Das 28. Wave-Gotik-Treffen in Leipzig ist Geschichte. Und hier findet ihr einige Highlights mit Live-Photos und Berichten.
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Wir haben für euch den Bericht wieder nach Locations und dann nach Uhrzeit sortiert.
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Clara-Zetkin-Park
14:00 Uhr Viktorianisches Picknick
Kein Wave Gotik Treffen geht so richtig los, ohne dass man sich stilecht mit ein paar Petit Four, angetan mit schwerem Brokat auf der großen Wiese mitten im Clara Zetkin Park vor dem Musikpavillon niedergelassen hat. Und obwohl das Viktorianische Picknick immer noch kein offizieller Programmpunkt des Treffens ist, erfreut sich das kreativ-eitle Schlemmen konstanter Beliebtheit. Nun könnte man als scharfer und kritischer Beobachter der ganzen Szenerie schon fragen, wann das FotografInnen-Teilnehmenden Verhältnis endlich kippt. Auch die Tatsache könnte nachdenklich stimmen, dass immer mehr Schaulustige, die sich zum Teil sehr aufdringlich und auch übergriffig verhalten, die Festivalbesucher zu Alternativ-Veranstaltungen treiben, damit diese wieder ein Mehr-unter-sich und ein weniger Menschen-im-Zoo Gefühl bekommen.
Ja, es gibt viel zu sehen: Erstaunliches, Erbauliches, Märchenhaftes, Fabelhaftes, Bizarres, Erotisches, Historisches, Fantastisches, Groteskes, Eklektisches, Elegantes, Utopisches und überall Todessehnsüchtige, die das Leben feiern. An vielen Gewandungen haben die Träger über Jahre gearbeitet, das sieht man. Hinter manchen verbirgt sich ein generationenübergreifendes Konzept. Einige Teilnehmende erkenne ich von zurückliegenden VikPicks und staune über ihre neuerliche scheinbar bodenlose unerschöpfliche Kreativität. Ich treffe nordische Berserker, Vampire, Zeitreisende mit dampfenden Apparaturen, melancholische Meerjungfrauen, Ludwig den XIV. mit der Marquise de Pompadour, schmal geschnürte viktorianische Witwen mit schlichtem schwarzem Taft, Sklaven in Lack, Neofolker in Uniform und Loden, kurz: Es geht durch alle Genres.
Jeder hat seine Picknickdecke, ein Körbchen oder eine Kühlbox dabei. Bei manchen darf es etwas mehr sein und es werden Tische, Tafeln, Großmutters gutes Sonntagsgeschirr, die edlen Siebenarmigen und das Silberbesteck aufgefahren. Eine Gruppe hat sogar ihren eigenen Butler dabei. Bereits um 14:00 Uhr füllt sich der Park beträchtlich, es werden Stände für historische Fotografie aufgebaut, von überall hört man Musik. Mit Feline & Strange, einem Elektro-Wave Trio aus Berlin, das auch für seine Cabaret-Einlagen bekannt ist, gibt es sogar Live-Musik. Bis in den späten Nachmittag konnte man es eigentlich so ganz gut im Clara-Park aushalten. (DS, KS)
agra-Treffenpark
Der agra-Treffenpark in Markkleeberg mit seinen großen Hallen, wobei eine für die großen Konzerte und Headliner vorgehalten wird und in der anderen der jährliche Treffen-Markt stattfindet, und dem riesigen Zeltplatz ist das Herzstück und zentraler Dreh- und Angelpunkt des Wave-Gotik Treffens. Kein WGT vergeht, ohne dass man sich nicht wenigstens einmal über die neuesten Modetrends der Szene informiert, mit einem Becher Treffen-Met angestoßen oder auf den “schlechten” Sound” in der agra geschimpft hätte. Hier finden wir uns alle zusammen, hier gehen wir alle wieder auseinander. (KS)
19:00 Uhr – Das Ich (D)
Geben wir es einmal zu: Mit dem Legendenbegriff wird viel zu inflationär umgegangen. Aber hier hab ich eine, auf die man ihn ohne zu zögern anwenden kann, ohne das Gefühl zu haben, irgendwas überzustrapazieren und jeder würde einem sofort recht geben. Stefan Ackermann und Bruno Kramm sind solche Legenden: Für die Gothic-Szene und für das WGT erst recht. Denn sie zählen zu jenen acht Bands, die 1992 das allererste WGT bestritten und sind seither zehnmal da gewesen. Nummer elf dräut heut’. Da sind sie immer noch, so gut wie nie, so authentisch wie immer. Das Ich eröffnen das 28. WGT im agra Park. Und wie das nunmal so ist: Wenn Legenden rufen, kommen sie in Scharen. Die Halle ist sehr voll, was selten der Fall ist, bei der allerersten Band des Abends.
Ackermann und Kramm treten mit drei Keyboardern auf und zeigen von der ersten Minute an vollen Einsatz. Das Bühnenbild enthält Installationen, die alle Instrumente zu Körperteilen eines riesigen Arachniden werden lässt. So zumindest mein Empfinden. Zu den herausragenden, wie auch bisweilen leicht verunsichernden Performances von Das Ich muss man eigentlich nicht mehr viel sagen: Die suchen in der Szene seit nunmehr 30 Jahren ihresgleichen. Kramm trägt die gedrehten Hörner des Gefallenen, während Ackermanns Haut von Kopf bis Fuß rot getönt ist. Was Körpersprache und Gestik angeht, kann man den Sänger getrost wieder zwischen Leibhaftigen und Forensik einordnen. Das Publikum ist begeistert, was Bruno Kramm immer wieder dazu veranlasst mit ihm in Interaktion zu treten. Wo denn die Fans von Das Ich so herkommen, will er wissen, nachdem ein paar schwedische Schlachtenbummler in der ersten Reihe immer seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben: Russland und sogar aus den USA – ja, da müsse er auch mal wieder vorbeikommen. (DS, KS)
20:55 Uhr – Forced To Mode (D)
Durchatmen und die Gefühle komplett einmal durchwechseln. Die zweite nun folgende Band des ersten Abends bedient völlig andere Gemüter und schlägt deutlich poppigere Töne an, als noch die Urgesteine von Das Ich. Was die WGT-Erfahrung angeht, sind Forced To Mode dann zum Vorgänger auch noch gegenteilig ausgestattet, denn sie sind waschechte Treffen-Jungfern. Die Band aus Berlin hat sich bereits einen Namen als “beste Depeche Mode-Cover Band Deutschlands” gemacht. Es hat sich eine mehr als ansehnliche Menschenmenge in der Halle eingefunden, was allmählich mit einem Tribut an Temperatur und Sauerstoffsättigung gezahlt werden muss. Forced To Mode zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Sound ihrer Vorbilder beinahe identisch treffen und dort, wo die “älteren” Herren mit den Jahren möglicherweise etwas zu routiniert geworden sind, immer noch tonnenweise Energie und frische Spielfreude auf die Bühne bringen. Ihr Sänger Christian Schottstädt sieht obendrein aus wie eine gesündere Version des 90er Jahre Dave Gahan. Was will man denn mehr, wenn man das Original nicht bekommen kann? Es gibt einen bunten Ausflug mit 15 Songs durch 40 Jahre sehr, sehr oft gehörte Depeche Mode-Gassenhauer: Shake The Disease, Enjoy The Silence, Personal Jesus, Question Of Lust, Stripped, Behind The Wheel, Never Let Me Down Again – Ja, was soll denn da schiefgehen? Offenbar nichts, denn Forced To Mode scheinen hier einen Nerv zu treffen und Emotionen zu bedienen. (DS, KS)
22:40 Uhr – Hämatom (D)
Der erste Treffentag auf der agra hatte mit Hämatom auch einen Vertreter der Neuen Deutschen Härte in der sehr bunt gemischten Running Order, bei den die Gehörgänge angesichts der krassen Wechsel zwischen den aufgefahrenen Genres ordentlich durchgeschüttelt wurden, wenn man sich entschloss an der Stage zu verweilen. Wer den Rest der NDH-Familie bewundern möchte, muss sich ja noch ein wenig bis zum Montag gedulden und zum Felsenkeller reisen. Hämatom befinden sich derzeit auf Jubiläums-Tour anlässlich ihres 15-jährigen Bestehens. Kinder, wie die … ach ja. Deswegen sind die Jungs doch schon ziemlich bekannt und ziehen, wohl auch aufgrund ihrer außergewöhnlichen Bühnenshows sehr viel Publikum und Aufmerksamkeit. Bereits der Umbau der Bühne gestaltet sich etwas aufwendiger wegen der riesigen Lichtwände, die Hämatom installieren lassen. Und obwohl man ja bei Festivals wegen des strengen Zeitplans bekanntlich nicht das ganze Lametta abbrennen kann, gibt es noch die eine oder andere “Pyro-Einlage”, wenn man Bassist West etwas genauer im Auge behält. Insgesamt sind große Bühnen, wie die in der Agra-Halle ein Segen für Bands wie Hämatom und ihre lebendigen und energiegeladenen Effektshows. Aber manchmal reichen selbst diese großen Bühnen nicht aus, wie im Fall von Süd, der sich mit seinem Schlagzeug ungefähr zwei Minuten lang auf einer Mini-Plattform durch das Publikum tragen lässt und trotzdem keinen Takt seines Vortrags versäumt. Diese ungewöhnliche Form des “Stage-Slidings” ist definitiv das Highlight des Konzerts und Motiv für so manches Erinnerungsfoto. (DS, KS)
Heidnisches Dorf
Das im frühbarocken Stil im späten 17. Jahrhundert errichtete Torhaus Dölitz bildet den Eingangsbereich des Heidnischen Dorfes. Das von viel Grün und alten Bäumen umschlossene Areal, das für zahlreiche historische und künstlerische Marktstände, zwei Bühnen und allerlei Gastronomiebuden Platz bietet, ist ein wahrer Glücksgriff und könnte was Atmosphäre und Angebot angeht die mit Abstand reizvollste Location des gesamten Wave Gotik Treffens sein. Könnte ja, denn auch in diesem Jahr setzten sich Frust und Stress der vergangenen Jahre fort. Werden die Bands größer, wird die Schlange vor dem HeiDo länger, bis zu 400 Meter lang. Besucher mit und ohne Bändchen treten mehr und mehr miteinander in Konkurrenz, die Nerven liegen blank. Man solle das Besucherkonzept, Tageskarten für 15 Euro zu verkaufen, überdenken und bei großen Headlinern Treffenbesuchern den Vortritt lassen. Immer mehr “Bändchenträger” überlegen sich den Besuch auf dem HeiDo zweimal. Voll bleibt es trotzdem und so lang das so bleibt, wird sich wohl auch vorerst nichts ändern. (KS)
21:20 Uhr – In Extremo (D)
Die relativ späte Ankündigung, dass die wohl erfolgreichsten Mittelalter-Rocker nach 17 Jahren wieder einmal für einen Auftritt beim Wave Gotik Treffen vorbeischauen, war schon eine kleine Sensation. Als In Extremo 2002 zum letzten Mal auf dem Treffen waren, kündigten sich ihre größten Erfolge mit dem Album Verehrt und Angespien zwar bereits an, lagen aber noch vor ihnen. Was dem Einen schier die Tränen der Vorfreude in die Augen trieb, ließ den Anderen bereits Schlimmes vermuten: In Extremo im HeiDo? Das wird voll. Da muss ich Stunden vorher da sein, um überhaupt reinzukommen. So kommt es dann auch. Bereits eine Stunde vor Beginn des Konzerts ist das Heidnische Dorf knüppeldicke voll. Besucher (mit und ohne Festivalbändchen) stehen bis zur Straßenbahnhaltestelle Schlange und es wird nur eingelassen, wenn jemand die Veranstaltungsstätte verlässt. Aber wer geht schon, wenn drinne In Extremo spielen? Der Frust ist entsprechend groß. Vor der Bühne bekommen wir davon natürlich wenig mit.
Die Berliner Mittelalter-Rock Pioniere, die längst den Sprung in den Mainstream absolviert haben, sind für viele DAS Highlight des diesjährigen Treffens. Die Stimmung ist entsprechend gehoben, ebenso wie die Zusammensetzung des Publikums vielfältig ist. Der Auftritt selbst hält wenig Überraschungen bereit. In Extremo tun, was sie nun seit über 20 Jahren tun: Sie reißen mit, bewegen, sie verbrüdern, sie unterhalten und halten dabei kaum jemanden auf seinem Platz. Es wird getanzt und textsicher mitgesungen, fast bis in die hintersten Reihen. Wir bekommen das Beste aus der Diskografie, eine perfekte Mischung aus Schweiß und Tränen, aus Spott und Elegie. Bei Vollmond liegen sich die Liebenden den Armen, bei Frei Zu Sein schicken wir unseren Geist und unsere Sehnsucht auf eine Reise, bei Herr Mannelig grölen wir mit. Drei Zugaben spielen die Spielleute. Anständig. (DS, KS)
Setlist IN EXTREMO @ WGT, Heidnisches Dorf (07.06.2019):
- Intro
- In diesem Licht
- Sängerkrieg
- Vollmond
- Störtebeker
- Gaukler
- Unsichtbar
- Quid pro Quo
- Rasend Herz
- Rotes Haar
- Frei Zu sein
- Herr Mannelig
- Feuertaufe
- Himmel & Hölle
- Moonshiner
- Liam (Z)
- Sternhagelvoll (Z)
- Pikse Palve (Z)
Schauspielhaus
Der Arbeitstag findet sein Ende, die Sommertemperaturen sprechen für sich – ich bin zuversichtlich mit meiner Abendplanung. Das schöne Schauspielhaus in der Leipziger Innenstadt ist so schnell gefunden, wie die Sympathien dort meinen Tag ausklingen zu lassen. Das klangvolle und visuelle Spektakel im dunklen, bestuhlten und stets gefüllte Saal erzeugen eine andächtig, ruhige Stimmung, die den Musizierenden wertschätzendes Lauschen entgegenbringt. (CH)
18:00 Uhr – And The Golden Choir (D)
Eröffnend performen And The Golden Choir stimmungsvoll melodiehafte Popmusik, die namensgebend den Fokus auf die stimmliche Stärke zu richten scheint. And The Golden Choir sind einige Livemusiker um Tobias Siebert, Produzent von u. a. Me And My Drummer, Phillip Boa, Enno Bunger oder Slut, der sich freudig nach jedem Händeklatschen bedankt. Rausch und Eindruck verschaffen die wabernden Melodien. Die warme Stimme schwebt über allem, und klingt langsam nach der Darbietung, die etwas mehr als eine Stunde dauern soll, aus. Die Gruppe, die sich über die Bühne verteilt, glänzt im hallenden Applaus des Saals und den scheinenden Lichtabstimmungen. (CH)
19:30 Uhr – Jungstötter (D)
Wenige Umbauminuten lassen den Halbkreis aus den vier Musikern und Fabian Altstötter erkennen. Der ehemalige Kopf von Sizarr bezaubert seit diesem Frühjahr mit seinem Songwriting-Talent, Einfallsreichtum, der vereinnahmenden Stimme als Jungstötter und der neuen Platte Love Is. Ich glaube, es war viel los – das sollte jedoch, im Zuge dessen, dass sich alles schnell und gut um einen herum vergessen lässt, keine Rolle spielen. Zentrum waren hier die Melodien, das gute Gefühl und die Klangfülle, die sich vor den Lichtkulissen auftürmten und dem Zuhörenden überstüplten. “Krass”, “Bravo” und obgleich der überraschend spontanen Ergriffenheit leicht verzögerten Applaus, gab das Publikum wohlwollend zurück. Trotz dass es abgedroschen wirken könne, lobte der junge Sänger mit der warmen Stimme seine Zuhörerschar als schönstes Publikum seiner Karriere des Auftretens. (CH)
22:40 Uhr – Jonathan Bree (GB)
Das Ringen der Theaterglocke passiert zum dritten Mal, alle technischen Herausforderungen scheinen beseitigt, die Bühne ist dunkel während im Hintergrund die Videoprojektionen leuchten. Jonathan Bree verzaubern im Lichtkegel das Leipziger Schauspielhaus mit der wirkungsvollen Mischung aus Bildgewalt und Lässigkeit, denn alles wirkt, ohne sich aufzudrängen – das gesichtslose, puppenhafte Äußere, die fließenden Handlungen der beiden Tänzerinnen im bemerkenswerten Einklang mit der Bewegtbildkulisse. Zusätzlich melodisiert sich der tiefe Hall der schönen Stimme – mal mit Princess Chelsea bei Say You Love Me Too, zumeist jedoch im Solo – über Schlagzeug und Gitarre hinweg, die kontinuierlich treiben, da kaum Pausen zwischen den Songs Platz finden. Es ist düster, warm und faszinierend. (CH)
Volkspalast
Traditionell wird der Volkspalast zum WGT gern mit Bandprojekten bespielt, die sich im Dunstkreis von Neofolk, Neoklassik, Dark-Ambient, Military-Industrial in Stile klassischer Cold Meat Industry Bands bewegen. Zum Teil kann man diese Klassiker auch heute noch dort bewundern. Kurzum der Volkspalast bietet auf dem WGT alles, was sich gut in seine martialische Kulisse einfügt oder durch entsprechend ausstaffierte Menschen in Sinne dieses Ambientes erweitert wird. In diesem Jahr, so mein Eindruck, scheint die Bandauswahl am Freitag nicht ganz so stringent an dieses Konzept angepasst zu sein. Gekommen sind sie aber trotzdem wieder alle, wir auch. Leider etwas später als geplant erreichen wir das Pantheon auf dem alten Messegelände und müssen den ersten Programmpunkt, The Lust Syndicate, von der Liste streichen. Das Dark Electro/Industrial Projekt von Spiritual Front Vordenker Simone Salvatori dröhnt und hämmert bereits bedrohlich unter der Kuppel, als wir ankommen. Obwohl der Volkspalast zu dieser recht frühen Nachmittagsstunde noch nicht so gut befüllt ist, scheinen die Anwesenden ziemlich genau zu wissen, um wen es sich vorn auf der Bühne handelt und dass der ziemlich genau weiß, was er da tut. Wir werden The Lust Syndicate wiedersehen, dann hoffentlich auf einem dankbareren Slot. (KS)
Volkspalast Kantine
Wie jedes Jahr beim WGT treten die Künstler im Volkspalast auf den beiden Bühnen, der Kuppelhalle und der Kantine alternierend auf. Das ermöglicht ein beinahe lückenloses Programm und einen schnellen Übergang zwischen beiden Locations.
16:35 Uhr – St. Michael Front (D)
Das 28. Wave Gotik Treffen wird in der Kantine in diesem Jahr von dem Hamburger Anthropop/Misanthropop Duo St. Michael Front eröffnet und gleich mit dem ersten Highlight geadelt. Diese hatten im April 2018 mit ihrem Album End Of Ahriman eine subversiv buntes Bonbonglas aus schräger Spiritualität und dem Seiltanz auf dem exaltierten Wahnsinn gefangen im verstörend skurrilen Nimbus eines merkwürdigen Wandererweckungszirkels garniert mit dem enzyklopädischen Wissen an allem, was B-Movies, Aleister Crowley, Comics, Rudolf Steiner und Artverwandten (?!) so aufzubieten wissen. Musikalisch verneigt man sich vor Ennio Morricone, diversen Horrorfilm-Soundtracks und Komponisten der großen Orchester der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – von Wagner bis Mahler. Das klingt so verrückt, wie es genial ist und so kann die Front an diesem Nachmittag eine ansehnliche Gefolgschaft um sich scharren, die ihrem Meister, damit daran auch bloß keine Zweifel aufkommen, ein “Wir sind die Jünger!” entgegen ruft. Der antwortet mit höhnischem Grinsen und schneidend wölfischem Schnarren: “Ja, Ihr seid die Jünger … und jünger!”.
Eröffnet wird mit fünf neuen Songs (sehr mutig auf einem Festival!) in deutscher Sprache. “Damit Ihr auch schön alles versteht!”, tönt es von der Bühne und ich bekomme irgendwie Angst, dass ich nach der Show abgefragt und bei Versagen mit einem indischen Tuch erwürgt werde. Die neuen Stücke fügen dem frontschen Potpourri eine weitere selbsterkorene Facette hinzu: Gothic-Schlager. Das scheint aufzugehen. Alles wird sofort mitgesungen und ist wohl eher dem dornig melancholischen Repertoire der ab- und tiefgründigen Alexandra zuzuordnen, als Helene Fischer, die im schwarzen Plastikkorsett und angeschraubten Vampirjackettkronen durch die Arena flattert. Nächstes Jahr gibt’s dann das neue Album. Ick froi mir! Die zweite Hälfte gestalten St. Michael Front gewissermaßen als Wunschkonzert mit ihren “alten” Liedern. Once, Doom Of Your Living Room, Lucky Prince, Bootlicking For A Dream etc. werden wie von einem Schwamm aufgesogen. Fanservice at its best. (KS)
18:55 Uhr – Coph Nia (S)
Das schwedische Dark Ambient/Post Industrial Projekt um Mikael Aldén kann bereits auf drei absolvierte Auftritte im Rahmen des WGT zurückblicken, wobei der letzte schon zwölf Jahre in der Vergangenheit liegt. Sichtlich bewegt eröffnen Coph Nia nach einem scheinbar endlosen Intro ihr Set mit den Worten “It’s an honor to be back” und das WGT atmet im Volkspalast zu ersten Mal an diesem Abend ein Stück Genre-Geschichte. Coph Nia starteten ihre Karriere beim schwedischen Label Cold Meat Industry und sind somit schon automatisch eine lebende Legende. Die zeichnet sich durch ein wohltuend unprätentiöses Auftreten aus und durch eine atmosphärisch dichten, beklemmend düsteren mit eisig donnernden, bald sphärisch filigranen Melodien versehenen Vortrag aus. Mikael Aldéns charismatische Stimme rezitiert gesprochenes Wort, deren verborgene Botschaften sich im verklausulierten Text sich nicht immer sofort erschließen. Die Kantine ist beinahe vollständig gefüllt, Leipzig hat offenbar ein gutes Gedächtnis, hier ticken die Uhren anders. Sehr schön. (KS)
Volkspalast Kuppelhalle
17:40 Uhr – Darkher (GB)
Mit ihrem 2016 erschienen Album Realms legte Jayn H. ein musikalisch tiefschürfendes, wie emotional packendes Debüt vor. Ein besonderes Kennzeichen für das Songwriting der Südengländerin ist das Zusammenspiel ihrer ausdrucksstarken und doch so fragilen verletzlichen Stimme und dem bedrohlichen, dröhnenden, anschwellenden Gitarrensound. Darkher wird in ihren Songs zu einem zarten Licht der Zuversicht in einer naturalistischen, aber lebensfeindlichen Umgebung. Als ich Jayn das letztes Mal live gesehen habe, trat sie mit kompletter Bandbesetzung auf, heute wirkt Darkher allein mit ihrer Gitarre unter der Kuppel doch schon etwas verloren. Und so mäandern auch ihre Songs, denen ohne vollständige Instrumentierung etwas der Druck und die Struktur fehlt, etwas unschlüssig durch den fast vollständig gefüllten Saal. Hinzu kommt, dass die Künstlerin über die Distanz von mehreren Minuten mit starken Rückkopplungen zu kämpfen hat und immer wieder hilfesuchend auf den betreffenden Verstärker blickt, bevor sich jemand von der Crew berufen fühlt, das Problem zu beheben. Schwache Leistung und wirklich ärgerlich, wenn sich die Aufmerksamkeit auf eine einzige Person und ihren ruhigen Vortrag bündelt. Im Set stehen nach wie vor The Kingdom Field und Realms im Vordergrund. Ghosttears und Hollow Veil hallen gespenstisch durch die Kuppelhalle und Jayn wirkt wie ein zerbrechlicher Banshee. Foregone kommt ohne die mächtigen Gitarrenwände im Mittelteil etwas substanzlos herüber. Mit Immortal hat Darkher auch einen neuen Song im Gepäck, was auf neues Material aus West Yorkshire, seinen schwarzen turmhohen Gewitterwolken und düsteren uralten Kirchenruinen hoffen lässt. (KS)
20:00 Uhr – Camerata Mediolanense (I)
Das musikalische Spektrum des italienischen Künstlerkollektivs Camerata Mediolanense reicht von Post Punk bis Barock. Unter der künstlerischen Leitung von Elena Previdi einer Musikwissenschaftlerin und ausgebildeten Cembalistin vereinen die Mailänder Tradition und Moderne unter der Verwendung der Lyrik von Petrarca oder Dante Alighieri. Heute sind die Camerata mit zwei Sängerinnen, drei Percussionisten, einem Pianisten und Elena Previdi angereist, die an den Keyboards zu finden sein wird oder ebenfalls Piano spielt. Alles muss bis auf das letzte Haar aufeinander abgestimmt werden, was bereits den Soundcheck zu einer Herausforderung macht. Die Italiener eröffnen mit Dolci Ire und obwohl sich nicht alle Künstler über den Monitor hören können, was die Performance bei derartig komplexen Songstrukturen erheblich erschwert, sind sofort alle Bedenken wie weggewischt. Das wird ein traumhaftes, lebendiges und kraftvolles Konzert. Für ihre heutige Interpretation von Mi Voui erntet Carmen D’Onofrio vom Publikum Begeisterungsstürme, die das Konzert für mindestens eine Minuten unterbricht. Das Duett zu Pace Non Trovo zwischen Desirée Corapi (anmutig und grazil) und 3vor (intensiv und sehr maskulin), das ebenfalls vom aktuellen Album Le Vergini Folli stammt, bewegt bis in die hintersten Reihen. Über die Distanz von knapp einer Stunde werden Camerata Mediolanense für mich eines der nachhaltig prägendsten Konzerte des 28. WGT abliefern. (KS)
Moritzbastei
23:10 Uhr – La Scaltra (D)
“Find the beauty in darkness … or just dancing with ghosts”. Als Fans des Goth/Post-Goth Rock Labels Solar Lodge beobachten wir La Scaltra beinahe seit ihrer Gründung im Jahr 2015 und ihrer Debüt-EP Ghosts (2016). Die Band beschreibt ihren Stil als Gloomy Witch Wave Rock und kombiniert Elemente aus klassischem Goth und amerikanischen Death Rock, unaufgeregten, tanzbaren Dark Wave mit stiller, unprätentiöser, warmer Melancholie und der zutiefst subjektiv erinnernden Überzeugung, dass es diese Art von Musik und Neigung zur Dunkelheit war, die einen damals “schwarz” gemacht hat. Mich zumindest. Deswegen hatte ich auch sofort einen Draht zu den Damen (und dem einen Herren) aus dem Pott und ein eigentümlichen Gefühl von Verbundenheit. La Scaltra headlinen an diesem Abend die Moritzbastei, entsprechend voll ist das alte etwas enge und sehr dunkle Gemäuer des ehemaligen Studierendenklubs der Universität Leipzig. In einer Woche wird das zweite Studioalbum The Third Eye (14.06.) erscheinen, von dem es fünf Songs auf die Setlist geschafft haben. Ein besonderes Highlight ist für mich an diesem Abend Toxicated, da hier das unvergleichliche, komplementäre Wechselspiel zwischen beiden Sängerinnen, bei dem Dae Widows zarter, flüchtiger Gesang die warme, klare Hauptstimme von Aeleth Kaven wie ein sanfter Wind umspielt oder dieser wie ein fernes Echo antwortet, besonders exemplarisch herausgearbeitet wurde. Die neuen Songs kommen insgesamt sehr gut an. Klassiker, wie Holidays oder Chained Hysteria werden bereits während der ersten Takte erkannt und begeistert willkommen geheißen. Die hartnäckigen Schwaden des dichten Bühnennebels diffundieren nur widerwillig mit der drückend warme Luft, in der sich dicht an dicht die hingerissenen Nachtschwärmer wiegen. Mir persönlich fällt auf, dass sich La Scaltra im Verlauf ihrer doch noch jungen Geschichte zu einer hervorragenden Live-Band entwickelt haben, die sich durch ein hohes Maß an Authentizität, Sympathie und Einzigartigkeit auszeichnet und sicher noch sehr viel vor hat. Besser kann für uns der erste Festival-Tag nicht enden. (KS)
FotografIn/AutorIn: Claudia Helmert (CH), Danny Sotzny (DS), Katja Spanier (KS), Thomas Papenbreer (TP)