags nimm und die Gewalt der Bildsprache schleift.
HEILUNG (DK, D)
Dass ich persönlich mit dem musikalischen Schaffen des deutsch-dänischen Pagan-Folk-Projektes Heilung so meine Problemchen habe, dürfte aufmerksamen Lesern dieser Seite bereits aufgefallen sein. Stets habe ich dabei jedoch auf die Live-Qualitäten der Band hingewiesen. Stets geschah dies jedoch lediglich aufgrund der Vorschusslorbeeren Dritter. Entsprechend gespannt war ich vor dem Auftritt, Moment ich korrigiere, vor dem selbst ernannten “Ritual” der heidnischen Propheten. In zahlreichen Interviews wird ja von der Band selbst eingeräumt, dass ein “Ritual”, wie es von Heilung intendiert ist, im Rahmen des straffen Zeitrahmens eines Festivals nicht umsetzbar ist. Nun, und das eröffnet die Passage einer Reihe von Fragen und meiner Probleme mit dieser Gruppierung und ihrem Anspruch an (spirituelle) Authentizität. Warum tut man es dann? Warum nimmt man beispielsweise in Kauf, dass nicht wenige Leute im Publikum Sprüche reißen und ob des Schauspiels vor Lachen nicht mehr an sich halten können? Eignet sich eine Mehrzweckhalle für die “Vereinigung mit den Ahnen und der Natur” (was immer das sein soll). Wie bringt man klappernde Knochen auf der Bühne mit dem Klappern der Eiswürfel im Wodka Redbull vor der Bühne zusammen? Schafft man Einkehr, wenn da welche aus voller Kehle unentwegt “Odin” brüllen? Keine Ahnung. Ich muss das nicht beantworten. Ich dachte nur: Wow , das ist also Amplified History: Ein Mummenschanz, bei dem die Nacktheit des Kaisers augenfällig wird. Spirituelle Erfahrungen habe ich dann zum Glück noch später sammeln dürfen und das sogar zweimal.
PROJECT PITCHFORK (D)
90 Minuten Set-Zeit: Das bedeutet dann wohl Projekt Pitchfork sind die Headliner des Samstags auf der Hauptbühne. Es ist mittlerweile 22:30 Uhr, hintere Teil der Bühne ist mit zwei riesigen Lichtpaneelen ausgestattet und die Rattenfängerhalle bis zum Anschlag gefüllt. Die Band betritt die Bühne für einen “Nach-mir-die-Sintflut-Auftritt”. Neben den drei regulären Mitgliedern reisen Pitchfork live mit drei (!) Schlagzeugern und einem Gitarristen. Heute sind es nur (?) zwei Miet-Schlagzeuger, ziemlich große, teuer aussehende Instrumente. Da spielt die Optik wohl die entscheidende Rolle. Denn wir werden sehen, dass die Drums, dank des von ihnen draufgespielten dicken Rhythmusteppichs, lediglich dazu beitragen, die einzelnen Songs ihres Wiedererkennungswertes zu berauben. Hilft aber ungemein beim Mitklatschen, was ausgiebig bis zur Mitte der Halle getan wird. Gefühlt wird alles gespielt, was jemals auf der Diskographie Applaus bekommen hat. Timekiller, Rain, Existence (das dann aber im, nennen wir es den “Ewigen-Zugaben-Block”) etc. pp. Zwischendurch wird dann auch noch ein Geburtstagsliederwunsch aus dem Publikum erfüllt. Der stand gar nicht auf der Setlist und der wird auch gleich einmal bepatzt. Das kann angesichts einer meterlangen Diskographie, wie sie in 30 Jahren zusammenkommt, ja schon mal passieren. Einiges kann passieren, wenn man 30 Jahre erfolgreich dabei ist. Man kann sogar das Gefühl für die Zeit verlieren. Und so wurde ein für mein Geschmack innerhalb eines Festivals platziertes überlanges, privilegiertes Set noch weiter gedehnt, weil sich die Herren entschlossen, es deutlich zu überziehen. Sehr unkollegial gegenüber der Band, die zu sehr später Stunde vor Festival-Gästen, die bereits zwei anstrengende Tage hinter sich hatten, auftreten sollten.
ALCEST (F)
Kommen wir nun also zum aus meiner Sicht musikalisch stärksten Act das gesamten Festivals, der jedoch, und man kann das an dieser Stelle kaum entschuldigen leider auf den undankbarsten Slot platziert wurde. In Erwartung des sechsten Studioalbum Spiritual Instinct, das in der Woche darauf erscheinen sollte und den großartigen Auftritt vom Prophecy Fest vom Monat vorher noch im Gedächtnis, hatte ich mich ganz besonders auf die vier Männer aus Frankreich gefreut. Die kommen sehr spät und entschuldigen sich sogar für ihren späten Start, obwohl sie aber so rein gar nichts dafür können. Es ist bereits deutlich nach 1:00 Uhr und ich gebe zu: Bei jeder anderen Band wäre ich wahrscheinlich jetzt schon nicht mehr hier gewesen. Dann hätte ich wahrscheinlich eine der ersten Live-Performances von Protection verpasst, mit der das Set heute eröffnet wird. Das wäre schon sehr bitter gewesen. Man kann es auf den Punkt bringen: Die, die jetzt noch da sind, sind tatsächlich explizit wegen Alcest da. Und die sind selbstverständlich hingerissen, denn viel anderes bleibt einem auch nicht übrig. Viele andere werden durch die ungelenke Planung um die Chance gebracht, eine der innovativsten und interessanten Bands im Spannungsfeld des Post-Black Metals bzw. des gesamten Metal-Genres kennen zu lernen. Und das ist sehr bedauerlich. Bei Percées De Lumière beginnt ein Mädchen, das ihren Kopf mit den eingedrehten Hörnern eines Satyrs geschmückt hat und direkt neben mir steht steht, zu weinen. Là Où Naissent Les Couleurs Nouvelles und Délivrance lassen die triste Mehrzweckmäßigkeit der Mehrzweckhalle und schmerzende Füße für einige Zeit hinter uns.
Sumpfblume
CELLAR DARLING (CH)
Unser Tag beginnt recht früh auf der Kunst-Stage und ich werde mich abgesehen von jetzt nur noch einmal über die Running Order auf diesem Festival beschweren (sehr viel später an diesem Tag). Cellar Darling müssen einfach gehört werden, aber auf diesem Slot werden sie es einfach nicht. Denn wirklich viele Menschen sind noch nicht da. Mich hatten die Schweizer mit ihrem zweiten Album The Spell, das im Mai erschienen ist, wirklich verzaubert. Das ist nicht einfach nur femal-fronted Metal mit Folk-Einschlag. Was Cellar Darling mit dem Zweitling nach nur dreijährigem Bestehen vorgelegt haben, ist auf eine Art vielschichtiger, dass es sich abhebt. Das Trio erzählt Märchen über Tod, Vergänglichkeit, Liebe und Helden auf die erwachsene Art und Weise, die uns an unsere Kindheit erinnert. Alles ist auf Zuhören ausgerichtet. Entsprechend zurückgenommen ist die Bühnenshow. Keiner will hier wirklich im Mittelpunkt stehen, man überschlägt sich förmlich damit, sich gegenseitig den Vortritt zu lassen. Ein Instrument, wie die Drehleier ist eben ein Instrument und kein Bühnenrequisit. Anna Murphy spielt sie, wie sie die Flöte spielt und wie sie singt, auf äußerste konzentriert und voller Hingabe. So entfalten die Songs von Cellar Darling ihr Leben. Und das trotz der sträflich kurzen Stage-Time.
GIRLS UNDER GLASS (D)
Die hatten auch nicht mehr Zeit bekommen als die Schweizer progressive Folk-Metaller. Die Dark Wave Institution, die seit 2016 in neuen Besetzungen und seit 2018 auch wieder mit neuem Material unterwegs ist, zieht sehr viel Publikum. Es kommt recht früh an diesem Nachmittag zum ersten Mal zum Einlass-Stopp in der Sumpfblume. Neben ein paar Klassikern gibt es mit Dream Yourself Away eine Song-Premiere auf der Setlist und mit Body Electric ein Cover mit Nostalgie-Faktor (The Sisters Of Mercy). Eine solide Show mit einer Prise avantgardistischer 80er Jahre Exaltiertheit, die angenehm aus der Zeit gefallen zu sein scheint: Nicht nur etwas für Leute, die noch wissen, wie, wo und vor allem mit wem die Szene damals startete. Wäre eigentlich mal wieder Zeit für einen neuen Langdreher, oder?
IRFAN (BUL)
Für den bestimmt leisesten Auftritt sorgen auf dem fünften Autumn Moon in diesem Jahr die bulgarische Band Irfan. Fließende, spirituelle, ätherische Klänge irgendwo zwischen Orient und Okzident getragen vom mystischen Zauber einer Stimme, die Zerbrechlichkeit, Tiefe und Kraft in sich vereint, zeichnen die bulgarischen Dead Can Dance aus. Sie sind nicht nur an diesem Nachmittag ein willkommener Kontrapunkt, ein Anker für die Introspektion. Irfan sind innere Einkehr und eine Erweiterung des Geistes, generell und überall. Aber zunächst haben die Künstler das Problem, dass sie sehr spät mit dem Sound-Check dran sind und bis zum Beginn ihrer Show nicht ausreichend ihre Instrumente und Stimmen einspielen können. Einige Songs auf der Setlist sind bereits rot durchgestrichen. Dann müssen sie zu allem Überfluss direkt auf der Bühne bleiben, um nahtlos zu beginnen. Also Anspannung pur, möchte man meinen. Aber mit Start des Konzerts ist davon nichts mehr zu spüren. Die Töne aus den (allesamt akustischen) landestypischen Instrumenten sitzen. Die Künstler performen völlig losgelöst, absolut verinnerlicht, zum Teil mit geschlossenen Augen. Wie ein Ausatmen fällt die Anspannung vom Publikum ab. Ein ruhiges verträumtes Wiegen wogt sanft durch die lockeren Reihen. Allzu bekannt scheint die Band dem Festival-Publikum noch nicht zu sein. Zwischendurch brandet begeisterter Applaus auf. Dankeschön!
Moonstage
Die Rattenfängerhalle im Kleinen und als Zelt, so in etwa muss man sich die Moonstage vorstellen, die erst seit einem Jahr Bestandteil der Veranstaltungsstätten des Autumn Moon ist. Die Moonstage ist auch Arena für den morgen stattfindenden Band-Contest, bei dem sich die Teilnehmenden um einen Slot in der Rattenfängerhalle bewerben können. Die Gewinner vom letzten Jahr Dark Side Eons hatten wir uns ja bereits heute Mittag angeschaut. Obwohl die Moonstage direkt neben der Rattenfängerhalle aufgebaut wurde, führte uns unser Weg an den ersten beiden Tagen eher gar nicht dorthin. Bei einem derartig straffen Programm müssen Entscheidungen getroffen und Abstriche gemacht werden. Am Rande haben wir jedoch mitbekommen, wie die Stage mehr als einmal wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Und so war es auch bei dieser Band, die wir uns dann doch nicht entgehen lassen durften.
RROYCE (D)
Denn Rroyce haben in den letzten sechs Jahren seit ihrem Bestehen definitiv abgeliefert. Nachdem die Synth-Elektropop Band zahlreiche Bandcontests für sich entscheiden konnte und auch ihr Debüt Dreams & Doubts & Fears sowie dessen Nachfolger Karoshi bei sämtlichen Szene-Club DJs heiß lief, sind sie nun mit ihrer neuen Scheibe Patience unterwegs. Dabei stellen Rroyce unter Beweis: die 80er ziehen immer noch, die Begeisterung alles im Spannungsfeld von tanzbarem Elektro gepaart mit nüchtern-melancholischem Gesang ist ungebrochen. Davon können wir uns auch heute wieder überzeugen, denn das Zelt ist bis auf den letzten Mann besetzt. Wir haben Glück noch reingekommen zu sein. Die Leute feiern, die Jungs reißen mit und dann passiert etwas Seltsames: Der Boden vibriert! Nicht etwa von den Beats, nein vom Stampfen der Füße im Publikum. So elektrisiert haben wir gefeiert in Hameln!