Am Rande des Amphi-Festivals 2018 in Köln traf ich Jo Hysteria von Massenhysterie, um mit ihr über aktuelle Projekte und die Band zu sprechen. Natürlich durften auch einige persönliche Einblicke nicht fehlen.
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Hallo Jo. Schön, dass Du Dir Zeit für ein Gespräch mit mir nimmst. Du wirst sicher eine Menge zu erzählen haben. Also starten wir doch gleich direkt mit dem Interview: Wenn Dein Leben ein Getränk wär, welches wäre das?
Kaffee. Schwarz, heiß und macht munter.
In den sozialen Medien hattet Ihr ein Bild kürzlich gepostet, das Euch beim Handstand zeigt. Wie kam es zu diesem Ritual?
Wir waren schon den vierten Tag im Studio. Das war anstrengend und wir wollten noch einige Songtexte und Melodien fertigbekommen. Uns tat alles weh und wir wollten schlafen, aber wir brauchten Ideen und mussten weiterarbeiten, um das Album zu finalisieren. So dachten wir uns, dass wir etwas unternehmen, was wir auf dem wenigen Platz machen können, um uns ein bisschen in Schwung zu bringen. Also machten wir einen Hand- beziehungsweise Kopfstand.
Habt Ihr noch weitere Rituale im Studio?
Unsere Schaffensprozesse sehen meistens aus wie in Filmen über verrückte Künstler: Ich schreibe Textfetzen auf Papier, das ich dann zusammenknülle und durch den Raum werfe, während Stephan an einem seiner Synthesizer schraubt – oder manchmal an einigen gleichzeitig – und erst einmal gar nicht ansprechbar ist. Dann kommt der spannende Moment, wenn wir jeweils in das Gesicht des anderen schauen und versuchen herauszufinden, wie das Urteil ausfallen wird, bevor auch nur ein Wort gesprochen wurde. Und wehe, einer wird vor dem anderen müde, da gibt es nämlich keine Gnade! Wenn gar nichts mehr geht und wir eine Erholungspause brauchen, reiten wir auf menschlichen Ponys durch Wien. Wir möchten übrigens die Petition “Fiaker: Menschen statt Pferde” starten.
Während Eurer Schaffensphase am neuen Album hattest Du ein Bild in den sozialen Medien gepostet, das Stephan und Dich gemeinsam in den Bergen bei einem Glas Wein zeigt…
Da sind Stephan und ich in die schöne Südsteiermark gefahren. Dort haben wir dann, inspiriert von gutem Wein und der Natur, getextet. In vino veritas! Abseits vom Trubel der Großstadt und sonstigen Verpflichtungen war dies eine schöne Schaffensepisode.
Stephan Sutor, der andere Part von Massenhysterie, wohnt im weit entfernten Kanada. Wie entwickelt Ihr Eure Songs und wie gestaltet sich der Recording-Prozess?
Wir sammeln ständig Ideen – unabhängig voneinander. Das Album startet nicht dann, wenn wir beschließen, dass wir ein Album machen wollen, sondern jeder von uns arbeitet non-stop. Ich schreibe dauernd Texte oder notiere Ideen. Stephan komponiert dauernd irgendwelche Beats und Sounds. In der ersten Phase des Albums schauen wir uns an, was wir jeweils geschrieben haben. Anschließend suchen wir Verknüpfungspunkte und versuchen diese zusammenzubringen. Zum Aufnehmen kommt er dann natürlich nach Wien. Wir hören uns alles gemeinsam an und reden darüber. Danach versuchen wir tatsächliche Songs daraus entstehen zu lassen. Ach übrigens, mit seiner Band Lost In Desire spielt er dieses Jahr auf dem Gothfest in Montreal.
Du spielst dieses Jahr auch noch auf einem Festival… (Das Interview fand auf dem Amphi Festival (20./21. Juli) statt. Anm. der Redaktion)
Genau, ich bin Ende August auf dem Infest in England.
Das klingt spannend. Magst Du uns erzählen, wie es dazu gekommen ist?
Ich wurde überraschend vom Veranstalter angesprochen, und da habe ich gern “Ja” gesagt. Scheinbar gibt es auch dort Leute, die unsere Musik super finden. Ich bin ganz aufgeregt, weil das Line-Up wirklich großartig ist.
Wie kommt Ihr auf Eure Themen? Einige sind eher BDSM-orientiert, einige auch politisch, wenn ich an die von euch zuletzt veröffentlichte Single mit dem Titel Kim Jong Un denke – oder auch materialistisch, wenn ich an euren Song Mehr Geld denke, bei dem Du auf der Bühne mit Geldscheinen um Dich wirfst.
Es sind eigentlich immer Dinge, die uns aktuell bewegen – oder halt meistens mich. Aber auch Themen, wo ich mir denke, dass sie bei den Menschen ein bisschen anecken könnten, oder wo sich die Menschen fragen: “Ist das eigentlich euer Ernst?”, oder wo ich finde, dass es Diskussionsbedarf gibt, beziehungsweise wo ich denke, dass etwas ein Tabu ist, was es aber nicht sein sollte. Manchmal schreiben wir Texte aber auch einfach nur zum Spaß.
Zu Mehr Geld gibt es eine wunderschöne Story: Ich war mit Stephan auf dem Wave Gotik Treffen in Leipzig. Beim Shoppen in der Agra am Stand eines bekannteren Bekleidungsherstellers sagte ich zu ihm: “Schau mal Stephan, hier gibt es fünfzig Prozent Rabatt. Lass uns doch mal hingehen.” Darauf sagte Stephan: “Nein, nein Jo, das machen wir nicht. Wir kaufen keinen Ramsch. Wir kaufen weniger für mehr Geld.” Und so ist es dann auch passiert, die Visa-Card glühte und wir kauften tatsächlich weniger für mehr Geld. Dies ist eins zu eins unser Refrain geworden. Nur Premium, für mehr Geld!
Wo würdest Du Massenhysterie thematisch einordnen?
Wir wollen auf jeden Fall ein bisschen provozieren – zum Denken anregen. Massenhysterie ist für mich eine Rebellion gegen Tabus, gegen Dinge, über die man nicht spricht. Es ist für mich aber auch eine Plattform, auf der ich mich selbst immer wieder neu erfinden und mich damit auseinandersetzen kann, was mich beschäftigt: Ob das nun Politik ist, Begebenheiten aus meinem Leben oder einfach nur etwas, was ich im Moment ästhetisch finde. Es gibt kaum etwas Schöneres, als dann Feedback zu bekommen, dass ich jemandem mit meiner Musik oder Performance Mut gemacht habe, etwas im Leben auszuprobieren, Neues zu wagen, oder zu dem zu stehen, wer man ist. Das gibt mir die Kraft, die vielen negativen Kommentare, die ich bekomme, ganz einfach wegzustecken.
Natürlich sind wir neugierig auf euer bald erscheinendes Album. Kannst Du uns schon etwas darüber verraten?
Ich habe mit Massenhysterie alle künstlerischen Freiheiten, die man sich überhaupt vorstellen kann – und die nutze ich natürlich grenzenlos aus. Das nächste Album ist alles, was ich absolut gut finde: Ich wollte einen Old-School-EBM-Track machen, wo ich total martialische Lyrics geschrieben habe. Dann wollte ich einen 90er-Dance-Track haben. Also haben wir all das gemacht. Dann wollte ich einen Song mit HipHop-Einfluss machen. Ich wollte einen Text schreiben, der mir unglaublich nahe geht, der nicht nur Schabernack ist und eine Geschichte aus meinem Leben erzählt. Auch das habe ich gemacht. Zusammengefasst: Alles, was wir wollen! So wird übrigens ein Titel auf dem Album heißen. Es ist eine ganz wilde Mischung aus den Inhalten meiner verrückten, dunkelbunten Welt.
Fans, die das Album 1. Akt kennen, erwartet etwas komplett Neues. Was meinst Du, wie diese auf das kommende Album reagieren könnten?
Also es ist auf jeden Fall ein Genre-Mix, aber das war auch schon das erste Album zu einem guten Teil. Ich glaube auch, dass die Leute mittlerweile mehr nach Songs und weniger nach Alben hören, und dass Genre-Grenzen sowieso ein Ding der Vergangenheit sind. Ich denke, die Leute picken sich einzelne Songs heraus, die sie gut finden, und die sie dann hören.
Ich glaube, dass dies auch schon beim ersten Album passiert ist, wo vermehrt die Altgruftis zum Beispiel 1000 Rote Rosen super fanden und mit dem Rest nichts anfangen konnten, oder die EBMler, die Hart Ist Der Stiefel total abgefeiert haben.
Bedeutet das, dass Ihr ein oder zwei Auskopplungen aus dem Album machen werdet?
1, 2, 3, viele! Ja, die erste Single war schon Kim Jong Un. Und das nächste Video kommt bald.
Kannst Du uns etwas über besondere Begebenheiten während des Entstehungsprozesses des neuen Albums erzählen?
Ich finde generell, dass der kreative Prozess gemeinsam mit anderen Menschen, die ich mag und auch als Künstler schätze, das Tollste auf der ganzen Welt ist. Es gibt nichts Schöneres, als sich gemeinsam vor einem leeren Blatt Papier und einem leeren Audioprojekt zusammenzufinden und daraus etwas zu machen. Auch wenn wir manchmal separat Ideen einbringen, gibt es auch Songs, wo wir uns einfach gemeinsam hingesetzt und uns gesagt haben: “Komm, jetzt machen wir etwas.” Und dann fängt einer mit einer Beat-Idee oder einem Wort an. So war dies zum Beispiel bei Panzerschokolade. Ich finde das Wort super, und nur wenige Menschen wissen, was das überhaupt war. Natürlich zoffen wir uns auch hin und wieder mal. Da gibt es dann auch manchmal Tränen. Wir machen für immer miteinander Schluss und wir wollen einander nie wieder sehen. Wir haben halt beide unsere Herzen darin, deswegen ist es uns so wichtig. Aus diesem Grund wird es auch manchmal sehr emotional, aber am Ende dennoch konstruktiv. Wir finden immer eine gemeinsame Lösung, mit der wir hinterher beide zufrieden sind.
Du sagtest gerade, dass Du gern mit anderen Künstlern zusammenarbeitest…
Ja, ich habe einen gemeinsamen Track mit dem Titel Carry The Noose zusammen mit Jamie Blacker aka Electronic Substance Abuse für sein aktuelles Album That Beast gemacht. Er hatte mir dazu einfach nur ein Demo geschickt und gab mir die totale Freiheit. Ich sollte ihm einfach nur die Vocalspuren von mir rüberschicken und er wird sie dann dort einbauen. Er vertraute mir da komplett. Das Vertrauen war wunderschön, und ich hatte selten so viel Spaß. Das Resultat war “wow”. Ich hatte mich für deutsche Vocals entschieden, weil ich fand, dass dies gut dazu passte: Das Abgehackte, Harte zu diesem harten, schnellen Beat. Es gefiel ihm und ich finde, dass es ein Wahnsinnstrack geworden ist. Vor einigen Monaten hatte ich zudem die Remix-EP Hysteria Immaculata herausgebracht. Da habe ich wiederum den Remixern Spuren geschickt und ihnen gesagt, dass sie jegliche Freiheiten hätten.
Hast Du bereits weitere Projekte für die Zukunft geplant?
Konkret noch nichts. Mit Jamie von Electronic Substance Abuse haben wir schon darüber gesprochen, dass wir unbedingt noch einmal etwas gemeinsam machen wollen, weil es beim letzten Mal so viel Spaß gemacht hatte, zusammenzuarbeiten. Mit Riccardo von Der Himmel über Berlin hatte ich auch schon über eine gemeinsame Post-Punk-EP gesprochen. Ich hoffe, dass es da nicht nur beim Träumen bleibt!
Du hast grad einige Künstler erwähnt. Mit welchem Künstler würdest Du am liebsten zusammenarbeiten?
Ich möchte gemeinsam mit Laibach in Pjöngjang spielen. Doch leider habe ich bisher keine Einladung von Kim Jong Un bekommen. Auf die warte ich noch. Ich hoffe, er findet meinen Huldigungssong im Internet.
Was viele vielleicht nicht wissen, ist, dass Du sehr sprachbegabt bist. Was hieltest Du von einem Song auf Italienisch?
Ich habe einen Lento-Violento-Track gemacht. Das ist eine Art von italienischem Techno. (Anmerkung: lento-violento = langsam-gewaltsam). Und da habe ich meinen guten Freund Riccardo von Der Himmel über Berlin genötigt, etwas ins Handy zu sprechen und mir zu schicken. Das hatte er auch getan, und das bleibt wahrscheinlich auch in dem Track. Der Titel ist übrigens auf dem nächsten Album zu finden und heißt Schwarze Witwe.
Du machst ja nicht nur Musik, sondern führst auch Regie.
Das stimmt. Zu dem Video Zero von Lost In Desire gibt es eine schöne Geschichte: Beim Schneiden des Videos dachte ich: “Irgendwie fehlt mir noch etwas. Mir fehlt eine Szene. Es passt noch nicht ganz zusammen.” Und so fragte ich mich, was sich auf die Schnelle noch machen ließe: “Ja, ich kann mich in die Badewanne setzen.” (lacht) “Und mit einem Lippenstift eine große Null auf die Fliesen schmieren.” So habe ich die Kamera auf ein Stativ gestellt und es einfach gemacht, gleich ins Video hinein geschnitten und dieses so auch fertiggestellt. Die Fliesen habe ich dann allerdings noch zwei Wochen lang putzen müssen. Lippenstift geht nicht so leicht aus Fugen heraus!
Man sieht Dich auf dem Cover eures ersten Albums 1. Akt in einem recht provokanten Fetischoutfit. Bei Euren Bühnenshows trägst du ebenfalls Fetischkleidung. Wie kamst Du dazu?
Ich mochte das Verruchte und Mysteriöse der Fetisch-Ästhetik schon immer und ich mag meine Kleidung eng und glänzend. Enger und glänzender als Latex wird es halt nicht. Außer “shiny and chrome” vielleicht.
Massenhysterie wird gern mit der Band Grausame Töchter verglichen. Was ist Deine Meinung dazu?
Ich glaube, dass der Vergleich daher kommt, dass es in der Gruftiszene nicht so viele Girl-Bands oder Bands mit Frontfrauen gibt. Eigentlich machen wir recht unterschiedliche Sachen. Massenhysterie ist wesentlich poppiger als Grausame Töchter. Unsere Liveshows sind auch nicht so gewagt wie die der Töchter. Ich sehe jedoch die Parallelen und finde den Vergleich schmeichelhaft.
Massenhysterie gab es bisher in den unterschiedlichsten Live-Besetzungen. Aktuell ist wieder Thomas dabei, der schon zur ursprünglichen Besetzung gehörte. Zwischendurch hattest Du noch zwei weibliche Mitstreiterinnen.
Thomas schätze ich als guten Freund und als talentierten Musiker sowie Live-Musiker. Leider ist er damals nach Berlin umgezogen. Deswegen habe ich es in anderen Konstellationen versucht. Jetzt aber, wo Veranstalter unsere Flüge bezahlen, lasse ich Thomas einfach zu den Shows einfliegen. Er hat übrigens gerade mit seiner Band Grossraum Indie Fresse ein neues Video herausgebracht.
Wie hattet Ihr Thomas kennengelernt?
Stephan hatte damals das Keyboard, welches Lost in Desire auf Europatour begleitet hat, von Thomas über einen österreichischen Internet-Marktplatz gekauft. Wir sind sofort Freunde geworden und Stephan und Thomas haben daraufhin eine Studio-WG gegründet. Da wurden dann einige legendäre Partys gefeiert, Songs geschrieben und sogar Musikvideos gedreht. Es war eine kreative Oase voll mit Musik und Ideen.
Sind nach dem Infest bereits weitere Live-Shows geplant?
Auf jeden Fall! Wir sind schon mitten in der Planung. Zum Release werden wir bestimmt wieder eine ordentliche Party in Wien schmeißen.
Kannst Du uns schon verraten, wann das Album veröffentlicht wird?
Wir haben noch keinen festen Veröffentlichungstermin, rechnen aber damit, dass es Anfang nächsten Jahres herauskommen wird.
Zum Abschluss hätte ich noch einige kurze und knackige Fragen, auf die ich Dich bitte, spontan und ebenso kurz und knackig zu antworten:
Kaffee oder Tee?
Beides.
Vinyl oder CD?
Spotify.
Lieblingsfarbe?
Schwarz.
Das ist keine Farbe.
Lila.
Lieblingsdroge?
Musik.
Dein größtes Steckenpferd?
Sport.
Regie oder Schauspielern?
Regie.
Vielen Dank für das ausführliche und spannende Interview. Es war mir ein Vergnügen.
Gerne jederzeit wieder!
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