Es ist vollbracht – die Zweite Jugend hat ihr drittes Studioalbum veröffentlicht. Nach ihren Longplayern Liebe ist Luxus (2016) und Elektronische Körpermusik (2019) begannen Eli van Vegas und Marcel Lüke zwar bereits im Herbst 2020 mit den Arbeiten für ihren nächsten Silberling, doch ihre Fans mussten noch ein wenig Durchhaltevermögen beweisen. Gut Ding will schließlich Weile haben. Zu Beginn dieses Jahres trat Eli dann zudem als Herausgeber für ein 602 Seiten starkes Buch über die EBM-Szene in Erscheinung. Gemeinsam mit zwei Autoren entstand das allererste Buch über dieses Genre und die dazugehörige Subkultur. 3 Jahre intensiver Arbeit führten zu 11 Kapiteln, 230 Fotos, über 100 beteiligten Personen und über 800 genannten Bands im Werk Elektronische Körpermusik. Dabei war Eli für Design und Layout zuständig und hat auch ein eigenes Kapitel beigesteuert. Nachdem das Taschenbuch im April erschienen ist, galt es dann das eigene Musikalbum zu finalisieren und ein Presswerk zu finden, das tatsächlich freie Kapazitäten hat und der Veröffentlichung nicht weiter im Wege stand. Der dazugehörige Titel war bereits seit langem bekannt: Der Wille zur Nacht. Inspiriert vom freien Denker Friedrich Nietzsche und seinem Konzept der “Wille zur Macht”. Beschäftigen sich Eli und Marcel mit seiner Sicht auf die ewigen Kreisläufe, die das “Rad des Seins” aktiv halten:
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt. Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, drittes Buch, der Genesende
Leben und Tod, Entstehen und Vergehen, Lust und Schmerz – diese Urkräfte waren für Nietzsche maßgeblich. Eli und Marcel hinterfragen dies und spinnen den Faden weiter:
Was aber, wenn dies ein Ungleichgewicht darstellt und das Vergehen der Dinge das Entstehen neuer Dinge erst bedingt? Wo ist da der Anfang und wo das Ende? Gibt es sie? Wenn nicht, warum geht man von einem Urknall aus? Sind wir nur ein Teil des großen Ganzen? Oder Figuren in einer Simulation?
Textlich und musikalisch befasst sich die Zweite Jugend also auf ihrem Neuling mit diesem großen Thema. Dabei kommen sie keineswegs von ihrem ursprünglich eingeschlagenen Weg ab, ihre Musik weiterhin minimalistisch zu gestalten und sämtliche Klänge analog zu erschaffen. Kleine Sequenzen erinnern dabei nach wie vor an DAF oder die Krupps. Aus dem Willen zur Macht wurde also für die Zweite Jugend der Wille zur Nacht. Wir leben in einer fordernden Zeit. Kriege und Naturkatastrophen mehren sich und genau hier beschert uns dieses Album Licht u Schatten. Wenn wir uns darauf einlassen, rüttelt es uns wach und vielleicht vermag es zumindest die eigene Welt ein stückweit besser zu machen. Hören wir doch mal rein:
Nahezu sirenenartig wird die Herbstsonate eingeleitet. Im Gegensatz zu diesem speziellen Geräusch, das sogleich das innere Stresslevel ansteigen lässt, beginnen dann die ersten Töne betont langsam. Glücklicherweise legt sich dann aber ein wohltuender Klangteppich über das Geschehen. Auch der Herbst kommt gern ungewollt und kündigt sich ohne Vorwarnung an. Innerlich wehrt man sich noch dagegen, die wärmenden Sommermonate hinter sich zu lassen und sich von der kühlen und vor allem dunklen Jahreszeit auf eine gewisse Art einengen zu lassen. Doch ebenso, wie die Natur hier den Rückzug antritt, liegt es auch an uns, es ruhiger angehen zu lassen. Die Jahreszeiten so zu akzeptieren, wie sie sind und sich den Gegebenheiten mit wohltuenden Ritualen anzupassen. Der Song groovt einen ganz wunderbar auf diesen Longplayer ein und regt zum Nachdenken an – stellt euch dazu gern direkt eine Kanne eures Lieblingstees bereit. So lässt sich der Albumeinstieg besonders wohltuend zelebrieren.
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Folgend geht es tief hinab in die inneren Untergründe: Absoluter Nullpunkt. Moment, aber diese Melodie ist doch so lieblich und munter… Man spürt fast, wie die einstigen Sterne funkelnd am Himmel leuchteten. Einst? Aber ja! Diese sind längst Geschichte. Jegliche Wärme ebenfalls. Der rote Faden macht sich auch hier bemerkbar. Kontraste – Gegenpole. Darum geht es auf diesem Silberling. Gewöhnt euch also direkt daran. Eli und Marcel gelingt es mühelos, mit Unterschieden zu jonglieren und diese gegeneinander auszuloten. Ernst erhebt Eli seine Stimme: “Stillstand, nichts bewegt sich! Stillstand, Null Kelvin!” Wenn alles gleich ist – kann es dann noch Kriege geben? Diese Frage muss man sich schon selbst beantworten. Aber auch hier werden spannende Gedankenanstöße gegeben.
Die Reminiszenz lässt einen betrübt zurück. Hier fragt man sich, was aus einer längst vergangenen Liebe wurde. In einem Moment der schmerzenden Sehnsucht ist plötzlich alles wieder präsent – der Geruch, der Geschmack. Alles scheint wieder greifbar nahe zu sein und man verfängt sich in einer Schleife der Melancholie.
Auf zum Titeltrack: Der Wille zur Nacht beginnt getragen. Elis erhobenen Finger kann man geradezu vor sich sehen, während er deutlich darum bittet einfach loszulassen. Denn alles was einst entsteht, wird auch vergehen. Klirrende Elemente und Geräusche, die an einen Störsender erinnern, gesellen sich hinzu. Wenn ohnehin alles vergänglich ist, lohnt es sich dann überhaupt, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, intensiv zu leben? Oder – wenn es um Gegensätze geht: gerade dann?! 😉
Einer muss gehen bauscht sich klanglich herrlich auf. Die gesprochenen Worte werden von einem ungewohnten Sound nachgeahmt. Dieser Effekt lässt den Track außerordentlich skurril und amüsant zugleich wirken. Eine kleine Spielerei tut ihr Übriges. In den Lyrics vermag man jemanden auszusieben. Wenn man sich einfach nicht einigen kann, muss halt jemand weichen. Nachdem die Stimmung bedrohlich ansteigt – wie dies in einem Streit auch der Fall ist – wird Elis Stimme gegen Ende sanfter und leiser. Wurde diese unangenehme Konfrontation etwa aufgelöst?
Ein teils dumpf klingendes Drumming begegnet uns in Mittelgrau. Ein zackiger Track, der einen keinen Moment stillstehen lässt. Thematisch wird hier nahezu alles, was einem im Alltag begegnet für grau erklärt. Ob es sich um die Liebe, das Essen, die Häuser oder die Arbeit handelt. Alles erscheint einem manchmal ziemlich trist und gleich. Und doch wird diese Gemeinsamkeit als “wunderschönes Mittelgrau” bezeichnet.
Liebe für alle ist gemeinsam mit Martin Bodewell von Orange Sector entstanden. Zusammen machen sich die Jungs für eine bedeutende Botschaft stark.
Liebe ist unendlich, Lebenselixier und Sinn des Lebens, vor allem bedingungslos. Alle haben sie sich verdient. Wirklich alle? Sie sollte selbstverständlich sein. Dennoch ist sie in Gefahr. In kaum einer anderen Zeit der Menschheitsgeschichte war der Mythos um die Liebe widersprüchlicher und zerrissener im Bewusstsein der Gesellschaft präsent.
Statt auf Verständnis trifft man leider nach wie vor oftmals auf Irritation und Ablehnung. Es ist jedoch an der Zeit, dass sich die Menschen an Liebende gewöhnen und sie sich für diese freuen können – egal um welche Konstellation es sich dabei handelt. Um diese klare Forderung zu unterstreichen, erschien der Song auch bereits als Single – mit gleich sieben verschiedenen Mixen von Künstlern, die sich ebenfalls dieser wichtigen Message verschrieben haben. Metallische Klänge treffen auf einen fulminantes Soundgewand – im Hintergrund fügen sich weitere kleine Klangspielereien hinzu. Diese Single wird unausweichlich ihren Weg zu den Tanzflächen der Clubs aufnehmen und gemeinschaftlich wird man dazu hoffentlich nicht nur munter das Tanzbein schwingen, sondern auch die Liebe für alle zelebrieren und etablieren.
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Quirlig kommt Das Totem daher. Hier wird der innere Kampf mit der Akzeptanz einer einstige Liebe thematisiert. Verzweiflung macht sich breit. Auch wenn völlig klar ist – diese Beziehung tut einem nicht gut… innerlich Abstand zu nehmen, kann einen vor eine echte Herausforderung stellen. Wie ein Totem wird die Person nach wie vor hingebungsvoll verehrt. Zumindest, bis die Vernunft wieder einsetzt und das Ruder übernimmt. Es gilt endlich loszulassen und den anderen Menschen freizugeben, doch leider gelingt dies nur schwerlich, wenn Herz und Verstand noch heftigst miteinander duellieren.
Frivol geht es im Lichtspielhaus zu. Ein unausweichliches Spiel der Begierde nimmt seinen Lauf. Licht und Schatten vereinen sich und der eigentliche Film auf der Leinwand wird zur Nebensache. In der Hauptrolle stehen stattdessen wandernde Hände, steigendes Verlangen und schließlich ein Vereinen der Körper. Romantisches Sternenlicht, schummriger Kerzenschein und betörender Rotwein sind Teil des Rendezvous. Dieses findet jedoch imaginär in einer “fernen Welt” statt. In diesem Raum, zu dieser Zeit scheint dieser Wunsch allein eine intensive, aber reine Illusion zu sein.
Aufwind bringt der folgende Song: Morgen geht die Sonne auf. Mit beschwingter Leichtigkeit reihen sich Nacht und Tag aneinander. Noch einmal schmiegt man sich aneinander, bevor alles von vorn beginnt. Mit dem Closer Ad Astra reisen wir final ins Universum. Elis Stimme hat einen bitteren Unterton. Vergänglichkeit steht über allem. Die Klänge verdunkeln sich. “Mein Abschied ist für alle Tage. Mein Abschied ist für alle Zeit. Wohin ich gehe ist, woher ich komme.” Und doch schwingt Hoffnung mit – auch der Sound hat hellere Augenblicke inne. “Und wenn du mich suchst, wirst du mich finden.” Schließlich können Liebe und Hoffnung unendlich sein. Ein Blick zu den Sternen wird sich als hilfreich erweisen.
Ist euch eigentlich das Cover aufgefallen? In einer sternenklaren Nacht vereint es Licht und Schatten, Helligkeit und Finsternis, zugleich steht es für ein Gegenübertreten aber auch für Verschmelzung. Sehen wir Planeten mit einem leuchtenden Schweif oder doch Eizellen, die von einem Samen durchdrungen wurden? Lasst eure Gedanken dazu gern wandern. Das gesamte Album lädt dazu ein, eigene Standpunkte zu überprüfen und diese gar zu überdenken. Die reduziert gestalteten Tracks lassen allerlei Raum für die eigene Fantasie, stupsen Gedankenspiele an und wirken dabei äußerst inspirierend. Natürlich darf man bei dieser feinen EBM-Scheibe aber auch einfach mal abschalten und dazu abfeiern. Denn auch dieser Gegensatz wird erlaubt, wenn nicht gar gewünscht sein. Für uns stellt das neue Album eine klare Weiterentwicklung des Duos dar – “Hoch die Tassen! Auf die Jugend!”
Der Wille zur Nacht erschien am 13.10.2023 via BRANDSATZ Records. Ihr erhaltet das neue Werk auf CD, als limitierten Digipack (500 Exemplare), als 12″ Vinyl (200 Kopien) oder bei allen gängigen Streaming-Diensten.
Tracklist ZWEITE JUGEND – Der Wille zur Nacht
01. Herbstsonate
02. Absoluter Nullpunkt
03. Reminiszenz
04. Der Wille zur Nacht
05. Einer muss gehen
06. Mittelgrau
07. Liebe für alle (feat. Martin Bodewell)
08. Das Totem
09. Lichtspielhaus
10. Rendezvous
11. Morgen geht die Sonne auf
12. Ad Astra
Wer die neuen Tracks auch gleich live und in Farbe erleben möchte, muss sich gar nicht lange gedulden, denn schon bald begibt sich die Zweite Jugend erneut auf Tour:
Termine Zweite Jugend:
22.12.2023 Oberhausen, Stiefelfest, Kulttempel
20.01.2024 Hannover, Subkultur
10.02.2024 Nürnberg, EBM Blast 2, Der Cult
05./06.7.2024 Halle/Saale, Eastside Festival, Karlsbad
To be continued…
Weblinks ZWEITE JUGEND:
Homepage: http://www.zweitejugend.de/
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Instagram: https://www.instagram.com/zweitejugend