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NO WAVES – Berlin, Kirche von Unten (03.12.2021)

NO WAVES - Berlin, Kirche von Unten (03.12.2021)

No Waves, © Sandra Spindler

In die Gegenwart einbrechen

Plötzlich erreichen mich kurze Messages in versetzten Zeitabständen wie “Was geht? Bist Du morgen in B.?”  oder “Ich habe aus diversen Gründen, die ich Dir dann noch erkläre, sogar eine Übernachtungsmöglichkeit für heute.” Magie aus dem Nichts, in Zeiten von Kulturlockdown und Herbstdunkelheit. Alltagsflucht auf Zeit – herrlich!

Gesagt getan, ein träger Freitag wird doch noch schön: Spontan angekündigte Soli-Livemusik der Gruppen No Waves und Bloody Grave (gereimt!) in der Berliner Kirche von Unten (KvU).

Schallrausch

2-G-Plus, das heißt, wir stapfen mit strahlenden Augen und C-Schnelltest in den großen Taschen der eleganten Wintermäntel durch den dezenten Schneefall. Im Anschluss an die aufgereihten Laternenleuchten, am Rande wenig befahrener Asphaltteppiche, entdecken wir Flachbauten mit großflächigen Graffitis und mindestens zwei ebenso Desorientierte mit suchenden Blicken. Wir folgen bis wir auf zwei Türsteher und einem Pizzalieferanten treffen. Alles klar: Nach Impfzertifikat und Testergebnis kramen und schon zeigen sich die bunten, wortstark bemalten, beklebten, verhangenen Wände im warmen Glühbirnenschein. Die Kirche von Unten (KvU) wird mir als geschichtsträchtiger Ort erklärt und bevor ich darüber nachdenken kann, ob die Auseinandersetzung Allgemeinbildung und oder Arbeitszeit sei, habe ich schon etwas dazu gelernt. Meine Begleitung kennt alle hübschen Menschen, manche mit Vornamen, andere mit Punkpseudonym (wer sich umdreht, hat ihn für immer – so das Ritual, das ich mir erklären lasse). Es riecht nach Chanel und Feierlaune, Haarspray und Zigarettenrauch. Die aufgelegten Classics, das Beste der 70er, 80er und 90er Subkulturen werden lauter, während sich vorne das schöne Publikum um die Bewegungen auf der Bühne scharen:

Bloody Grave verkabelt, baut sich und seine Technik auf. Er erfühlt und erfüllt mit seiner Präsenz als Einzelner die Bühne. Die Diskokugel rotiert unbeeindruckt vom Takt der industriellen, stampfenden bis stumpfen Geräusche, die versuchen DAF und die Pandemie in Einklang zu bringen. Das Feiern funktioniert, es dröhnt und mit der mitschwingenden Aussicht auf Tanzrestriktionen wackelt der volle Raum von den ersten Takten an – und bei der Vorstellung des neuen Musik-Projektes Transhuman Rebirth sowieso!

Flinker Umbau und frischgekühlte, prickelnde Getränke in die Hand gedrückt, bevor REWE-Korb und Cap, düster wabernder Herbstmusik und Löwenlocken weichen. No Waves veröffentlichten jüngst Odd Secret, das hier zum ersten Mal live performt wird. (Ein wesentlicher Grund dafür, sind sicher die sächsischen Gegebenheiten des (Kultur-)Lockdowns, der – bisher – kein Heimspiel in Dresden erlaubte.) Umso größer die Wertschätzung im Moment: Die vier Charismatischen auf der Bühne zappeln mit Mimik, Gestik, Händen oder Füßen, in hingebungsvoller Konzentration oder leidenschaftlichen Körpereifer im dröhnenden Melodieverlauf – mitreißend ist es sowieso. Manchmal wechselt das Licht im Takt, aber immer funktioniert der tosende Publikumsapplaus im Songanschluss, spontanes Mitklatschen im Rhythmus und die Wertschätzung in den lächelnden Gesichtern. So schön wie hier, kann es nirgendwo anders sein.

Diskursdisco

Schnaps gibt es nicht, Berliner Luft atmen wir vor der Tür während ich den Erzählungen lausche. Fast wie meiner Forschungstätigkeit will ich Alles wissen. Die Kirche von Unten (KvU) ist ein Ort von historischer Relevanz:

Damals mehr als heute Zufluchtsort von Systemkritiker:innen. Im Zuge des Kirchentags von Unten, 1987, als Gegenveranstaltung zum offiziellen Kirchentag mit großem Publikumsverkehr (ca. 6000 Personen) können in verschiedenen Formaten Atomkraft, Strafrecht der DDR oder oppositionelle Bewegungen verhandelt werden. Dank großer Resonanz gründet sich in Folge dessen die Kirche von unten (KvU) als oppositionelle Gruppierung. Mit dem Neonazi-Überfall während des organisierten Konzertes in der Zionskirche im Oktober 1987 (übrigens der Gruppe Element of Crime) läuft die Öffentlichkeitsarbeit, der Anstoß gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Problematisierung rechter Gruppierungen in der DDR, an. Heute ist es übrigens immer noch Veranstaltungsort und Sozialprojekt.

Da wir voller Lust und Mut und Hoffnung sind und im Jetzt/Heute leben wollen, lassen wir uns nicht mehr um die Gegenwart bescheißen mit Argumenten aus der Vergangenheit oder Ängsten vor der Zukunft.

Quelle:

„Kirche von Unten“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Oktober 2017, URL: www.jugendopposition.de/145405 (zuletzt überprüft am 06.12.2021)

Weblinks No Waves:

Homepage: http://nowaves.blogsport.de/
Bandcamp: https://nowaves.bandcamp.com
Instagram: https://www.instagram.com/nowaves_band/

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