ROCK AM RING 2022 Tag 2 – Nürburgring, Nürburg (04.06.2022)

Fotos: Rock am Ring - Tag 2
Casper, © Cynthia Theisinger
Geschätzte Lesezeit: 6 Minute(n)

Auf Festivals sieht man jedes Jahr wieder die verschiedensten Kostüme, das ist auch beim Rock am Ring nicht anders. Am ersten Tag konnte man davon schon viele beobachten: Spiderman, die Schlümpfe, ein Bier, Pikachu, Teletubbies, glitzernde Einhörner, der gute alte Bauarbeiter mit Warnweste – aber ohne Helm – und noch viele weitere. Das beliebteste Kostüm am zweiten Tag ist jedoch eher unerwarteter Natur: Der Shrimp. Sonnencreme schafft es – aus eigener Erfahrung – nur selten auf die Packliste und wird meist genau dann nicht gebraucht. Entsprechend bildet heute die rote Haut das Gegenstück zum T-Shirt, oder ersetzt dies einfach direkt komplett.

Lass Dir den Beitrag vorlesen:

Also schnell noch die Running Order für den Tag auf eine übergroße Bierpappe geschrieben – man möchte sie ja nicht verlieren – und auf zum LIDL Rockstore, um dem doppelten Brand entgegenzuwirken. After Sun für den Körper und ein kühles Bier für, naja, selbigen. Und wenn man schon mal da ist, kann man auch gleich weiter ins Infield, schließlich stehen die ersten Bands schon auf der Bühne, sollte man bis Mittag geschlafen haben. 

So kann man dann direkt bei Boston Manor auf der Orbit Stage – welche passenderweise direkt am Haupteingang ist – vorbeischauen. Anders als wohl für die meisten im Publikum ist es das erste Konzert der Band seit drei Jahren. “This is the first time we are playing here, we always wanted that so thank you for having us”, sagt uns Sänger Henry Cox in einem kurzen Pausenmoment mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Die Energie, die sich die letzten Jahre angesammelt hat, wird während des Konzertes komplett freigesetzt, so macht es zumindest den Eindruck “I want the biggest, meanest circle pit Rock am Ring will see all day, can we do that?” werden wir gefragt und dieser Rekord sollte vorerst auch aufgestellt werden, die Konkurrenz an diesem Tag ist jedoch groß. Parallel auf der Utopia Stage könnte dieser Rekord auch schon wieder fallen…

… Denn dort sind die Sportfreunde Stiller auf der Bühne. Sportlich geht es direkt zum Ich, Roque her. Bewegung ist hier vorprogrammiert, ebenso wie das genaue Gegenteil. Zu Applaus, Applaus, New York, Rio Rosenheim oder Ein Kompliment werden eher die Feuerzeuge gezückt, bevor diese wieder schnell weggesteckt werden müssen. Die Sportfreunde zeigen ein Wechselbad ihrer Musik, wobei auch der Spaß nicht auf der Strecke bleibt. Erst gibt es ein Bier, dann will das Publikum selbiges auf Ex. Als Seitenhieb meint die Band, dass man auch ein Bier auf die Ex trinken kann. Oder diese auf die Schultern nehmen könnte, oder die aktuelle Freundin, oder die Frauen ihre Männer auf die Schultern… Es ist ein buntes durcheinander bei dem in jedem Fall jeder auf seine Kosten kommt.

Nach den Sportfreunden geht es für die Redaktion zum Sport. Schmutzki, Ice Nine Kills und Alligatoah. Alle Künstler spielen gleichzeitig. Da man sich jedoch nicht teilen kann, beginnt der Dauerlauf um möglichst viel von allen mitzubekommen. Los geht es bei Schmutzki auf der Orbit Stage. Hier ist es schwer sich zu entscheiden: Wo herrscht mehr Bewegung? Im Publikum oder bei der Zunge von Bassist Dany Horowitz? Die Zeit, um diese Frage final zu klären, haben wir leider nicht, jedoch wird, als wir gehen wollen (oder eher müssen), ein Schlauchboot in den Graben getragen. Wurden hier noch beide Dinge kombiniert?

Kaum an der Mandora Stage angekommen, ist der Name der Band auch schon Programm. Bei Ice Nine Kills rollen die Köpfe – und das nicht nur imaginär. Man könnte sagen, dass sich bei der Metalcore-Band alles um Horror Filme dreht. So sind eben nicht nur die Texte an jene angelehnt, sondern auch die Show. Die anfänglichen Masken scheinen fast noch nochmal, bis plötzlich jemand mit einer blutigen Axt oder einem Widderkopf inklusive Kettensäge auf der Bühne steht. So rollt dann auch der erste Kopf und wird dem Publikum präsentiert. Das Publikum dreht daraufhin durch – im positiven Sinne. Die Pit-Season ist gestartet und die schier endlosen Wellen an Crowdsurfern sorgen für viel Arbeit bei der Security. Auf der Bühne findet währenddessen mindestens genausoviel Bewegung statt. Sänger Spencer Charnas, inzwischen im klassischen gelben Regencape, könnte den heutigen Streckenrekord an Kilometern auf der Bühne aufgestellt haben. Als jedoch der Exorzismus auf der Bühne beginnt, treibt es uns weiter in den Endspurt unseres Mini-Marathons.

Auf der Utopia Stage finden wir eine Bühne auf der Bühne vor. “Ich habe euch versprochen, ich bringe die kleinen Bühnen zurück auf die große Bühne”, sagt uns dort Alligatoah. Gelogen hat er nicht. Dabei hat er nicht nur seine Band, sondern auch seinen eigenen Bauarbeiter dabei, BBB oder auch an diesem Tag Bühnen Bau Basti. Wirft man dann kurz einen Blick in das Publikum stellt man sich die Frage, was in der letzten Stunde passiert ist, als man bei den anderen Bühnen war. Der Platz ist plötzlich voll. Richtig voll. Voller als bei so manchem Headliner. Und was heißt das im Normalfall? Die Fans haben Bock. So richtig. Es wird lautstark mitgesungen und getanzt. Das geht bei bei neuen Songs des kürzlich erschienenen Albums Rotz & Wasser eben so gut bei älteren Songs wie Ein Problem mit Alkohol, Fick ihn doch oder das Finale Willst du, bei welchem die Anlage der Bühne wie eine Lachnummer wirkt.

Wer von dem Auftritt von Fever 333 auf dem Rock am Ring 2019 gehört hat, sollte nicht verwundert sein, dass die Band schon wieder da ist – nur auf einem viel späteren Slot. Wo letztes mal noch viel Platz war, tummeln sich heute die Massen. Geändert hat sich bei der Band jedoch nichts. Noch immer antidiskriminierender Aktivismus gehüllt in eine Mischung aus Punk und Hip-Hop, performed von Energiebündeln, die gefühlt implodieren, wenn sie die Power nicht verarbeiten können und sich nicht mindestens einen Knochen während der Show brechen – zumindest sieht es so aus. Sänger Jason Butler baut während des Auftritts förmlich die Bühne um, stellt sich auf Boxen, nur um von diesen zu springen, macht Saltos, rutscht auf dem Rücken über die Bühne und und und. Das Publikum ist dort nicht anders – die Pits sind ebenso halsbrecherisch. Laut geht es hier auch zu, besonders bei Burn it. “This might be the greatest sing along we ever had, thanks for that”, sagt uns Jason, während Gitarrist Stephen Harrison anfängt “sein Ding” zu machen. Ohne Sicherung oder ähnlichem klettert er die Bühne hinauf, während er immer wieder spielt. Oben angekommen spielt er weiter als wäre alles völlig normal. Ein Blick zur Seite und man sieht wie Jason inzwischen auf dem FOH steht und kurz davor ist, sich in die Menge zu werfen – aber natürlich gefangen wird. Anschließend klettert Stephen wieder herunter, lässt seine Gitarre aber oben. Das Problem hat nun ein anderer.

Nach diesem Total Abriss von Fever 333 muss eine Verschnaufpause her – taktisch klug steht mit Placebo nun eine Band auf der Utopia Stage, die eher für Songs zum Träumen als für Auf-Die-Fresse-Mucke bekannt ist. Natürlich kann man aber auch zu Placebo Songs ordentlich abrocken und lautstark mitsingen wie das Rock am Ring Publikum zu beweisen wusste. Wenn Sänger Brian nicht zeigen wollte, wie sehr es ihn freut wieder vor Publikum zu stehen, so ist es ihm nicht wirklich gut geglückt: Einen großen Teil der Zeit grinste er nämlich wie ein Honigkuchenpferd. Songtechnisch stand klar das erst im März erschienene Album “Never Let Me Go” im Vordergrund, aber auch über Evergreens wie Special K und The Bitter End durfte sich die Menge freuen. Zum Abschluss gab es mit Running Up That Hill noch das obligatorische Kate Bush Cover, bevor die Bühne für den Headliner des Abends vorbereitet wurde. 

Große Reden werden bei den heutigen Headlinern Muse nicht geschwungen. Um genau zu sein, fällt kaum ein Wort außerhalb der Songs. Diese gibt es dafür reichlich. Zunächst kommen die Musiker mit Masken auf die Bühne, während im Hintergrund brennend das Logo des kommenden Albums hängt. Dahinter ein normaler Backdrop. Schnell fallen die Masken und auch bald der Backdrop, um eine riesige Maske zu zeigen. Wir sind die ersten, die die neue Arena-Show der Band sehen können. Die Fans singen lauthals mit und tanzen sich sich die Versen wund, besonders bei Supermassive Black Hole und Uprising. Diese sind natürlich keine Überraschungen, dafür aber Nishe, welcher in der Gitarrenfassung seit über 14 Jahren nicht mehr gespielt wurde, oder auch Will of the People welcher seine Live-Premiere feiert. Das ganz im Gegensatz zu Kill or be Killed, welcher gleich eine Weltpremiere feiert, denn wir sind die ersten die den Song zu hören bekommen. Abgerundet wird mit gut platzierter Pyro, die die Show nochmal auf das nächste Level hebt, ohne dabei zu aufdringlich zu werden.

Der Abend wird wieder auf der Mandora Stage beendet. Heute mit keinem anderen als Casper. Als er auf die Bühne kommt, geht es ihm wie vielen von uns, als wir am Vortag das erste mal auf das Gelände kamen. Er ist vollkommen geflasht, wieviele Fans sich versammelt haben. So sehr, dass er im ersten Song Alles war schön und nichts tat weh einen Teil seines Textes vergisst. Krumm nimmt ihm das an diesem Abend niemand, eher im Gegenteil. Es ist schön, bei den Künstlern auch die emotionale Seite sehen zu können, welche von manch anderer Bühnenpersönlichkeit unter den Teppich geschoben wird. Während des ganzen Auftritts grinst er über beide Backen und macht den Eindruck, als wolle er nie wieder von dieser heruntergehen wollen. Warum auch? Mann holt sich die Freunde einfach hoch. So gibt es Keine Angst zusammen mit Drangsal, welcher eigentlich erst am nächsten Tag sein eigenes Konzert auf dem Ring spielen sollte. Zu keinem Zeitpunkt wird es im Publikum still. Jede einzelne Zeile wird lautstark mitgesungen und am Ende belohnt. Zu Hinterland gibt es ein großes Feuerwerk über der Bühne, bevor es in eine kleine aber feine Zugabe geht und Casper sich nochmal emotional verabschiedet.

Autor