Was war zuerst da, die Musik oder das Unglücklichsein? Hörte ich mir Musik an, weil ich unglücklich war? Oder war ich unglücklich, weil ich Musik hörte? Machen mich all diese Platten zu einem melancholischen Menschen?
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Neulich hat Herr Hornby zu mir gefunden und ich zu Herrn Hornby. Manchmal konsumiert man Popkultur im perfekten Moment, in eine Lücke von Empfindungen hinein, die Worte brauchen, die jemand anderes besser ausdrücken kann, als die eigene Lebenserfahrung ermöglicht.
Nehmt Euch wichtig
Länger als nötig sollte die Idee in mir reifen: Liegt die wirkliche Expertise für Musik tatsächlich bei den Schaffenden oder bei den Rezipierenden? Ergeben sich durch jene zwei Perspektiven verschieden Blickpunkte auf die Kunst? Was macht Musik aus, die so individuell erfahrbar und nicht selten an Momente und Gefühlslagen geknüpft ist?
Dank dem Vorhaben, jeden Tag etwas mit Kunst zu schaffen, haben ich mich innerhalb der vergangenen Tage mit Worten beschäftigt – aber nicht allein: Abgesehen von dem unfassbar hohen Lektürekonsum war Mar an meiner Seite (wenigstens virtuell). Wir trafen uns auf dem Platz für Gedanken, Empfindungen, Hoffnung und Traurigkeit.
Wir lernten uns kennen, in dem wir die Euphorie teilten
Im strahlenden Sonnenschein des Chemnitzer Kosmonautfestivals durch Bühnennähe und Interesse für den Auftritt des Trios, dessen Namen immer wieder fällt, wenn über deutschsprachige Indiebands gefachsimpelt werden soll – Die Nerven. Dreißig Konzerte schaffen Expertise, dazu eine Leidenschaft die seines Gleichen sucht: Motiviert modelliert Mar am Fanzine und der Internetpräsenz des FC Nervenbündels mit und stellt sich meinen nicht immer ganz so einfachen Fragen. Dass sich das Jubiläum des Albums Fake der benannten Gruppe am 20.04. zum zweiten Mal jährt, spielt der Konzeption unfassbar gut in die Karten. In zwei Teilen werde ich darüber beraten, was Musik kann und was nicht, was Mar mit seiner liebsten Band verbindet und wie diese gefühlsgeladene Kunstform auch Politik schaffen kann.
Was ist für Dich Musik? Mit welcher Bedeutung? Woraus schließt Du das?
Eine liebe Freundin sagte einmal zu mir “Du atmest Musik” und ich glaube, das fasst es sehr gut zusammen. Bei mir läuft eigentlich immer Musik, außer wenn ich lese oder schlafe. Ein Leben ohne Musik ist für mich schwer vorstellbar. Musik war immer da, wenn ich mich verloren gefühlt habe. Sie nimmt mich in den Arm, drückt aus wofür mir manchmal die Worte fehlen oder gibt mir auch mal nen Arschtritt, wenn ich ihn brauche. Musik gibt mir Kraft, Mut und das Gefühl mit meinen Sorgen nicht allein zu sein.
Was verbindest Du mit Musik zurzeit?
Ich bin jetzt tatsächlich schon einen Monat zuhause. Ich wohne allein und fühle mich zum Teil sehr isoliert. Musik vertreibt natürlich auch die Stille und zum ersten Mal überhaupt höre ich tatsächlich auch den Spotify-“Mix der Woche”, um neue Musik zu entdecken. Ich lege viele Platten auf, nehme mir also aktiv Zeit zum Musikhören, mehr als ich es sonst in meinem Alltag schaffe. Sie ist ein Anker für mich.
Was vor zwei Jahren?
Ich meine mich zu erinnern, dass 2018 ein Jahr war in dem ich auf viele Neuerscheinungen hingefiebert habe. Vor allem aber auf Fake von Die Nerven und Alice von Karies. Fake war das erste Nerven Album dessen Veröffentlichung ich als Fan miterlebt habe. Ich finde das ist immer etwas sehr Besonderes. Deshalb hat das Album natürlich auch einen besonderen Platz in meinem Herzen, auch wenn ich FUN immer als meinen Favoriten bezeichnen würde. Es war außerdem das erste Jahr in dem ich das erste mal so richtig auf Tour gefahren bin.
Veränderst Du Dich?
Ständig. Zum Besseren, hoffentlich. Ich versuche jeden Tag ein bisschen zu wachsen.
Verändert sich die Musik?
Musik verändert sich genauso, wie die Menschen, die sie machen und die Menschen, die sie hören. Kein Album klingt wie ein vorhergehendes, kein Song ist identisch mit einem anderen. Auch nicht bei Cover-Versionen. Je öfter ich einen Song höre, desto mehr Feinheiten entdecke ich. Ich liebe aber auch diesen Moment, in dem ich einen Song zum ersten Mal höre. Das hat etwas Magisches, diesen Moment gibt es nur ein einziges Mal. Deshalb nehme ich mir dafür immer Zeit. Veränderung kann ja auch bedeuten, dass ein Song von etwas Neuem, Fremden zu etwas wird, was einem so vertraut ist, wie der eigene Herzschlag.
Verändert Dich die Musik?
Auf jeden Fall. Gerade im Rückblick auf die letzten zwei Jahre. Musik war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens, aber wenn ich mir anschaue, wie sehr ich in den letzten zwei bis drei Jahren gewachsen bin, wie oft ich meine Ängste überwunden habe, wie oft ich mutig war, wie viel ich gereist bin, um die gleiche Band in fremden Städten in fremden Locations zu sehen – allein. Das sind Sachen, die ich mir lange Zeit in meinem Leben niemals zugetraut hätte. Dinge, die viel Überwindung gekostet haben, die mir aber auf Grund meiner Leidenschaft zur Musik gleichzeitig auch leicht gefallen sind. Ich finde es faszinierend, wie viel Kraft ich aus Musik schöpfen kann, wie viel weniger allein ich mich durch sie fühle.
Ich hab letztes Jahr um diese Zeit angefangen Bass zu spielen und auch das hat mich verändert – in den vergangenen anderthalb Monaten vielleicht sogar noch mehr. Weil ich auch hier ständig wachse, Dinge ausprobiere, Dinge MACHE, ohne dass mir mein Kopf im Weg steht, der leider die Angewohnheit hat, alles bis ins kleinste Detail zu zerdenken. Ohne Musik wäre ich, glaube ich, ein anderer Mensch.
Veränderst Du die Musik, die Du hörst?
Interessante Frage. Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nie nachgedacht. Da gibt es ja zwei Sichtweisen. Als Fan verändere ich die Musik, die ich höre vielleicht nicht so sehr. Andererseits ist Musik ja auch etwas, das Menschen sehr subjektiv wahrnehmen und beurteilen. Wir können also den gleichen Song hören und unterschiedliche Dinge darin erkennen, uns vielleicht selbst darin wiederfinden, ihn unterschiedlich interpretieren. Das kann eine Form von Veränderung sein. Sichtweise zwei: Ich lerne einen Song auf meinem Bass, der im Original mit Plektrum gespielt wird, spiele ihn aber selbst mit den Fingern. Dann klingt er ganz anders und ich habe ihn dadurch abgewandelt oder verändert. Also ja, ich verändere Musik schon, aber nicht allgemeingültig.
Was darf Musik nicht?
Musik sollte empowern, niemals diskriminieren. Also hab ich natürlich, ganz klar ein Problem mit Nazimusik und Menschen, die gewisse Bands hören, sind halt einfach direkt durch. Ich finde das Konzept von “Guilty Pleasures” ganz schrecklich. Warum sollte ich jemanden für seinen Musikgeschmack verurteilen, nur weil ich selbst mit der Stilrichtung, Band oder Künstler*in nichts anfangen kann. Menschen sollten einfach das genießen können, was ihnen ein gutes Gefühl gibt – solange das niemand anderen verletzt. Wenn mir aber jemand begegnet und meint, es wäre okay, dass Rap frauenfeindlich ist, weil das halt stilistisches Mittel ist, dann – please go fuck off, weil NEIN.
Reicht es, wenn Musik nur Zustandsbeschreibung ist?
Ja. Ich finde, Tattoos und Musik haben da eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie müssen nicht immer eine tiefgründige Message haben. Wenn jemand einen Song schreibt, in dem 20 Mal wiederholt wird, dass es ihm*ihr schlecht geht, why not? Musik ist ja auch oft ein Ventil zum Verarbeiten eigener Erlebnisse und Eindrücke. Ich finde das absolut legitim.
Vielen lieben Dank Mar, danke auch Dennis. Der zweite Teil des Interviews folgt morgen.
Weblinks 1. FC Nervenbündel:
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