Lass uns über Gefühle sprechen – Im Interview mit MAR (1. FC Nervenbündel) (Teil 2/2)

Lass uns über Gefühle sprechen - Im Interview mit MAR (1. FC Nervenbündel) (Teil 1/2)
Würdest Du gern die Unverständlichkeit unserer Tage mit mir auskosten?, © Claudia Helmert
Geschätzte Lesezeit: 5 Minute(n)

Die Leute machen sich Sorgen, weil Kinder mit Kriegsspielzeug spielen und Teenager Gewaltvideos gucken, wir fürchten, sie könnten einer Kultur der Verrohung heimfallen. Niemand sorgt sich um Kinder, die Tausenden – buchstäblichen Tausenden – von Songs über gebrochene Herzen, Zurückweisung, Schmerz, Leid und Verlust lauschen. Von allen Menschen, die ich kenne, haben diejenigen am wenigsten Glück in der Liebe, denen Popmusik am meistens bedeutet. Ich weiß nicht, ob Popmusik der Auslöser dieses Unglücklichseins ist, aber ich weiß, dass sie schon länger traurige Songs hören, als sie ein unglückliches Leben führen.

Lass Dir den Beitrag vorlesen:

Ist da überhaupt Raum zwischen dem Unglücklichsein und der Musik? Überall und nirgends? Es passiert so viel!

Nehmt Euch wichtig

Liegt die wirkliche Expertise für Musik tatsächlich bei den Schaffenden oder bei den Rezipierenden? Ergeben sich durch jene zwei Perspektiven verschieden Blickpunkte auf die Kunst? Was macht Musik aus, die so individuell erfahrbar und nicht selten an Momente und Gefühlslagen geknüpft ist?

Innerhalb der vergangenen Tag traf ich mich (virtuell) mit Mar auf dem auf dem Platz für Gedanken, Empfindungen, Hoffnung und Traurigkeit.

Wir lernten uns kennen, in dem wir die Euphorie teilten

Im strahlenden Sonnenschein des Chemnitzer Kosmonautfestivals durch Bühnennähe und Interesse für den Auftritt des Trios, dessen Namen immer wieder fällt, wenn über deutschsprachige Indiebands gefachsimpelt werden soll – Die Nerven. Dreißig Konzerte schaffen Expertise, dazu eine Leidenschaft, die seines Gleichen sucht: Motiviert modelliert Mar am Fanzine und der Internetpräsenz des FC Nervenbündels mit und stellt sich meinen nicht immer ganz so einfachen Fragen. Dass sich das Jubiläum des letzten Albums der benannten Gruppe jährt, spielt der Konzeption unfassbar gut in die Karten:

Was es zum 20. April eben zu feiern gibt: Das zweijährige Jubiläum der Fake-Platte, zu dem, wie zu jeder Neuerscheinung, auch einige Superlative propagiert wurden – aber: hier stimmen die Meisten. Erneut lohnt der Blick und die Aufmerksamkeit auf das Album der Gruppe Die Nerven zu richten, die einen Bekanntheitsgrad genießen, dass Wertschätzung noch cool wirken kann. Die zwölf Tracks hinter dem pixeligen Cover in orange erzählen irgendwas von Zeitgeist, wollen Popkultur sein – das funktioniert fantastisch: Wabernde Rhythmen führen zu großen Worten, für weitherzige Momente wie geschaffen. Dazwischen schmuggelt sich unprätentiös Außenseitertum unter, wie ein miesgelaunter Nebel um die Köpfe unserer Gegenwartsgesellschaft. Der organische Sound treibt rigoros rau, sodass man sich daran reiben kann, sich innen etwas tut. 

Im zweiten Teil werde ich von Mar darüber beraten, was Musik mit Wahrhaftigkeit zu tun hat, welche Aufgaben daran geknüpft sind bzw. wie diese gefühlsgeladene Kunstform auch Politik schaffen kann.

Was verstehst Du unter Fake?

Als Nerven Fan kommt mir natürlich bei dem Wort zuerst das Album in den Sinn, bevor ich an den eigentlichen Begriff denke. Das Album ist in meinen Augen unfassbar gut und hat für mich viel verändert, klar. Ich hab die Band innerhalb der letzten zwei Jahre 27 Mal live gesehen, habe unzählige Kilometer in Bus und Bahn zurückgelegt. Fake war der Startschuss für, wie ich es nenne, “Nerviges Getoure”. Ich bin daran sehr gewachsen und könnte nicht dankbarer sein. Den Begriff selbst verbinde ich natürlich mit etwas, das nicht echt oder authentisch ist. Ich persönlich lege viel Wert auf Authentizität. Ich kann es nicht leiden, wenn Leute nur solange vermeintlich nett zu einem sind, wie sie selbst einen Nutzen daraus ziehen können. Am Ende denken wir dabei auch alle ein wenig an Social Media und falsche Informationen, die unreflektiert weiterverbreitet werden, oder?

Bedeutet Fake eher Unaufrichtigkeit, Imitat oder Schein? Woraus schließt Du das?

Das ist alles eine Sache der Interpretation. Es kann alles sein, selbst ein Albumtitel.

Ich glaube intuitiv verbinde ich es tatsächlich am meisten mit Unaufrichtigkeit.

Wie sah der Zeitgeist zur Albumveröffentlichung aus?

Ich kann das ja nur aus meiner persönlichen Sicht beurteilen. Das erste halbe Jahr hat mir einen unbefristeten Arbeitsvertrag, eine Prellung meines linken Fußes, der fast meine Tourpläne ruiniert hätte, und auch eine Trennung beschert. Für mich war viel im Umbruch, aber auf die gute Art.
Und es war das Jahr in dem ich meinen ersten und einzigen Pöbel-Kommentar auf Social Media verfasst habe:

Die Nerven wollten am 24. Januar ‘18 das neue Album und Release-Date ankündigen. Pretty In Noise sind am gleichen Tag der Band allerdings zuvorgekommen. Das hat es für mich ein wenig ruiniert, obwohl ich es schon wusste. Ich schrieb also nur “Das könnt ihr doch nicht einfach VOR der Band ankündigen, ey!”

Was hat sich seitdem verändert? Welche Veränderung wünschst Du Dir außerdem?

Es hat sich viel verändert, darüber könnte ich vermutlich ein ganzes Buch schreiben. Aber ich bin mutiger und selbstsicherer geworden, habe viele, tolle, neue Menschen kennengelernt, viele Städte besucht. Und klar, wir haben den Nerven Fanclub – 1. FC Nervenbündel – gegründet, um einen Ort zu schaffen, an dem Fans sich untereinander vernetzen und austauschen können. Wir haben letztes Jahr auch ein Fan-Zine zu Fake herausgebracht. Das hat viel Spaß gemacht.
Ich glaube, am meisten wünsche ich mir, dass Menschen aufhören Personen, die sie für Frauen halten, als Groupies zu bezeichnen, wenn sie ihrer Leidenschaft folgen und mehrere Konzerte einer Tour besuchen. Ich wünsche mir, dass Frauen und weiblich gelesene Personen ernst genommen werden. Egal ob sie Fans sind oder Musik machen. Ich wünsche mir in ein Musikfachgeschäft gehen zu können, ohne direkt so behandelt zu werden, als könnte ich sowieso keine Ahnung haben. Ich wünsche mir weniger Cis Männer in Musikfachgeschäften.

Wie lange können wir uns dessen sicher sein, dass das, was wir heute als Fake bezeichnen, auch morgen noch so ist? Und was kommt dann?

Noch können wir Fake als aktuelles Die Nerven-Album bezeichnen, bis nächstes Jahr. Was dann kommt? Na hoffentlich ein neues großartiges Album von Die Nerven.

Du stellst so viele philosophische Fragen. Wirklich sicher sein können wir uns ja nie. Gerade in Zeiten wie diesen wird das wieder sehr deutlich. Aber mal im Ernst: Unsicherheit, Ungewissheit aber auch Abenteuer und Herausforderungen, an denen wir wachsen können.

Wie groß müssen die Statements sein, damit Musik politisch ist? Damals? Heute?

Ich glaube, es kommt gar nicht immer auf die Größe der Statements an, sondern darauf, wie sehr sie mit den aktuellen gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen einhergehen. Gesellschaftskritik ist immer politisch. Gleiches gilt leider auch immer noch für queere Identitäten und Körper außerhalb des sehr kleinen Spektrums von Normschönheit und dem Auflehnen gegen das Patriarchat. Traurig, aber wahr.

Sollte Musik politisch sein? Warum?

Musik darf politisch sein, ich finde aber nicht, dass sie es zwingend sein sollte. Ich hab es vorhin, glaube ich, schon erwähnt: Musik kann empowern, das Gefühl vermitteln nicht allein zu sein. Dementsprechend darf Musik gegen Nazis sein, feministisch sein (bitte mehr davon), queer sein. Das schönste Gefühl ist es doch, sich in Liedern wiederzufinden, sich gesehen zu fühlen, repräsentiert zu werden. Allein die Existenz marginalisierter Personen ist schon politisch, also damit einhergehend auch die Musik die sie machen. Musik darf und soll unterhalten, aber sie ist natürlich auch ein wichtiges, stilistisches Mittel, um auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen.

Führt das zu einer Diskussion über die Trennung von Kunstschaffenden und Kunstwerk?

Ich bin der festen Überzeugung, dass Künstler*innen nicht von ihrer Kunst zu trennen sind. Ich merke auch, dass es mir generell schwerer fällt Zugang zu Musik zu finden, wenn ich die Künstler*innen in Interviews unsympathisch finde. Und klar ist, dass immer nur ein Teil der Person und Persönlichkeit dort gezeigt wird – aber wenn ich ein komisches Bauchgefühl hab, dann hab ich diesen Struggle. Ich finde das sehr erschreckend, wenn große Bands arg problematische Songtexte haben und von ihrer Fanbase bedingungslos verteidigt werden. Ich könnte das nicht. Und wenn Musiker*innen sich privat übergriffig verhalten, dann ist ihre Musik für mich damit auch gestorben. “Aber die Musik ist SO gut” ist für mich kein Argument, solche Leute dann weiterhin zu supporten.

 

Zusammenfassend sehe ich, dass auch komplexe Denkanstöße interessante Anregungen sind, dass es sich ohne Angst besser lebt und Musik weiter ein bedeutungsgeladene, individuelle Erfahrung bleibt – sich aber im Kollektiv besser feiern lässt. Dass nicht jede Intention, welche die Schaffenden anstreben, auch bei den Rezipierenden ankommt – sondern vielleicht sogar viel mehr – spricht nur für das wertzuschätzende (wenn auch schwer greifbare) Schöne, das in den Klängen mitschwingt.

Vielen lieben Dank Mar, danke auch Dennis. Der erste Teil des Interviews ist hier zu finden.

Weblinks 1. FC Nervenbündel:

Instagram: https://www.instagram.com/fc_nervenbuendel/
Facebook: https://www.facebook.com/groups/2536013749804946/
Twitter: https://mobile.twitter.com/FcNervenbuendel

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