Zehn Jahre musste die Anhängerschaft von Evanescence auf ein neues Studioalbum warten, dazwischen lag das erfolgreiche Orchester-Experiment Synthesis. Nun erscheint The Bitter Truth mit zwölf Stücken zwischen kraftvollem Rock, emotionalen Balladen und dem bandtypischen Pathos. Vorab standen Sängerin Amy Lee und Gitarristin Jen Majura internationalen Journalisten Rede und Antwort. In Teil 1 unseres Interview-Doppelpacks sprach Monkeypress.de mit der gebürtigen Stuttgarterin Majura – die uns Interessantes zum Songwriting, dem komplexen Aufnahmeprozess und einigen Tourgewohnheiten verriet.
Hallo Jen, wie vertreibst du dir so die Zeit seit März 2020?
Jen: Vor einigen Wochen durfte meine Musikschule endlich wieder öffnen, Gott sei Dank. Wenigstens Online-Unterricht geben zu dürfen, war ganz schön, aber beim Musikmachen geht es darum, etwas gemeinsam zu kreieren. Ich habe viel gekocht, Acryl-Malerei für mich entdeckt und gestrickt. Und drei neue Kanäle auf YouTube gestartet …
In dem einen probierst du dich an fremden Musikrichtungen. Besonders die Dubstep-Folge war sehr unterhaltsam. Hätte es diese Reihe ohne Corona gegeben?
Definitiv nein. „Style Of The Week“ ist doch schwieriger, als ich dachte. Es ist hart, aber auch cool. Ich lerne gerne und will immer besser werden. Du kannst von jedem Musikgenre was lernen. Das dann zu reproduzieren, ist hart – macht aber Spaß. Die Liste ist noch lang und die Fans schlagen auch oft sehr interessante Sachen vor … (lacht)
Blicken wir mal auf den Weg hin zu The Bitter Truth. Es war sicherlich kompliziert …
Wir hatten mit Evanescence die erste Aufnahmesession für The Bitter Truth im Februar, machten vier Songs fertig. Sagten noch zueinander, „Joa, wir sehen uns dann nächsten Monat“. Ich hätte nie damit gerechnet, dass ich den Rest des Jahres nicht mehr in die Staaten komme. Normal bin ich jeden Monat da.
Was dann auch die weitere Albumproduktion gewaltig veränderte …
Ja. Ich bekam die Song-Files zugeschickt, gab meinen Senf dazu und schickte das wieder zurück. Aber ich bin Oldschool. Ich sitze lieber mit meiner Band in einem Raum, tausche mich aus und brauche auch den Input anderer. Mir hat das gefehlt, dass da eben nicht eine Amy da war, die sagte “Oh, mach das doch nochmal lieber so‘ oder ‘Das ist total cool”.
Wie läuft der Songwriting-Prozess bei Euch eigentlich ab? Viele denken vielleicht, dass Amy quasi der Boss ist und Euch sagt, was Ihr spielen sollt …
Überhaupt nicht, wir schreiben gemeinsam. Ich liebe es an Evanescence, dass wir eben eine Band sind. Natürlich ist Amy die Chefin und weiß genau, was sie will. Aber sie ist keine Diktatorin, die alles vorgibt oder sagt ‘Hier sind zwölf Songs. Spielt!“. Alle fünf Mitglieder bringen ihre Ideen ein, manchmal geht es mit einem Drum-Groove los, ein anderes Mal mit einem Gitarrenriff und dann wird diskutiert. Beim Song Better Without You war es zum Beispiel so, dass Amy mir das File schickte und ich noch genau einen Tag hatte, meinen Part hinzuzufügen. Ich dachte aber beim Hören die ganze Zeit, dass sich der Song genau so richtig anfühlte und schrieb Amy eine SMS mit der Frage, was ich nun machen soll. Sie antwortete: „Sing!“
Das hört man im Endergebnis auch.
Und da bin sehr, sehr, sehr stolz drauf. Das ist das erste Mal, dass auf einem Evanescence-Album eine andere weibliche Stimme erklingt als die von Amy. Wir haben ja auf der Synthesis-Tour viele Parts gemeinsam gesungen – ich denke, eine gute Backgroundsängerin macht aus, dass ihre Stimme den Leadgesang pusht und nicht überlagert – und gemerkt, dass unsere Stimmen exzellent miteinander funktionieren.
Warum hat es eigentlich zehn Jahre vom einen zum nächsten Studioalbum gedauert?
Noch bevor ich 2015 in die Band kam, ist Amy Mama geworden. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, sie musste mal eine Zeit lang mehr einfach nur Amy und weniger die Frontfrau von Evanescence sein. Des Weiteren ist sie eine Musikerin, die nicht einfach ein Produkt veröffentlicht, nur um etwas zu veröffentlichen. Du musst die richtigen Inspirationen haben, im richtigen Lebensabschnitt sein und fühlen, dass du kreativ sein willst. Gerade nach Synthesis gab es aber noch einen Push, dass wir mehr rocken wollen. Jetzt ist es die richtige Zeit, ein Album herauszubringen, das die Menschen inspiriert. Der Planet muss heilen. Und das kann nur passieren, wenn man Selbstreflexion betreibt. Deswegen der Titel The Bitter Truth. Wir leben jetzt in einer so online-lastigen Welt mit ihren ganzen Instagram-Filtern, und alle sind so happy und alle sind produktiv … es ist Zeit, dass Menschen wieder Menschen werden. Blaue Flecken, Narben, mal eine Schwächephase, das gehört alles zu dir dazu. Es geht um Ehrlichkeit, realistische Wahrnehmung von sich selbst. Unser Album hat diesen Vibe, es ist inspirierend, kraftvoll und stark.
Was vermisst du in der Pandemie am meisten?
Live spielen. Meine Band sehen. Amy und die Jungs sah ich vorher jeden Monat, jetzt sehe ich seit einem Jahr nur meine Couch. Den Kontakt mit Fans, den Energieaustausch bei Konzerten. Das kann dir auch kein Online-Konzert geben.
Gespielt habt Ihr Anfang Dezember 2020 trotzdem eins. Wie war es?
Interessant. Ich saß im Studio bei einem Freund in Troisdorf und wenn du dann die Kopfhörer aufsetzt und die Augen zumachst, hast du wirklich für ein paar Momente das Gefühl, mit der Band in einem Raum zu sein. Dann machst du die Augen auf und stehst alleine in einem riesigen Raum. The Bitter Truth, haha. Aber es war eine gute Ablenkung zum restlichen Leben. Wir verlieren die Kontrolle über das restliche Leben und alle erleben das Gleiche.
Normalerweise reden Musiker ja immer über ihren „After-Tour-Blues“ …
Wenn du zwei Monate unterwegs bist, überall Lautstärke und Leute hast, keine Privatsphäre. Dann kommst du nach Hause, sitzt auf der Couch und hast nichts als Stille. Es ist schwierig, das mental zu verpacken. Ich brauche nach einer großen Tour drei Tage Ruhe nur für mich und esse fürchterlich ungesundes Zeug. Das ist meine sogenannten „Dekompressionszeit“. Aber diese Pandemie ist definitiv viel zu viel Dekompression.
Kriegt Ihr nicht auf Tour ohnehin schon viel ungesundes Essen?
Nein, wir achten auf frisches Gemüse, Suppen. Junkfood gibt’s ganz, ganz selten. Ein einziges Mal, seitdem ich dabei bin, gingen wir früh morgens zu McDonald’s, schön alle in unseren Pyjamas.
Erkannt worden?
Zum Glück nicht (lacht).
Eigentlich würdet Ihr im Herbst mit Within Temptation eine große Tour spielen. Mit welchen Gefühlen schaust du da gerade drauf und gibt es vielleicht sogar gemeinsame Performances einzelner Songs, wenn die Tour stattfinden kann?
Hoffnung. Wir haben es ja nicht in der Hand, keine Kontrolle darüber. Es wird Zeit, endlich wieder den Austausch mit den Fans zu bekommen. Was Kollaborationen angeht: Ich würde es nicht ausschließen, aber diese Entscheidung obliegt Amy.
Teil 2 unseres Evanescence-Interview-Doppelpack (mit Amy Lee) gibt es hier.
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