Traditionelle Überlieferung im elektromagnetischen Feld.
Das dritte Studioalbum der dänischen Musikerin, Multi-Instrumentalistin und Produzentin Amalie Bruun, die sich namentlich hinter dem Projekt Myrkur verbirgt, geht in eine Richtung, die wir bis dato nicht mit ihr verbunden haben. Das kann schon das Cover von Folkesange nicht verhehlen. Hier sehen wir eine junge Frau, die barfüßig, völlig absorbiert von ihrer Handarbeit vor einer malerisch sommerlichen Bergkulisse durch frisches Gras geht. Sie trägt strenge Zöpfe, einen bäuerlichen Holzeimer und skandinavische Tracht. Das Bild zeugt von so viel weichgezeichneter und sonnendurchfluteter Heimatverbundenheit, spontan bekommt man das Gefühl hier beim Urheber des Ganzen den vermeintlich hellen Zwilling von Theodor Kittelsen (1857-1914) vor Augen zu haben. Der steht ja sonst mit seinen märchenhaft düsteren Zeichnungen gern mal Pate für das eine oder andere Artwork im Black Metal.
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Tatsächlich stammt das Gemälde, das für Folkesange verwendet wurde, von einem anderen norwegischen Maler: Hans Dahl (1849-1937). Dahl galt als sehr, sehr (sehr, sehr) später und äußerst konservativer Vertreter der Romantik. Das war vor allem dem Umstand geschuldet, dass er beinahe störrisch an dieser Kunstform festhielt und sich innovativeren Strömungen, wie beispielsweise jener der Moderne oder des Realismus verweigerte. Im Laufe seines Schaffens verengte sich sein künstlerischer Fokus so sehr, dass er praktisch nur noch Mädchen in Landschaften malte, und zwar gleich dutzendfach. Dafür war er aber Duz-Kumpel von Kaiser Wilhelm II. (1859-1941), der neben den pittoresk-schwülstigen Schinken wohl auch die politische Einstellung Dahls sehr zu schätzen wusste. Unsere Erinnerung an Hans Dahl wird vor allem durch diese Freundschaft dominiert und nicht etwa dadurch, dass er die Kunstlandschaft Norwegens nachhaltig prägte.
Kommen wir zu Amalie Bruun, die gleich einmal vorausschickt, sich eben für jenes Gemälde entschieden zu haben, da sie sich familiär stark damit verbunden fühlt. Folkesange ist wie erwähnt anders als ihre bisherigen Veröffentlichungen, die deutlich im Black Metal verortet sind. Ihr letztes Album Mareridt (2017) wies mit seinem düsteren Naturmystizismus auch einen folkigen Einschlag auf, bewegt sich jedoch im Bereich Amtospheric Black Metal. Album Nummer drei hingegen ist ein reines traditionelles Folk-Album. Die Geburt ihres Kindes veranlasste die Künstlerin, in ihre Vergangenheit zu schauen, nach musikalisch prägenden Einflüsse zu suchen und diese zu beleben. Sie greift in Folkesange alte Weisen auf, alte Volkslieder und Mythen, bewahrt ihren Spirit, haucht ihnen aber auch durch viel Fingerspitzengefühl in Hinblick auf musikalische Arrangements neues Leben ein.
Die Maxime, Künstler:in vom Werk zu trennen
Das Album wird somit auch zu einem Werk spirituell aufgeladener Ahn:innenverehrung und damit leider auch zu einem einseitig quasi-pagan-naturreligiösem Verständnis davon; ganz im Sinne eines konservativen Zeitgeistes. So kann man vor diesen Überlegungen durchaus Amalie Bruuns vereinzelte anti-islamische (ja, rassistische) Äußerungen (inklusive ungelenkem Zurückrudern) und ihre merkwürdigen Einlassungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter zum Weltfrauentag mitdenken, die mich weniger an Solidarität sondern eher an Birgit Kelle erinnert haben, wenn man mit so viel traditionellem Liedgut, Bildmaterial und Mutterschaft konfrontiert ist. Man muss es aber nicht, vor allem, wenn man sich an die Maxime hält, Künstler:in vom Werk zu trennen.
Myrkur zeigt bei ihrer Auseinandersetzung mit den historischen Stoffen trotz allem ein tiefes Verständnis für ihre Funktionsweise, sehr viel Achtung und gegenüber der Art der Überlieferung die notwendigen Kenntnisse. So nutzt sie für die Arrangements eine beachtliche Bandbreite traditioneller Instrumente und setzt sie glasklar in Szene. Ihre eigene Stimme übernimmt die zentrale Funktion der Geschichtenerzählerin im Reigen des einfachen Wortes, der tänzerischen, repetitiven Erzählweise vor dem Hintergrund der mündlichen intergenerationalen Weitergabe. Sie fließt, sie überträgt sich auf unseren Herzschlag, sie umsorgt uns, sie ist klar und rein wie das Wasser und prägt sich uns ein, wie das Mantra des Jahreslaufs. Trotzdem wirkt Folkesange nicht angestaubt. Myrkur gelingt es durch spezielle Aufnahmetechniken und das Arbeiten mit Hall, Überformungen und wohltuenden Drones die Lieder in unsere Zeit zu holen, ohne sich dieser anzubiedern. Folkesange ist traditionelle Überlieferung im elektromagnetischen Feld. Es ist handwerklich zweifelsohne ein wunderschönes Album.
Und doch sehe ich ein Problem am fernen sonnendurchfluteten Horizont der schroffen Fjorde. Folkesange ist identitätsbewahrend, aber nicht identitätsstiftend. Womit sich der Kreis zu Hans Dahl und dem Cover-Artwork schließt. Denn Folkesange wird künstlerisch wahrscheinlich keine tiefen Fußabdrücke hinterlassen.
Folkesange erscheint am 20. März bei Relapse Records.
Anspieltipps: Ella, Leaves of Yggdrasil, Vinter
Tracklist MYRKUR – Folkesange:
01. Ella
02. Fager som en Ros
03. Leaves of Yggdrasil
04. Ramund
05. Tor i Helheim
06. Svea
07. Harpens Kraft
08. Gammelkäring
09. Hous Carpenter
10. Reiar
11. Gudernes Vilje
12. Vinter
Weblinks MYRKUR:
Official: https://www.myrkurmusic.com
Facebook: https://www.facebook.com/myrkurmyrkur
Bandcamp: https://myrkur.bandcamp.com
Instagram: https://www.instagram.com/myrkurmyrkur
Label: https://store.relapse.com/b/myrkur