Nach Freitag und Samstag verrät der Sonnenbrand: Es ist wirklich schon der dritte Tag vom Rock am Ring 2024. Zudem knacken die Knochen zunehmend lauter, Rücken am Ring und so. Wo der Körper vielleicht ein bisschen zickt, dreht die Seele bereits Pirouetten auf den Zehenspitzen und kann den Sonntag kaum erwarten. Denn das Programm ist zum Abschluss derbe gut.
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Die Mandora Stage hat sich schon einmal schick gemacht und einen Steg angebaut, weil heute Abend Parkway Drive regieren. Nicht unbedingt zur Freude der Fotograf:innen, für die anderen Bands aber ganz lässig. Die farbenfroh gekleideten Atreyu wollen den Steg gar nicht mehr verlassen und servieren ein reichhaltiges Metalcore-Frühstück. Atreyu haben nur 30 Minuten, um die Menge zu begeistern und nutzen jede Sekunde. „Können wir machen Spaß zusammen? Los fuckin’ gehts“ ruft Brandon Saller ins Publikum und ja, es geht richtig los. Der Fronter stürmt praktisch sofort nach vorne, um dem Publikum – echt gut was los für den ersten Act des Tages – nah zu sein. Bis auf den ortsgebundenen Schlagzeuger sind alle Bandmitglieder irgendwann auf dem Steg, gerne auch für maximales Posing gemeinsam. Beste Kunstfigur: Gitarrist Dan Jacobs (wie geil ist denn bitte seine „Sushi-Gitarre“?) stellt sein Bein auf den Oberschenkel des knienden Saller und zwirbelt Soli aus den Saiten. Dann ist Saller plötzlich im Publikum und will zum Mittelpunkt einer Circlepit werden. Der Wunsch wird ihm sofort erfüllt. So gewinnt man Fans und bietet einen der besten Festivalstarts vom diesjährigen Rock am Ring. Da sich das Publikum bereits athletisch zeigt, ist Sallers Aufforderung nach Blut und Knochenbrüchen allerdings so unnötig wie diskutabel. Der folgende Pit ist groß, aber friedlich. Zum Abschluss gibt es bandinterne Gitarrensolo-Duelle, Stinkefinger für Lars Ulrich und Herzchen fürs Publikum, das nach einer Zugabe verlangt. Die gibt es zwar nicht, dafür einen versöhnenden Schmunzler, da Frontman Saller seinen Gitarren-Kollegen Jacobs via Huckepack von der Bühne trägt.
Im Anschluss halten Of Mice & Men die Metalcore-Fahne hoch und das wollen sich richtig viele Menschen anschauen, selbst wenn einigen Personen das Dubstep-Intro sauer aufstößt. Im Gegensatz zu Atreyu bleiben Of Mice & Men bei der einstudierten Bühnenperformance, was kopfnickenden Crowd zugegeben egal ist. Die Leute feiern die Band richtig hart und brauchen gar keine Aufforderung, um aktiver zu werden. Crowdsurfer, Wall of Death, alles da. Interessant ist der Blick ins Publikum, das eine breite Altersspanne umfasst. Mitsingen können überraschend viele Zuschauer:innen. Sänger Aaron Pauley will Handzeichen, wer die Band bereits gesehen hat (viele), bedankt sich für den Zuspruch bei den Fans und begrüßt all jene Menschen – „Welcome to the family“ – die erstmals zu einer Of Mice & Men Show gekommen sind.
Das Schmankerl liefert wieder die Orbit Stage, weil Heriot spielen. Ist das jetzt Doom, Sludge, Hardcore oder Post Metal? Von allem was und ballert! Unbarmherzig tief und langsam schleppt sich der Tieftöner voran, Basser Jake Packer würgt dazu fiese Growls ins Mikro, die mit dem Gebrüll von Sängerin/Gitarristin Debbie Gough das bisher härteste Brett vom Rock am Ring bohren. Bis Thy Art Is Murder zehn Minuten später die Mandora Stage wegballern. Egal, jetzt ist erst einmal Headbangen angesagt, leider recht einsam; das Publikum ist überschaubar. Was aber nicht heißt, dass nicht gefeiert wird. Und hey, auch ein Crewmitglied von Fear Factory zieht sich den Auftritt rein. Im (kleinen) Moshpit geht es trotzdem heftig zur Sache. Herrlich: Ein Dude im Einhornminion-Kostüm und Patrick (SpongeBob) kommen sich beim Moshen näher.
Dass Thy Art Is Murder mit Tyler Miller seit Herbst 2023 einen neuen Frontman haben, ist bekannt. Doch nicht alle Fans haben ihn bereits live erlebt. Nicht nur deswegen ist der Andrang groß. Wer Thy Art Is Murder nicht kennt, dürfte sich kaum vorstellen können, was nach dem fröhlichen Intro We like to Party der Venga Boys passiert, zu dem einige Besucher:innen Polonaise tanzen. Es folgt: Pure Brutalität. Ja, Miller klingt anders als Chris “CJ” McMahon, doch selbst Puristen müssen zugeben, dass der neue Fronter stimmlich überzeugt. Seine Ansagen kommen mitunter etwas zu prollig daher, doch „Let’s party“ versteht das Publikum ganzheitlich. Die Australier pflügen wie eine Naturgewalt übers Infield. Erstmals steigen dichte Staubwolken vor der Bühne auf, weil sämtliche Pitwarrior durchdrehen. Miller fordert immer größere Pits. Drumherum kreisen Köpfe mit langen Mähnen und es fühlt sich nur richtig an, die Hand zu Devil Horns zu formen.
Zurück zur Orbit Stage, wo ein riesiges Publikum dem Auftritt von Hanabie ersehnt. Die japanische Band, die ihre Musik modebewusst als Harajuku-Core bezeichnet, profitiert zugegeben vom Exotenbonus. Musikalisch wird konventioneller Metalcore mit saftigen Breakdowns und elektronischen Spielereien geboten, was gepaart mit dem dynamischen Auftritt der der vier Frauen richtig gut ins Bein geht. Frontfrau Yukina und Gitarristin Matsuri sowie Hettsu am Bass sind ständig im Bewegung, gestikulieren mit den Händen und werfen beim Springen die Beine hinter die Körper. Das Rock am Ring hat richtig Bock auf Hanabie. Wie lässt sich die Stimmung weiter anstacheln? „Germany loves Beer – 3, 2, 1…Prost!“ Germany antwortet mit einem einzigen Brunftschrei.
Eine Veranstaltung wie das Rock am Ring hat einen Kulturauftrag. Oder so ähnlich. Auf jeden Fall ist es jetzt Zeit für Hochkultur. Polyphia beehren das Rock am Ring mit ihrem Genre sprengenden instrumentalen Progressive Rock. Die Mädels vor mir drehen sich noch schnell einen Joint, dabei ist es berauschend genug, was die texanische Band gleich auf der Mandora Stage zaubern wird: Technisch maximal anspruchsvolle Gitarrenriffs (Tim Henson, Scott LePage) und Bassläufe (Clay Gober), dazu komplexe Schlagzeugeskapaden (Clay Aeschliman) und Synths vom Band. Ansehnlich ist das Quartett auch. Ungläubig bis hypnotisiert starrt die Menge den Bandmitgliedern auf die Finger, die fast übernatürlich auf den Griffbretter herumtänzeln. Was sich mit einem Saiteninstrumenten machen kann, Polyphia machen es. Immer wieder platzt es aus jemandem heraus: „Alter, ist das krass!“ Oder auch: “Ihr geilen Drecksstücke.” Während Scott LePage als Wortführer das Publikum zum Mitmachen animiert – auch bei instrumentalen Tracks lässt sich mitsingen –, steht musikalisch meist Tim Henson im Rampenlicht. Henson, Jahrgang 1993, spielt lächelnd und mit geschlossenen Augen. Er gehört derzeit zu den bekanntesten und sicher besten Gitarristen. Das weiß er auch. Da wird mitten im Lied von Akustik- zur E-Gitarre gewechselt, pure Spielfreude. Schade, dass die anderen Bühnen herüberschallen und so ruhige Passagen beeinträchtigen. Dass LePage Crowdsurfer fordert und Polyphia reichlich davon ernten, erfreut nicht jeden. Auch die abschließende Wall of Death nervt jene Zuschauer:innen, die Polyphia entspannt genießen wollten.
Landmvrks und While She Sleeps spielen parallel? Boah, ist das fies geplant. Ein virtueller Münzwurf schickt uns zu Landmvrks. Die Franzosen spielen auf der Orbit Stage und hätten locker eine größere Bühne einreißen können, denn sie haben reichlich Fans beim Rock am Ring. Die fackeln nicht lange und sorgen rasch für neue Rekorde beim Crowdsurfen. Aber hey, Leute, genießt das Surfen doch einfach mal und filmt euch nicht ständig selbst dabei. Jedenfalls ist die Macht stark mit Landmvrks, die mit Spaß und Elan für beste Stimmung sorgen. Einige Meter hinter der tobenden Menge, die sich in einem riesigen Circle verausgabt, lässt ein Dude entspannt einen regenbogenbunten Drachen steigen
Erinnern wir uns an eine Szene vom frühen Vormittag am Merch-Stand. Sie zu ihm mit Blick auf dieses Shirt (keine Werbung, nur Info): „Hey, willst du ein Shirt mit Arnold Schwarzenegger?“ Er: „Ich hab’ doch keine Ahnung, wer Fear Factory ist.“ Ja, die Industrial-Metal-Pioniere sind nicht mehr unbedingt en vogue, haben zuletzt bandinterne Hürden überwinden müssen und präsentierten im Februar 2023 mit Milo Silvestro unter anderem einen neuen Sänger. Welch großartige Chance, die neuen Fear Factory live beim Rock am Ring zu erleben. Denkt aber nur der ganz harte Kern, während die Menschenmassen zu Kraftklub und – hier bitte Tränen einsetzen – Machine Head pilgern. Machine Head und Fear Factory parallel? Ihr macht mich fertig. Anyway, Fear Factory drücken den Leuten vor der Orbit Stage schon beim Soundcheck die Luft aus den Lungen. Okay, der Bass ist abartig. Dann das Intro (Terminator Theme) und den Shock vor den Latz. Bäm, das sitzt. Im Publikum – hurra, es ist voller geworden – mischen sich (sehr) Alt und Jung, es kommt Bewegung in die Menge. Silvestro agiert bereits souverän als Frontman und begrüßt alle zur „New Era of Fear Factory.“ Die macht richtig Spaß. Silvestri entlockt seiner Kehle nicht nur ordentliche Growls, sondern im Vergleich zu Vorgänger Burton C. Bell den besseren Klargesang. Gitarrist Dino Cazares, mittlerweile das einzige Gründungsmitglied, fetzt seine charakteristischen Riffs präzise und routiniert in die Pit. Seinem zufrieden lächelnden Gesicht sieht man das Alter langsam an. Fear Factory spielen eine ausgewogene Setlist mit vielen Hits, auf die das Publikum glücklich reagiert. Zum Abschluss gibt es das starke Zero Signal. Nacken kaputt, Seele euphorisch. Grüße an Drummer Pete Webber, der vermutlich wieder einige Kilos weggeschlagzeugt hat.
Aber deswegen leider Machine Head nahezu verpasst, die ein imposantes Bühnenbild aufgefahren haben. Erhöhtes Drumset, mächtiges Video-Backdrop, Logoteppich auf der Stage, viel Scheinweferlicht, Glitzer und Pyro. Was ne Show, die Rob Flynn und seine Band da liefern. Immerhin können wir noch die Überhits Davidian und Halo mitnehmen. „We are Machine Fucking Head“ ruft Flynn am Ende in die jauchzende Menge und zelebriert lässig einen Mic Drop.
Viele rennen danach an die Essens- und Kaffeestände und nehmen lange Wartezeiten in Kauf, einige Besucher:innen checken die Ergebnisse der Europawahl auf ihren Smartphones. Hat leider nichts geholfen.
Das letzte Biohazard-Album liegt über ein Jahrzehnt zurück, Auftritte der einflussreichen Band sind hierzulande rar geworden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Auftritt der Hardcore-Veteranen, die mit reichlich Verspätung beginnen. Technikprobleme. Wirklich gut wird der Sound leider nicht mehr. Die Vocals gehen nahezu komplett unter, alles klingt lasch. Die Fans freuen sich trotzdem über das Wiedersehen und feiern ihre Helden, die sich mächtig ins Zeug legen und für jahrzehntelange Treue danken. Gitarrist William Graziadei lässt sich auch das Bad in der Menge nicht nehmen. Respekt für den riesigen Circle, in dem die bisher breiteste Altersgruppe Schwerstarbeit leistet.
Corey Taylor erkennt man sofort. Die Stimme, diese Körperhaltung, das Charisma. Immer erfrischend, den Slipknot-Frontman ohne Maske zu sehen. Beim Rock am Ring hat er leichtes Spiel mit dem Publikum. Pits, Headbangen, Dauerklatschen. Zum Start stellt er die Band vor – sympathisch – und will Licht in der Menge, um seine „Family“ zu sehen. Taylors Solostücke kommen gut an inklusive eines Ulkcovers der SpongeBob SquarePants Titelmelodie. Doch, Hand aufs Herz, die meisten Leute wollen hier Material von Stone Sour und Slipknot hören. Das weiß Taylor und erweist seinen Anhänger:innen den Gefallen. Beim abschließenden Duality springen manche Fans nicht nur wegen der Musik, sondern vor Freude. Keine schlechte Idee vom Rock am Ring also, Slipknot als ersten Headliner für die Jubiläumsausgabe des Festivals im nächsten Jahr zu bestätigen.
Måneskin sind der Headliner vom Rock am Ring, echt jetzt? Die italienische Band kann was, keine Frage, die Rocksongs sind eingängig, mitunter pompös. Dazu herrliche Bandoutfits und eine sauber produzierte Show, die mit einem Musical mithalten kann. Aber ist das wirklich Headliner-Material? Populär sind sie ja, Måneskin. Selbst das Personal einiger Essensstände singt die Texte mit, während vor der Bühne überall Hüpfzonen entstehen, bis sie ineinander übergehen und noch größere Partyareale bilden. Die Bandmitglieder baden abwechselnd in der Menge oder zelebrieren an einen Balztanz erinnernde Manöver auf der Bühne. Das Rock am Ring wird zu einer sich selbst feiernden Einheit. Überwältigend! Måneskin sind der Headliner vom Rock am Ring, echt jetzt? Echt jetzt! Absolut verdient.
Manche goutieren Darker Still noch mit irritiertem Gaumen, doch bei einer Parkway Drive Show sind sich weiterhin alle einig: Live sind die Australier ein Ungetüm, ein unglaublich harter Brecher voll ursprünglicher Power und noch mehr Pyro. Dazu unser Fotograf Sandro: „Was soll ich sagen, Parkway Drive, die reißen die Bühne nieder.“ Obwohl die nahezu komplett in Flammen steht, klagt Fronter Winston McCall über die eisigen Temperaturen zur Geisterstunde, die seiner Stimme zu schaffen machen. Gemerkt hat das kaum jemand. Wer vor der Mandora Stage mit akrobatischen Ansporn zur Hitparade von Parkway Drive abgeht, dürfte nun ohnehin mit einer robusten Kältetoleranz gesegnet sein.
Es ist so kalt, dass es sogar Ice-T gibt. Nach diesem phänomenalen Wortspiel drehen wir die Temperatur wieder hoch, denn ihr solltet jetzt Wärme spüren. Die hat es unserem Sandro beim Auftritt von Body Count durchs Herz gepumpt. Denn die Crossover-Thrasher sind nicht nur Pioniere ihres Genres, sondern die Helden seiner Jugend. Warm ums Herz wurde es auch all jenen, die mit dem letzten Act des Rock am Ring 2024 nochmal alle Reserven aktivierten. Ziemlich was los bei Body Count, die mit Body Count’s in the House loslegen. Als wenn das niemand wüsste. Die Luft brennt. Danach das Slayer-Cover Raining Blood. Sind die irre? Menschen schnappen nach Luft, damit sie noch lauter Schreien können und jubeln den älteren Herren auf der Bühne zu, die nochmal alles von den Ringrocker:innen fordern. Keine Zeit für Stillstand, Pedal volle Pulle durchgedrückt. Frontman Ice-T schüttelt seine 66 Jahre einfach ab und kann zudem auf rappende Unterstützung von Sohn Little Ice zählen, der dort Bewegung auf die Bühne bringt, wo sich die seniorigen Bandmates darauf beschränken, auf die Instrumente einzudreschen. Das ist als Kompliment gemeint. Ice-T hat übrigens den ganzen Familienclan dabei und holt die achtjährige Tochter auch mal auf die Bühne. Fun Fact: Töchterchen Chanel Nicole hat über 400 Tausend Follower auf Insta. Zurück zu Body Count, die dem Rock am Ring professionell die Fresse polieren, unter anderem mit der neuen Single Psychopath und vielen derben Klassikern. Beträchtliches Brett.
Im kommenden Jahr feiert das Rock am Ring 40-jähriges Jubiläum. Die Veranstalter haben wie oben berichtet bereits Slipknot als ersten Headliner bestätigt. Darüber hinaus darf sich das Publikum bei Rock am Ring auf rund 100 Acts und eine vierte Bühne freuen. Der Vorverkauf hat bereits begonnen. In den ersten 24 Stunden waren bereits über 30.000 Tickets weg, so die Veranstalter.
Erst mit einem Klick auf das Vorschaubild wird das Video von YouTube eingebunden. Klicke nur, wenn du der Datenschutzerklärung zustimmst.
Die komplette Galerie vom Sonntag gibt es hier:
Hier gibt es den Bericht vom Freitag:
Hier gibt es den Bericht vom Samstag:
Weblinks Rock am Ring:
Homepage: https://www.rock-am-ring.com/
Instagram: https://www.instagram.com/rockamringofficial
Facebook: https://www.facebook.com/rockamring