Es war ein Schock für die Electro-Industrial-Szene: Im Januar 2018 verstarb Jeremy Inkel völlig überraschend an Komplikationen durch Asthma. Der Musiker, der sich durch die Bands Left Spine Down und allen voran Front Line Assembly, bei denen er ab der 2006er-Platte Artifical Soldier live wie auch im Studio vieles beitrug, einen Namen machte, wurde nur 34 Jahre alt. In den Jahren seines Mitwirkens war er für sein energiegeladenes und extrovertiertes Auftreten bekannt – daher überrascht es wenig, dass der Sound auf dem nun posthum veröffentlichten Soloalbum Hijacker eher nichts für Lounges und Sektfrühstück-Umgebungen ist.
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Länger als anderthalb Stunden liefert der Kanadier hier überwiegend Musik, die wohl am ehesten in die Kategorie “Tech-House” einzuordnen ist. Deftige Beats, knarzende Basslines, manchmal flächige Synths, manchmal verspielte Acid-Sounds – dass der Promotext den DJ und Produzenten Stephan Bodzin als Inspirationsquelle nennt, verwundert nicht. Insgesamt ein Sound, der eher in den Technoclub gehört als in die Gothdisko (so denn beides irgendwann wieder öffnen darf).
Auffällig ist auch der fast vollständige Verzicht auf Vocals, lediglich in manchen Tracks sind repetitive Samples zu hören. Eigentlich schade, mögen insbesondere FLA-Fans denken, wohnte Inkels Backgroundgesang bei früheren Konzerten doch immer ordentlich Power inne. Generell hätten ein paar Gesangsparts der doch sehr langen Platte nicht geschadet. Einige der Tracks, von denen zwei sogar die Zehn-Minuten-Grenze knacken, geraten doch arg monoton, was es zur Geduldsprobe macht, Hijacker am Stück durchzuhören.
Einige Stücke stechen aber doch hervor. Da wäre zunächst Haunted House, mit unter drei Minuten der mit Abstand kürzeste Track. Hier probiert sich Inkel als Dark-Ambient-Produzent – und das klingt erfreulich schaurig-schön. Sicherlich etwas mit Potenzial für gewisse morbid angelegte Film- oder Videospielsoundtracks. Das folgende Lucid pumpt mit dicken Dubstep-Beats nach vorne und erinnert dabei durchaus an die Phase Front Line Assemblys Mitte der 2000er-Jahre, in denen Bill Leeb sich verstärkt in diesem Genre austobte. Und so ganz ungewohnt fröhlich – Parookaville-Gänger würden das Wort “uplifting” benutzen – ballert WAYVY nach vorne. Definitiv eines der beiden druckvollsten Lieder. Und das zweite kommt direkt hinterher – gehört aber nun wirklich in einen vernebelten dunklen Technoclub. Das hämmernde Dig entführt den Raver in eine regelrechte Tribal-Hölle. Da kommen wohlige Erinnerungen an den Klassiker Trommelmaschine von Der Dritte Raum aus dem Jahr 1996 auf.
Hijacker ist großartig fett und auf den Punkt produziert und zeigt, dass Jeremy Inkel sein Handwerk als Produzent funktionaler elektronischer Clubmusik absolut verstand. Schade, dass es nie mehr zu weiteren Arbeiten aus seiner Feder kommen wird. Ein Teil des Erlöses aus jedem Verkauf von CD, LP oder Downloads wird übrigens an die Wohltätigkeitsorganisation Vancouver Food Bank gespendet. Auch FLA-Fans dürfen gerne ein Ohr riskieren – wenngleich der Stil hier doch vom Trademark des Duos Leeb-Fulber deutlich abweicht. Aber auch wer mit Inkel einzigem Soloalbum nicht so viel anfangen kann, muss sich nicht grämen – schon am 15. Januar 2021 erscheint schließlich das neue Front-Line-Assembly-Album Mechanical Soul.
DIE KRUPPS / FRONT LINE ASSEMBLY – Krefeld, Kulturfabrik (22.08.2018)
Tracklist JEREMY INKEL – Hijacker
01. Embrace
02. House Party On Day 2
03. Robot Bitches
04. Hypnotized
05. Haunted House
06. Lucid
07. She Wore Blue Lipstick
08. I Don’t Need Your Money
09. WAYVY
10. Dig
11. Small Towns Bad Decision
12. Take That
13. Bounce