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DIE NERVEN / ZWEILASTER – Essen, Zeche Carl (07.11.2024)

DIE NERVEN / ZWEILASTER - Essen, Zeche Carl (07.11.2024)

Die Nerven live @ Zeche Carl, Essen 2024

Die Nerven in der Zeche Carl? Jep, das gab es vor nicht allzu langer Zeit schon einmal. Erst im Oktober 2023 (Bericht hier) traten Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn in der zum Kulturzentrum umfunktionierten früheren Industriestätte auf und überraschten ihre Fans seinerzeit mit fünf völlig unbekannten Songs. Die erschienen dann im vergangenen September auf dem sechsten Album Wir waren hier, auf dem Noiserock, Postpunk und deutschen Texte fernab von 08/15-Vokabular wieder einmal eine virtuos dargebotene und dringliche Liaison eingehen. Mehrere dieser Lieder sollten auch an diesem Donnerstagabend wieder erklingen. Zuvor gab es im sehr gut gefüllten, aber nicht ganz ausverkauften Club noch etwas sehr Spezielles auf die Ohren.

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Auf der aktuellen Tournee nehmen Die Nerven im Wechsel verschiedene Gruppen mit, mit denen sie in irgendeiner Form schon vorher verbandelt waren. So produzierte Julian Knoth mehrere Veröffentlichungen des aus Sänger und Gitarrist Arno aka AK99 sowie Schlagzeugerin Marie aka Ollenixxe bestehenden Duos Zweilaster, darunter das 2022 erschienene Album Scheiblettenkäse & Sehnsucht. Könnte zweifellos auch ein LP-Titel von Helge Schneider sein. Und tatsächlich beinhalten Auftritte wie Lieder von Zweilaster einen gewaltigen Schuss Dadaismus, in Teilen auch (gewollten?) Dilettantismus. Der Frontmann, der fast die gesamte Konzertdauer über zur Seite anstatt ins Publikum schaute, kommt auf die Bühne und entlockt zunächst einem Saxophon in bester (obwohl: eigentlich wäre hier das Adjektiv “schlechtester” eher angebracht) Lisa-Simpson-Manier einige Töne, für die “schief” schon fast eine Untertreibung ist. Kurz darauf schreitet Marie im Gang eines Baby-Gorillas auf die Bühne (Kunst!), bevor es musikalisch in die Vollen geht.

Das musikalische große Ganze adäquat zu beschreiben, fällt schwer. Ein Drittel Helge Schneider, ein Drittel Drangsal, ein Drittel Riot-Grrrl-Punk? Jedenfalls teilen sich Arno und Marie die Vocals, singen, sprechen, schreien, röhren, kieksen. Die Songs sind zumeist kompakt gehalten, viele nicht länger als zweieinhalb Minuten, die Texte irgendwo zwischen Sozialkritik, Wut und Dada. Da wird dann auch mal das legendär peinliche Internet-Meme “Jede Zelle meines Körpers ist glücklich” auf links gedreht (!), später folgt ein Loblied auf Tauben, währenddessen fährt ein bunt beleuchteter Taubenmodell-Roboter durch die vorderen Publikumsreihen (!!). Am Ende tanzen beide zu einem Breakbeat vom Band eine Macarena-Gedächtnis-Choreo (!!!), bevor das Instrumental in eine Art Hyperpop-Techno-Mischung abdriftet und Zweilaster kurz darauf die Bühne verlassen. Klingt nicht nur bekloppt, ist es auch. Die Publikumsreaktionen fielen eher verhalten aus. Das war definitiv nicht jedermanns Sache, aber kreativ, erfrischend und alles andere langweilig. Am 6. Dezember erscheint übrigens eine neue LP namens Wieherd – wieder produziert von Julian Knoth.

21 Uhr, Deutschlands von Musikjournalisten und Feuilletons meistgelobte Band des 21. Jahrhunderts betritt die Bühne. Wer schon mal ein Konzert von Die Nerven besucht hat, weiß, dass Knoth, Kuhn und Rieger zuvorderst die Musik sprechen lassen und sich meist ausgiebige Reden sparen. In den ersten gut 30 Minuten verzichtete das Trio komplett aufs gesprochene Wort. Stattdessen gab es die ersten sechs Songs des neuen Albums Wir waren hier hintereinander weg. Warum auch den Fluss stören? Auffällig hierbei vor allem Grosse Taten, das auf der LP mit 2.29 Minuten recht kurze Stück wurde mit einem ausgiebigen Improvisationspart auf die knapp dreifache Länge gestreckt und fühlte sich dabei keine Sekunde zu lang an.

Nach der heimeligen Ballade Achtzehn gab es dann doch die ersten Anflüge von Kommunikation. “Ein Jahresabo” hätten sie ja hier in der Zeche Carl, “einen kultigeren Club gibt es nicht“, merkte Kevin Kuhn an. Gut, das streichelt natürlich die Volksseele im ja sonst oft von vielen eher abschätzig betrachteten Ruhrgebiet. Die Fans wussten es jedenfalls zu schätzen, dass sie endlich mal nicht nach Köln fahren mussten, um eine Rockband der Spitzenklasse aus nächster Nähe betrachten zu können und bejubelten jeden Song. Vor allem, als im Mittelteil die “Klassiker”-Rutsche begann. Zum eingängigen Niemals kreierten die Anhänger im vorderen Innenraum die ersten kleinen Pogo-Pits, die an den passenden Stellen auch im weiteren Konzertverlauf immer wieder aufbrachen.

Wenn ein Song aus der hochqualitativen Masse herausstach, war es wie schon 2023 einmal mehr Der Erde gleich. Im Original keine vier Minuten lang, wächst das Stück live zu einem hochdynamischen Epos von mehr als doppelter Länge. Ein kleines Missgeschick gab es: Die Bassdrum löste sich im temporeichen End-Part, ein Crew-Mitglied tat sein Bestes, das Teil inmitten des entfachten Klang-Gewitters festzuhalten. Lakonischer Kommentar dazu von Max Rieger: “Das ist bei uns normal. Immer geht was kaputt. Wo gehobelt wird, fallen eben Späne.” Eifrig wurde daran gewerkelt, Kuhns Drum-Set zu reparieren, dies nutzte Rieger für die Eröffnung eines kleinen Fan-Frage-Antwort-Blocks. Die perfekte Chance, selber mal kurz Musikjournalist zu spielen und der Band interessante Fragen über Musik, ihre Performance, Einflüsse oder Ähnliches zu stellen – oder das sympathische Angebot des Sängers und Gitarristen komplett in den Sand zu setzen. Beispiele gefällig? Bitte schön:

Fan: “Kann ich das Wasser haben?” (zeigt auf die Wasserflasche vor Kuhns Drums)
Rieger: “Na klar.” (reicht Fan das Wasser)

Fan: “Was haltet Ihr im Ernst von eurer Vorband?
Rieger: “Die Band Zweilaster ist eine sehr gute Band und wir sind sehr froh, dass sie uns auf Tour begleiten und wir mit ihnen reisen können. Ob sie darüber froh sind, dass wir mit ihnen reisen, weiß ich aber nicht.

Fan: “Könnt Ihr mal was von Die Nerven spielen?
Rieger: “Ich erkläre die Fragerunde hiermit für beendet.

Auch wenn sich offenbar einige in der Audienz für besonders lustig hielten, entstand so doch ein herrlicher Moment der Improvisation. Und der nächste sollte nicht lange auf sich warten lassen. Vereinzelt kommt es bei Die Nerven-Konzerten zu kurzen Black-Metal-Lärmorkanen, die Kevin Kuhn mit Fauchen und Kreischen garniert – so auch in Essen. Nachdem sich ein Zuschauer ebenfalls lautstark kreischend bemerkbar machte, entstand zur Unterhaltung aller Anwesenden ein kleines “Scream-Duell” zwischen Fan und Schlagzeuger. Zum Ende verbeugte sich Kuhn gar als Zeichen des Respekts – ein weiterer Augenblick in der Show, der so eben nur in kleinen Clubs möglich ist und im Gedächtnis bleibt.

Zwei Stücke vom Durchbruchsalbum Fun (2014), zwei vom kaum schlechteren Fake (2018) bildeten das Ende eines knapp 85-minütigen Konzerts, bei dem Die Nerven wieder alle ihre Stärken ausspielten. Man spürt als Fan die besondere Chemie zwischen allen drei Bandmitgliedern, den Idealismus, den Spaß an der Sache. Alles klang wie aus einem Guss, der tolle Sound in der Zeche Carl tat an diesem Abend sein Übriges, um zu beweisen, dass es aktuell keine bessere Rockband im deutschsprachigen Raum gibt. Wer diese akustische Machtdemonstration verpasst hat, muss nicht verzagen: Im November wie auch im kommenden Frühling gibt es weitere Chancen für einen Besuch auf der Auf der Flucht vor der Wirklichkeit-Tournee. Alle feststehenden Termine findet ihr hier. Und vielleicht kommt da ja noch etwas zu – schließlich verabschiedete sich Kevin Kuhn vom Essener Publikum mit den Worten “Bis nächstes Jahr!” …

Setlist DIE NERVEN – Essen, Zeche Carl (07.11.2024)

01. Als ich davonlief
02. Das Glas zerbricht und ich gleich mit
03. Grosse Taten
04. Wir waren hier
05. Wie man es nennt
06. Achtzehn
07. Europa
08. Niemals
09. Aufgeflogen
10. Keine Bewegung
11. Ein Tag
12. Der Erde gleich
13. Eine Minute schweben
14. Angst
15. Frei (Z)
16. Dunst (Z)

Weblinks DIE NERVEN

Bandcamp: https://dienerven.bandcamp.com/album/die-nerven
Instagram:  www.instagram.com/dienerven
Facebook:  www.facebook.com/deinemutteralter

Weblinks ZWEILASTER

Bandcamp: zweilaster.bandcamp.com
Instagram: www.instagram.com/zweilaster

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