Wir haben einen objektiven Aufbewahrungsort, eine Adresse, ein Schließfach gefunden. Wir sind begeistert, dass andere dasselbe Schließfach benutzen. Wir gründen mit ihnen eine Bewegung, denn unsere zarten Gefühle sind jetzt ein Politikum…
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Über Pop-Musik, Diedrich Diederichsen
Es war unfassbar. Diese Insel des wertschätzenden Beisammenseins, diese offenherzige und sichere Umgebung für kulturelle Identitäten aller Art, die Barrierefreiheit und WCs für alle Geschlechter. Die meisten Performances des feinen Line-ups unterstützten Gebärdensprachedolmetscher*innen “Die mit den Händen tanzen”. Es sind die kleinen Dinge, die man sich für selbstverständlich wünscht und dort passierten, auf dem großen Gelände der Berliner Kulturbrauerei, Prenzlauer Berg.
Das Pop-Kultur in Berlin ist zum einen eine Plattform für Nachwuchs-Musiker*innen, -Produzent*innen, DJs, Videoregisseur*innen, PR-Manager*innen, Journalist*innen und alle, die im weiten Feld der Popkultur aktiv sein wollen, und zum anderen ein Festival, Diskussionsmöglichkeit und Treffpunkt für Künstler*innen verschiedenster Bereiche. Ein großes Vorhaben für drei Tage:
Nach der entspannten, aber frühzeitigen Anreise am Mittwoch – man wurde angehalten, sich spätestens 9.30 Uhr zur Akkreditierung zu melden – türmte sich das von persönlichen Erwartungen maßlos an Größe übertroffene, ehemalige Industriegelände und Austragungsort vor mir auf. Die verwinkelten, hohen Backsteinwände leuchteten im warmen Sonnenschein, mein Weg zum Kino wirkte offensichtlich. Die Kick-Off Veranstaltung und Eröffnung des Nachwuchsprogrammes erfolgte durch die Kuratoren und einem Gespräch mit Stephen Morris, der seine Erlebnisse mit Joy Division lesend erfahrbar machte: Sein Buch Record, Play, Pause bewarb er nur am Rande und freute sich vielmehr über die Fragen aus dem Publikum der jungen Musikbegeisterten. Er schätzte Inspiration als Bildung vielmehr als stupides Auswendiglernen, berichtete davon, wie er als schlechtester Gitarrist zum Schlagzeug degradiert wurde und beendete grinsend die Frage danach, wie er seine musikalischen Anfänge trotz finanzieller Mängel bewältigte und was er von der gegenwärtigen Punkszene halte – wegen der Zeitknappheit – mit einem simplen “Punk is great!”. Dann startete schon das krasse Workshop-Programm, bei dem der erste ein unaufgeregt und damit umso authentischerer Austausch über Ansprüche, Erfahrungswerte und Wirkweisen der Band-Photographie umfasste und von Joe Dilworth bzw. vielmehr seinen visuellen Eindrücken angeleitet wurde. Eine vegane Mittagspause später verlangte mein selbstfestgelegtes Programm, das immer wieder eine Auswahl aus neun zeitgleich stattfindenden und alle spannenden Themen darstellte, den Weg zurück ins Kino. Zebo Adam referierte ein bisschen über seine Arbeit als Musikproduzent, seinen Ansprüchen Momente, Gefühle einzufangen (wie es ihm u.a. mit Bilderbuch gelang) und plädierte vielmehr mit seinem Wiener Dialekt für die Liebe zur Musik. Musik erscheine ihm als Energie, deren einzigen, beiden Genres mit Existenzberechtigung “trifft mich” und “trifft mich nicht” umschreiben könnten.
Soweit so warm. Die Pause verging schnell und ich chillte erneut in den flauschigen Kinosesseln, um mich mit der Vielzahl an Interessierten, die den Saal füllten, für den Film Everybody In The Place: An Incomplete History Of Britain 1984-1992 von Jeremy Deller zu begeistern. Die anschließende Besprechung mit Danielle de Picciotto und Sven von Thülen verpasste ich zugunsten des Aufleuchtens im Innenraum des großen Kesselhaus während des Beginn von Der Ring. Der Titel des Pop-Projekts auf Basis Richard Wagners Opus deutete die zu erwartende Kürze an und ist ein musikalisches, video-unterstütztes Zusammenwirken von Jens Friebe und der Gruppe 21 Downbeat des RambaZamba Theaters. Liebenswert gaben sie und ihre wundervoll strahlenden und zappelnden Fans in den ersten Reihen sich den Rhythmen und ihrer Spielfreude hin – für ein Projekt dessen Gesellschaftskritik zwischen den Zeilen reizte. Da zu viel Schönes passierte, zog das Programm weiter, um die Ecke, zum Palais-Eingang, vor dem sich eine lange Schlange tummelte, sodass der Saal bereits vor Konzertbeginn voll erschien. Im Nebel zwischen den zuckenden Lichtern bauten sich Jungstötter auf und zauberten tänzelnde Melodien, die von den Worten der charismatischen Stimme komplettiert wurden. Im Frannz Club wippten Pärchen gleichmäßig unter Anleitung eines/einer Tanzkursleitenden, wohingegen im Inneren der Punk abging. Voodoo Beach dröhnen in den aufgeheizten Abend hinein, der mit einer Diskussion unter dem ansprechenden Titel Musik Und Warum Sie So Scheiße Klingt und den ansprechenderen Gästen Max Gruber und Max Rieger unter Moderation von Gesine Kühne unterhielt. Das Panda-Theater erschien viel zu klein für die große Flut an einströmenden Interessierten, die sich am Referieren über (allen voran) Metallica, ihrem Budget und ihrer kritisierten Entscheidungen im Musikproduktionsprozess amüsierten. Wie gut. Die Nacht des ersten Tages des fünften Berliner Festivals berauscht mit den Beats von Haszcara in der Alten Kantine und der stimmlich großen Performance von Anna Calvi im Kesselhaus. Ausklingend säuselt Stella Sommer, Die Heiterkeit, im Palais.
Der zweite Festivaltag startete zur selben Zeit und glücklicherweise mit dem sehr viel kürzeren Weg vom Hotel in Richtung des Kinoeingangs der backsteinernen Location. Der Start in den Tag ist das verschlafene Abholen der Essensmarke und im angeschlossenen Kick-Off-Gespräch, das deutlich träger als zum Vortrag ausfiel. CocoRosie berichteten auf Anfrage von Christian Morin von ihren Inspirationen, gescheiterten Ausbildungen und gelungenen Nischenexplorationen mit dem Anspruch, sich selbst treu zu bleiben. Wenig greifbar obgleich der kryptischen Erläuterungen der beiden Damen, schwebte es sich etwas gähnend und mehr nachsinnierend durch die dunklen Gängen mit anhaftenden Popcornduft. Mein Vormittag glitzerte in den Spiegelreflektionen des Sodaclubs. Haszcara und die darum gescharte Gruppe motivierter Nachwuchsprogrammteilnehmenden gaben sich der Rap-Leidenschaft der Anleitenden hin. Begeistert erklärte sie in Zeitknappheit was Flow, Rhythmen und Worte darstellen können, was gut wirke und schön klinge und woher die Reime kommen würden. Im Anschluss an die üppige, vegane Mittagspause bewegte es sich durch die Hitze schwerer, aber der Marsch über die Dachterrassen des Palais ist schön. Dort erzählte Kurt “Pyrolator” Dahlke entspannt und locker wie ‘Hit’ gehe – von der Idee bis zur Vermarktung ist es ein langer Weg, der den gesamten Nachmittag unterhielt.
Kurze Pause zum Durchatmen und Kaffee schlürfen – der Abend wird lang, das Programm weckte große Erwartungen. Ab ins Kino, in dem vor einem der Säle bereits weitere Gespannte warteten, um an der Konversation und dem vom Deutschlandfunk Kultur beworbenen Gespräch darüber, ob ich noch Michael Jackson hören dürfe, und wenn ja, wie das geschehen solle, teilzunehmen. Hartwig Vens und Dirk Schneider sprachen mit Lisa Ludwig und Samira El Ouassil über Pop, Ethik und Identitätspolitik, über Verantwortung und Umgang mit den Opfern, Herausforderungen und Konsequenz (? Hier nachhören). Die Stunde im überfüllten Raum ging schnell vorbei, die Sonne weiter unter. Ich suchte den Zutritt zum Maschinenhaus, der durch das leere Treppenhaus über den Kesselsaal führte. Hier schmeichelten sich Little Annies große Lippen um die Melodien von Paul Wallfisch und Band in die Herzen der zufriedend wippenden und begeisternd rufenden Zuschauenden. Eines meiner Highlights des Festivals, wie sich dort das große Charisma der kleinen Dame pompöse Musik abperformt, im hellen Gegenlicht den Tränen nahe schien und soviel Wertschätzung für die Publikumseuphorie übrig behielt – mehr Energien passten nicht in die etwa 45-minütige Darbietung. ‘rüber ins Palais, bitte schnell, Taschenkontrolle und ein überraschend locker gefüllter Saal mit nebliger Bühne wartete auf den Auftritt von Station 17. Der Bandname, über dessen deutsche Aussprache ich mich gern belehren ließ, bezeichnet eine Hamburger Gruppe und die erste genuin inklusive Band Deutschlands, die ein Bündel guter Laune, Spielfreude und Merchandise bereithielt. Schade, dass die Vielzahl an Programmpunkten so drängte, aber mich zog es weiter zu Die Kerzen, die im Frannz Club mit dem Zuhörenden um die Wette schwitzten. Bescheiden bis ironisch kokettiert der Sänger mit seiner Aufregung, die vor den begeisterten Gesichtern im bebenden Zuschauerraum nahezu unbegründet erschien. Puh, nur Gutes passierte überall und in dem kleinen Club, aber mein gewonnener Sitzplatz auf der Empore des Kesselhauses bestätigte mich in meinem positiven Gefühl für Die Goldenen Zitronen. Dass ihnen ein Bandmitglied fehlte überspielten die Hamburger Herren mit ihrem Entertainmentdrang – Schorsch hüpfte in seiner schillernden Beinbekleidung über die Bühne, nachdem ein Technikproblem als Fotopose inszeniert werden konnte. Laut zwirbelten die geräuschhaften Töne des Sängers auf den dröhnenden Melodien in die zwingend zappelnden Gliedmaßen. Währenddessen rissen Repetitor, ähnlich energiegeladen, aber eine deutlich lautere Band aus Belgrad den kleinen Frannz Club samt dichtgedrängten Publikumsscharen in die Tiefen treibender Noisepunkwellen. Ehe der Satz “Keine Müdigkeit vortäuschen” zu mühselig erscheinen könnte, watete ich über den gepflasterten Hof, vorbei an dem Konzert, was dort vor dem Palais passiert, in die Probebühne des RambaZamba-Theaters. Das hört sich klein und unscheinbar an (von Außen mag es auch so aussehen), aber darin tummelten sich auf den zwei Bierbänken und den Holzboden, zwischen den sparsamen, blauen Lichtern Unverständnis oder Begeisterung. “An Evening with Jauche” – Jauche, das sind Max Rieger (Mitglied von Die Nerven, Produzent von u.a. Drangsal, Ilgen Nur und Jungstötter), Ralv Milberg (Produzent von u.a. Die Nerven) und Thomas Zehnle (Mitglied der Wolf Mountains, Produzent von u.a. Levin Goes Lightly) – ließ Klangbilder durch die Spontanität der Musizierenden formen oder einfach beobachten, was da passierte, wie interagiert, rauchend Regler rotiert wurden oder der dichte Nebel aufstiegen. Der geplante sechsstündige Auftritt der Gruppe mit dem einprägsamen Namen, neigte sich langsam dem Ende und ist immernoch schön. Wieder zurück im Frannz ließ ich den Abend mit der dynamischen Darbietung der Decibelles ausklingen.
Zehn von zehn cleveren Gedanken von Gutgekleideten, die wertschätzenden Applaus klatschen! Das Pop-Kultur ist ein umfassendes und damit so vielseitig liebenswertes Festival im frischen Berliner Stadtteil, in dem ausschließlich schöne Menschen wimmelten – die vielseitige, große Kulturbrauerei als Ort junger Kunst und großer Wertschätzung. Ich bin glücklich, inspiriert von soviel Freude und Drang zum Kreativen in den Alltag zurückgekehrt.
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