Alles wird Amphi – die 17.! Zwei Tage vor dem Beginn des alljährlichen Schwarze-Szene-Treffs am Kölner Tanzbrunnen ließ eine Nachricht weitere Vorfreude aufkeimen. Die MSRheinEnergie, Schauplatz der dritten Bühne (Orbit Stage) kann entgegen der noch drei Tage zuvor getätigten Aussage doch direkt am Tanzbrunnen und nicht auf der rund 20 bis 25 Fußminuten entfernten anderen Rheinseite anlegen. Da hatten die kräftigen wie konstanten Regenfälle, die die Rhein-Ruhr-Region nun schon seit zwei Wochen nerven, also doch etwas Gutes, denn der Rheinpegel stieg auf die nötige Höhe. Schon am Freitag ließen sich knapp 1300 Fans beim Eröffnungsevent Call The Ship To Port von Diary of Dreams, [:SITD:] und Rroyce bespaßen. Wer dort oder auf einer der Pre-Partys kräftig feierte, schaffte es vielleicht nicht rechtzeitig um 11 Uhr zum Festivalopener Synthattack. Als Wachmacher eignete sich der Hellectro allerdings bestens. Neben dem Faible für aggressiven düsteren Stromsound scheint das Duo aber auch Freude an den großen Hits der 90er zu haben – so erklangen im Liveset Eigeninterpretationen von Faithless’ Insomnia und Culture Beats Mr.Vain (Call Me Insane). Das Publikum vor der Bühne tauschte sich dann einmal fast komplett aus. Weiter weg von Synthattack könnten A Life Divided stilistisch wohl kaum sein. Die Gruppe um Eisbrecher-Gitarrist Jürgen Plangger ist eher im melodischen Dark-Rock-Bereich zu verorten und konnte die Chance, das erst ganz frisch veröffentlichte Album Down The Spiral Of A Soul vorzustellen, trefflich nutzen. Am Ende holten sie mit dem Real-Life-Cover Send Me An Angel auch noch die 80er-Fraktion ab – eine runde Sache.
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Damit aber nicht genug der Eisbrecher-Mitglieder: Alex Wesselsky spielte zum zweiten Mal nach 2013 ein ganz besonderes Set auf dem Amphi. Dieses bestand ausnahmslos aus Songs seiner alten Band Megaherz, die er 2003 verließ. Dass ihm diese Uhrzeit für einen Festivalauftritt ungewohnt früh erscheint, erklärte der charismatische Frontmann dann auch recht bald. Wenig verwunderlich, spielt er mit Eisbrecher doch seit geraumer Zeit eigentlich nur noch Headliner-Slots. Hundertprozentig saßen die lange nicht live gesungenen Lyrics allerdings nicht. Zu Kopfschuss holte er Kult-Roadie Dodo auf die Bühne – Eisbrecher-Fans kennen das Spielchen -, der sich mit einem Textblatt auf den Boden hockte. Das Publikum verfolgte es amüsiert und reckte die Fäuste in die Luft – “BANG, BANG, Kopfschuss!!!” Es war für treue Fans des Neue Deutsche Härte-Genres sicher ein Erlebnis, Songs wie 5. März, Himmelfahrt, Freiflug oder eben erwähntes Kopfschuss nochmal mit der Originalstimme zu hören. Da konnte man es auch verschmerzen, dass das legendäre Miststück diesmal draußen blieb. Wesselsky verabschiedete sich mit der Ankündigung “Wir sehen uns in zehn Jahren wieder – oder doch ganz bald“. Ob er damit die Eisbrecher-Tour 2024 meinte, die mit einem Banner auf dem Festivalgelände exklusiv vorangekündigt wurde? Oder geht es mit dem Wesselsky-Megaherz-Projekt vielleicht mal auf Clubtour? Abwarten und Met trinken – letzteres kann man auf der “Insel” am Tanzbrunnen beim Amphi bekanntlich ganz vortrefflich.
Wiederum ein klares Kontrastprogramm gab es zur Eröffnung im Theater mit Xotox. Zum Ende des Sets sorgte das Rhythm&Noise-Projekt von Andreas Davids aber für allgemeine Erheiterung – mit einer ureigenen Fassung des Synthpop-Pionierstücks Popcorn. Sofern man sich dann nicht auf den Weg aufs Schiff machte, wo die Lokalmatadoren Rabengott und die Wiener Gothrocker Whispers In The Shadow mit gitarrendominiertem sowie Selofan und Clan of Xymox mit traditionellem Goth-/Batcave-Sound verzückten, blieb der Nachmittag sehr elektronisch geprägt. S.P.O.C.K entführten ihre Fans mit Astrogirl, She’s An Alien und weiteren fröhlich-tanzbaren Stücken ins Weltall, der Härtegrad im Theater stieg mit Vanguard, dann Future Lied To Us und letztlich Centhron immer weiter an. Das jeweils vor vollem Haus, auch weil der einsetzende Regen viele Anwesende ins Trockene trieb. Wer draußen blieb, konnte Das Ich lauschen. Der in der Vergangenheit von schwereren gesundheitlichen Problemen geplagte Stefan Ackermann wirkte erfreulich fit und brachte viel Energie. Zum ewigen Szenehit Destillat stieg der Frontmann gar zu den Fans in Reihe eins hinab, während Bruno Kramm mit seinem fahrbaren Keyboardständer für ordentlich Gewusel auf der Bühne sorgte. Laut eigenen Angaben arbeitet die Band “mit Hochdruck an einem neuen Album” – an der Zeit wäre es mal wieder.
Genau wie bei Covenant, deren bis dato letzte Studioplatte (die Fieldworks-EP lassen wir mal außen vor) The Blinding Dark 2016 erschien. Den Auftritt beim diesjährigen Amphi dürften viele Fans in gemischter Erinnerung behalten. Die Akustik war auf Höhe des Mischpultes überragend, die stimmliche Performance von Sänger Eskil Simonsson eher nicht. Der fummelte ständig an seinem In-Ear herum, es gab wohl gehörige (sorry für das Wortspiel) technische Probleme. In Sachen Setlist griffen Covenant aber erfreulich tief in die Kiste. Songs wie Judge Of My Domain oder Invisible & Silent waren in jüngerer Vergangenheit selbst bei Headlinershows der Gruppe wahrlich keine Standards. Nahezu zeitgleich kam es im Theater zu einer Sensation, die wohl kaum noch jemand für möglich gehalten hatte. Calva Y Nada spielten ihr erstes Konzert seit 25 Jahren. Und was soll man sagen? Das war eine fulminante Rückkehr, die Stimmung war euphorisch. Constantin Warter präsentierte gar ein neues Stück – oder sagen wir besser Snippet. Auf einem recht minimalen Beat sang der unter dem Künstlernamen Breñal agierende Frontmann die Textzeilen “Deutschland, Deutschland aufgewacht! Die braune Soße hat man blau gemacht“, lakonisch kommentiert mit dem Satz “Das ist das Einzige, was ich in den letzten 25 Jahren zustande gebracht habe“. Ein für das Festival recht ungewohntes politisches Statement, das von den Fans genauso gefeiert wurde wie 90er-Clubhits der Güteklasse Rascheln oder Der Sturm. Ob das der Startschuss für ein dauerhaftes Comeback des schmerzlich vermissten Dark-Electro-Projekts war? Die Hoffnung bleibt, denn Constantin ließ das Publikum mit den Worten “Eigentlich müssen wir das nochmal machen” zurück. Widersprechen mochte ihm nach dieser Performance, die sämtliche Fotografen dank extrem wenig Licht zur Verzweiflung gebracht haben dürfte, wohl niemand.
Nicht ganz so “weg”, aber doch nur sporadisch aktiv, sind Zeraphine seit vielen Jahren, wohl vor allem “dank” Sven Friedrichs aktueller Hauptband Solar Fake. Neue Songs sind laut dem Frontmann weiterhin nicht geplant, für einen schönen Abend mit älteren Stücken wie Lieber allein sind die Dark-Rocker aber auf jeden Fall gut. Vielleicht kommt es ja irgendwann doch zum großen Comeback mit neuen Songs – wer weiß? Und das eint Zeraphine bei allen stilistischen Unterschieden mit Front 242. Die EBM-Altmeister haben seit 2020 die unveröffentlichten Titel Fix It, Generator und Deeply Asleep im Live-Programm, wobei letzteres aus Zeitgründen diesmal wegfiel. Gerade von Fix It hätten die Fans der belgischen Pioniere sicher gern endlich eine fertige Studiofassung, schließt das äußerst treibende Stück doch nahtlos an die großen Körpermusik-Hits der 80er-Jahre an. Die gabs erneut reichlich: “You like the body – move the body!“, wie es im Opener First In / First Out heißt, war in jedem Fall das passende Motto. Mittlerweile ist man als 242-Anhänger aber dazu angehalten, jeden Auftritt umso mehr zu genießen, die Gerüchte um ein baldiges endgültiges Ende der Formation wollen nicht abreißen. Covenant-Frontmann Eskil postete im Anschluss an den Abend ein Foto von sich und Front 242, mit dem Kommentar “Habe sie endlich um ein gemeinsames Foto gebeten, in den Wissen, dass es das letzte Mal gewesen sein könnte.” Hoffentlich bestätigt sich seine Befürchtung nicht. Denn spätestens beim lautstarken “Hey poor, you don’t have to be poor anymore“-Chor zum Abschluss bei Welcome To Paradise müsste jedem Anwesenden bewusst geworden sein, was da fehlen wird, wenn es eines Tages zu Ende geht. Jedenfalls vereinten Front 242 offensichtlich die meisten Bandshirt-Träger des Tages auf sich. Ebenfalls stark präsent waren Textilien von Lebanon Hanover – der Cold-Wave-Sound von Larissa Iceglass und William Maybelline holt Jahr für Jahr mehr Fans ab, spricht auch ein jüngeres Publikum als viele andere Acts an und hätte in nicht allzu ferner Zukunft auch einen Headliner-Slot auf dem größeren Hauptgelände am Tanzbrunnen verdient. Proppevoll war es auf der Orbit Stage – und das sorgte bei vielen für Frust, die eine gute Stunde (teilweise vergeblich) am Rheinufer Schlange standen, um die anschließenden Diorama sehen zu können, bei denen Sänger Torben Wendt diesmal besonders gut aufgelegt war.
Keine Kapazitätsbeschränkung gab es logischerweise bei Deine Lakaien an der Hauptbühne, die das erste Mal seit zwölf Jahren das Amphi mit ihrer Präsenz beehrten. Immer wieder ein besonders ohrenschmeichelndes Erlebnis, wenn die Horn-Veljanov-Kombination aufspielt – ob mit Coverversionen wie Because The Night und The Walk oder mit eigenen Klassikern wie Where You Are, Return oder dem abschließenden Love Me To The End. Wem eher nach Partystimmung war, wurde im Theater bedient, wo Welle:Erdball ihre Hörerinnen und Hörer empfingen. Wobei diese jäh unterbrochen wurde, als Sänger Hannes “Honey” Malecki mitten im Set um eine Schweigeminute für Tommi Stumpff bat. Der im Alter von 65 Jahren verstorbenen Deutschpunk- und EBM-Legende widmete die Hannoveraner Formation ihr Stück Das Original – eine schöne Geste mit schmerzlichem Hintergrund. Der Rest der Show? Einmal mehr ein wahres Feuerwerk, in dem Hits wie Arbeit adelt! und Ich bin nicht von dieser Welt mit Songs der aktuellen Sendung Film, Funk und Fernsehen sinnvoll gemischt wurden. Insbesondere Drogenexzess im Musikexpress macht mit seinen HI-NRG- und Italo-Disco-Einflüssen unfassbar viel Spaß. Mit dem bereits indirekt erwähnten Stephan-Remmler-Cover und der freundlichen Aufforderung, doch bitte am 9. September zum großen W:E-Jubiläumsfestival in der Oberhausener Turbinenhalle zu erscheinen, ging der erste Tag des 2023er-Amphis zu Ende. Zwölf Stunden voller Höhepunkte lagen hinter uns, nervig erschienen neben immer wieder auftretenden Regenschauern lediglich die wenig überraschend horrenden Verpflegungspreise (Beispiele: 10-12 Euro für einen Fleischspieß oder 5 Euro für eine Mini-Waffel mit Soße im Geschlechtsteil-Design) sowie die nicht enden wollende Schlange am offiziellen Festival-Merchandise-Stand. Ein Umstand, auf den viele auch auf den Amphi-Kanälen in den Sozialen Medien hinwiesen, ein zweiter Stand mit Festivalshirts auf dem Gelände würde 2024 wohl Wunder wirken. Insgesamt ging es allerdings mit wirklich guter Laune ins Bett – Kraft tanken für den zweiten Tag war angesagt!
02. Where You Are
03. Gone
04. Over and Done
05. Farewell
06. Because The Night
07. Dark Star
08. The Walk
09. Sick Cinema
10. Return
11. Because Of Because
12. Love Me To The End
02. Take One
03. Don’t Crash
04. Funkahdafi
05. Generator
06. Quite Unusual
07. Commando Mix
08. Red Team
09. Tragedy For You
10. Fix It
11. Headhunter
12. W.Y.H.I.W.Y.G./U-Men
13. Moldavia
14. Welcome To Paradise
02. Wir sind elektronisch
03. Ich bin nicht von dieser Welt
04. 23
05. Das letzte Hemd
06. Arbeit adelt!
07. 1000 Engel
08. Schweben, fliegen, fallen
09. Drogenexzess im Musikexpress
10. Das Original
11. Der Türspion
12. Starfighter F-104G
13. Mumien im Autokino
14. Monoton & Minimal
15. Feuerwerk
02. Die World II
03. Saddest Smile
04. Kiss Me Until My Lips Fall Off
05. Albatross
06. I Have A Crack
07. Gallowdance
08. Du scrollst
09. Totally Tot
10. The Last Thing
11. Babes Of The 80s
12. Come Kali Come
02. I Close My Eyes
03. Dead Stars
04. Prime Movers
05. Edge Of Dawn
06. Invisible & Silent
07. The Men
08. Judge Of My Domain
09. Ignorance & Bliss
10. Lightbringer
11. Call The Ships To Port
02. Astrogirl
03. In Space No One Can Hear You Scream
04. She’s An Alien
05. Out There
06. Star Pilot On Channel K
07. Never Trust A Klingon
02. Erkenntnis
03. Fuck You Very Much
04. Sla Tillbaka
05. Schwanengesang
06. Die neue Normalität
07. Ich funktioniere
08. Leben und Sterben für Musik aus Strom
09. Die Strömung der Welt
10. Sorgenkind
11. Popcorn
Den Artikel zum zweiten Tag findet Ihr übrigens hier! Weitere Bilder vom Samstag gibt’s hier und hier.